Fabrik ohne Welt - China am Scheideweg
Die Finanzkrise erreicht das Land der Mitte
Lange galt das aufstrebende Reich der Mitte in Zeiten der Finanzkrise als Fels in der Brandung. Chinas Finanzinstitute haben nur geringfügige Überschneidungen mit den kriselnden Finanzinnovationen des Westens, und dank hoher Außenhandelsüberschüsse sind die Reserven der Volksrepublik so groß, dass sie sich gut gegen Turbulenzen an den Finanzmärkten absichern kann. Doch die Auswirkungen der Finanzkrise greifen nun auch auf China über und der rasante Absturz der volkswirtschaftlichen Kennzahlen im November überrascht sogar Experten. Für das nächste Jahr prognostiziert die Weltbank für China nur noch ein Wirtschaftswachstum von 7,5% - verglichen mit den OECD-Staaten ist dies zwar sehr viel, aber die chinesische Staatsführung weiß, dass das Land mindestens 8% Wachstum benötigt, um jährlich 20 Millionen Schulabgänger und Universitätsabsolventen in Lohn und Brot zu bringen. Angesichts rückläufiger Exportzahlen stemmt sich China nun durch ein massives Konjunkturprogramm gegen die Krise, um der Binnennachfrage auf die Beine zu helfen. Schafft China die Quadratur des Kreises nicht, könnten der kommunistischen Führung unruhige Zeiten drohen.
Ein Land, zwei Systeme
Hinter der Stadtgrenze der Sonderverwaltungszone Hong Kong beginnt die chinesische Provinz Guangdong. Hier startete die Volksrepublik vor 30 Jahren das Experiment, die kommunistische Planwirtschaft durch Marktmechanismen zu ergänzen. Mit den Investitionen der Auslandschinesen aus Hong Kong und Taiwan entstanden in Guangdong tausende Fabriken im „Low-Tech Sektor“, deren Erfolgsrezept vor allem niedrige Löhne waren. In den letzten drei Jahrzehnten entwickelte sich die Provinz Guangdong mit Wachstumsraten von zuletzt 20% zum Wachstumsmotor des Landes und zur „Weltfabrik“, die für 29% des chinesischen Außenhandels verantwortlich zeichnet. Keine andere Provinz Chinas hat sich derart auf den Export spezialisiert, keine andere Provinz Chinas ist von den Auswirkungen des durch die Finanzkrise bedingten weltweiten Nachfragerückgangs stärker betroffen. In Guangdong mussten bereits im ersten Halbjahr dieses Jahres nach Angaben der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua 67.000 Fabriken die Werkstore schließen – darunter alleine 3.632 Spielzeugfabriken.
Besonders betroffen von den Schließungen sind Betriebe aus Hongkong, die jenseits der Grenze produzieren lassen. Nach einer Analyse des Hongkonger Industrieverbands in Guangdong droht jeder vierten Fabrik bis zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar die Pleite. Dadurch könnten 2,5 Millionen Arbeiter ihren Job verlieren. Betroffen von den Werksschließungen sind vor allem die rund 30 Millionen Wanderarbeiter, die aus den armen Provinzen des Binnenlandes an das Perlflussdelta kamen, um mit den Verdiensten eine Existenz aufzubauen oder die zurückgebliebenen Familien zu unterstützen. Tausende Wanderarbeiter werden dieses Jahr vom traditionellen Heimaturlaub zum Neujahrsfest nicht zurückkommen. Der Absatzeinbruch im Exportsektor ist allerdings nur ein Beschleuniger für den stattfindenden Strukturwandel, den die Provinz Guangdong durchmacht. Die Fertigung von Billigartikeln, bei der die menschliche Arbeitskraft der wichtigste Kostenfaktor ist, wandert bereits seit Jahren ins asiatische Ausland ab, wo die Lohnkosten noch geringer sind als im vergleichsweise reichen Guangdong. Mit Vietnam, den Philippinen und Bangladesch kann und will China nicht konkurrieren. Daher haben die Zentral- und die Provinzregierung ein Programm gestartet, um neue Hightech-Firmen anzuziehen. Diese Firmen benötigen allerdings vor allem Universitätsabsolventen und kaum ungelernte Wanderarbeiter.
Schlechte Nachrichten
Im November nahm die Zahl der Exporte und Importe im Vergleich zum Vorjahresmonat ab. Die Exporte gingen um 2,2% zurück – im Oktober lagen sie noch 19,2% über dem Vorjahresmonat. Noch dramatischer zeichnet sich der Rückgang bei den Importen ab – sie nahmen im Vergleich zum Vorjahresmonat um 17,9% ab, während sie im Oktober noch 15,6% über dem Niveau von 2007 lagen. Dieser rasante Absturz verblüfft selbst Experten, deren korrigierte Erwartungen 15% Exportwachstum und 12% Importwachstum vorhersagten. Diese Entwicklung war allerdings abzusehen, wenn man den Seehandel zwischen Asien und Europa betrachtet. Im Oktober ging das Volumen des Seehandels von Asien nach Europa um 61 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurück. Der Preis für einen Standardcontainer auf der Asien-Europa-Route lag im Oktober bei 350 US$ - ein Drittel des Vorjahreswertes und ein Zehntel des Spitzenwertes.
Neben dem Einbruch der Außenhandelszahlen bereiten der Kommunistischen Führung in Peking auch andere Indikatoren Kopfschmerzen. Die Preise für Immobilien in den Großstädten sind bereits um ein Viertel gefallen, die Zahl der Automobilverkäufe ging im Vergleich zum Vorjahr um 10% zurück und die Börsen haben in diesem Jahr mehr als 60 Prozent nachgegeben – all dies setzte bereits ein, bevor sich die Finanzkrise zur Weltwirtschaftskrise entwickelte. Es scheint, als habe der weltweite Nachfragerückgang China genau zum falschen Zeitpunkt getroffen. Der Ökonom Zhou Tianyong, der am Pekinger Think-Tank CPC forscht, schätzt die reale Arbeitslosenquote des Landes auf 12% und erwartet eine Steigerung auf 14% im nächsten Jahr – dies ist dreimal so hoch wie die offiziellen Zahlen.
Fabrik ohne Welt
Im letzten Jahr exportierte China Waren im Wert von 1,3 Billionen US$. Niedrige Lohnkosten und eine künstlich niedrig gehaltene Währung sorgen dafür, dass chinesische Produzenten weltweit konkurrenzfähig sind. Ökonomen schätzen, dass der chinesische Yuan rund 30% unterbewertet ist – dies stellt einen gewaltigen Wettbewerbsvorteil bei arbeitsintensiven Produktionsverfahren dar. Der Export trägt mittlerweile zu gut 40% des chinesischen Bruttoinlandsproduktes bei. Ein Einbruch der Exportzahlen hat somit signifikante Auswirkungen auf die Volkswirtschaft.
China benötigt eine konstante Wachstumsrate von 8%, um jährlich 20 Mio. Neuzugänge auf dem Arbeitsmarkt zu verkraften – ein Abbau der Arbeitslosigkeit ist erst bei höheren Wachstumsraten möglich. Der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini setzt die Schwelle für Chinas Sollwachstum sogar auf 9% bis 10% und prognostiziert eine "harte Landung" für die chinesische Volkswirtschaft. Eine konstante Wachstumsrate von über 8% kann auch in ruhigen Zeiten nicht allein über Exporte erzielt werden, da der Weltmarkt mittel- bis langfristig korrigierend auf ein derart gigantisches Ungleichgewicht reagiert. Das weiß Chinas Führung nur all zu genau und daher hat man in Peking vor fünf Jahren das Versprechen gegeben, eine Politik der „sozialen Harmonie“ zu verfolgen, die „ein besseres Leben für alle“ schaffen soll.
Eine Stärkung der Binnenwirtschaft steht daher ganz oben auf der chinesischen Agenda. Das für 2009 erwartete Wachstum wird nach Berechnungen der Weltbank zu mehr als der Hälfte von öffentlichen Ausgaben getragen. China hat immer noch eine vergleichsweise geringe Binnennachfrage. Sehr vielen Chinesen fehlt schlichtweg das Einkommen für breiten Konsum – vor allem in den inneren Provinzen. Die neue Mittelklasse zeichnet sich derweil durch eine sehr hohe Sparquote aus. Das Fehlen staatlicher Sozialprogramme und einer staatlichen Medizinvorsorge sind, neben traditionellen Gründen, die Hauptantriebsfeder, das verdiente Geld lieber ins Sparschwein zu stecken. Die Konsumquote ist in diesem Jahr auf 35% des BIP gefallen – in den 1980ern betrug sie noch 50% und in den USA beträgt sie stolze 72%.
Eine Stärkung der Binnennachfrage ist für China alternativlos. In Zeiten weltwirtschaftlicher Turbulenzen muss China einen eigenen Weg finden, den rund 90 Mio. Arbeitslosen und 200 Mio. Wanderarbeitern eine Lebensperspektive zu schaffen und jährlich mindestens 20 Mio. neue Arbeitsplätze zu schaffen – dies entspricht à la longue dem Volumen des deutschen Arbeitsmarktes. Dieses Jahr kehren Millionen von Wanderarbeitern mit leeren Händen nach Hause zurück, ohne Geld, ohne Job und ohne soziale Absicherung. Diese Entwicklung birgt soziale Sprengkraft.
Dies ist definitiv das ernsthafteste Problem, das wir seit 1989 haben. Wir haben Millionen von Universitätsabsolventen, die keinen Job bekommen und wir haben die Wanderarbeiter, die ihren Job in den Fabriken verloren haben und kein Land mehr besitzen, zu dem sie zurückkehren könnten.
Zhou Xiaozheng, Soziologieprofessor an der Renmin Universität Peking
Das Volk begehrt auf
Der Aufstieg von einem der ärmsten Länder der Erde zur viertgrößten Wirtschaftsnation binnen dreier Jahrzehnte war ein gigantischer Erfolg – fast 300 Mio. Chinesen konnten von der kommunistischen Staatsführung auf diesem Wege aus der Armut befreit werden. Mit dem Erfolg stiegen allerdings auch die Erwartungen der Bevölkerung an ihre Regierung. Der inoffizielle Pakt zwischen Volk und Partei lautet – so lange ihr uns reich macht, dulden wir Einschränkungen bei Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit.
Dieser Pakt beginnt bereits zu bröckeln. Zehntausende Proteste, die sich vornehmlich in den ländlichen Regionen gegen Korruption, Enteignungen oder Umweltverschmutzung richteten, gab es bereits in der Vergangenheit. Entgegen der landläufigen Meinung ist China ein sehr protestfreudiges Land und die Kommunistische Partei hält sich bei der Unterdrückung der Demonstrationen meist zurück. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise haben die Proteste nun allerdings auch mitten in die Boomregionen gebracht. Täglich kommt es dort zu Ausschreitungen, da Arbeiter ohne Abfindungen auf die Straße gesetzt werden oder sich ihrer Lebensperspektive beraubt sehen.
Die Situation am Arbeitsmarkt ist kritisch, und die Wirkungen der Krise sind erst dabei, sich zu entfalten.
Chinas Sozialminister Yin Weimin
Chinas New Deal
Peking stemmt sich mit aller Macht gegen diese Entwicklung. Die Regierung hat am 14. November ein Konjunkturpaket von umgerechnet 470 Mrd. Euro über zwei Jahre angekündigt – wobei immer noch unklar ist, wie viel dieser Summe nicht bereits im vorgesehenen Fünf-Jahres-Plan verbucht war. Gleichzeitig senkte die chinesische Zentralbank PBoC die Leitzinsen wiederholt und lockerte die Reservebestimmungen für chinesische Banken. Das chinesische Konjunkturpaket wird weltweit von Ökonomen gelobt; es käme genau zum richtigen Zeitpunkt, umfasse geeignete Mittel, der Krise Herr zu werden und habe ein ausreichendes Volumen.
Oberstes Ziel der Pekinger Regierung ist es, im Riesenreich für annähernd gleiche Lebensverhältnisse zu sorgen. Dies zu erreichen ist eine Herkules-Aufgabe. China hat im letzten Jahr 1,5 Mrd. Euro in das staatliche Programm zur Reduzierung der Armut investiert – dies ist zwar 13mal so viel wie 1980, aber viel zu wenig, um effektiv zu sein. Experten schätzen, dass das einhundertfache dieses Betrages nötig sein wird, um die armen Provinzen im Inneren des Landes auf eine ausreichende wirtschaftliche Basis zu bringen. Das Geld hierfür wäre vorhanden – Chinas Währungsreserven haben dieses Jahr die 2 Billionen US$ Grenze überschritten und durch den Einbruch der Importe im November konnte die chinesische Volkswirtschaft einen neuen Rekordüberschuss auf Monatsbasis erzielen – 40 Mrd. US$ strömten netto ins Land.
Wenn China die Zukunft meistern will, muss es den Wandel vom Exporteur billiger Konsumgüter zu einem Produzenten hochwertiger Güter vollziehen und sich vom Weltmarkt unabhängig machen, indem es die Binnennachfrage stärkt. Bis dahin ist es ein langer Weg, aber die Regierung hat die richtigen Schritte eingeleitet. Aber wie sagte schon der legendäre chinesische Philosoph Laotse: Auch der längste Marsch beginnt mit dem ersten Schritt.