Faktencheck: Textil-Boykott
Helfen Boykotts von Marken oder Handelsketten und das Umschwenken auf Fair-Trade-Produkte, die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie zu verbessern?
Nach dem Brand einer Textilfabrik in Bangladesch Ende vergangenen Jahres haben viele Medien über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in dem südasiatischen Land berichtet. Damit steht eine lange vernachlässigte Frage wieder auf der Tagesordnung: Sind wir im Westen moralisch mitverantwortlich für die Misere von Arbeitern in Entwicklungs- und Schwellenländern?
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Besser Boykottieren?
Mehr als hundert Näherinnen sind Ende November vergangenen Jahres bei dem Brand einer Textilfabrik nördlich von Dhaka in Bangladesch gestorben. Das Unglück hat die Aufmerksamkeit vieler Medien nicht nur auf die fehlenden Sicherheitsbestimmungen in den Fabriken gelenkt, sondern auch auf in anderer Hinsicht menschenunwürdige Arbeitsbedingungen.
In Bangladesch werden die niedrigsten Löhne weltweit gezahlt – und die Branche gedeiht prächtig. Von den niedrigen Löhnen profitieren Ketten wie C&A, die in der Unglücks-Fabrik produzieren ließ – und Verbraucher, die sich für 4,99 ein T-Shirt kaufen können. Sind wir im Westen moralisch mit verantwortlich für die Misere der bengalischen Textilarbeiter?
Wie zuletzt, so sind auch in der Vergangenheit immer wieder Stimmen laut geworden, die zum Boykott der unter Billiglohn-Bedingungen produzierten Produkte aufrufen – sei es von Kleidung, Möbeln, oder von Handys und Tablet-Computern. Die Devise lautet: Wie kann ich als Verbraucher verhindern, dass Teile aus Fabriken, in denen unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wird, in meinem Kleiderschrank landen?
Bekannt ist zwar, dass Boykotte in großem Stil kontraproduktiv sein können. Ein Beispiel: Der US-Kongress drohte in den 90er Jahren damit, eine Handelsschranke gegen Kleidung zu verhängen, die von unter 14-jährigen Kindern in Bangladesch hergestellt wurde. Die Folge: 50.000 dieser Kinder mussten ihre Jobs in der Textilindustrie aufgeben und stattdessen Müll sammeln, in Steinbrüchen arbeiten oder sogar in die Prostitution gehen (Green 1999).
Dennoch stellt sich die Frage, ob Unternehmen und Konsumenten nicht Einfluss darauf nehmen können und sollten, dass sich die Produktionsbedingungen in Bangladesch und anderswo verbessern. Viele Ökonomen sind jedoch, auch was dies betrifft, skeptisch. Ihr Argument: Bessere Löhne und höhere Arbeitsschutzanforderungen würden dazu führen, dass insgesamt weniger Menschen in der Textilindustrie beschäftigt werden können (Powell und Zwolinski, 2011).
Als Beleg für dieses Argument verweisen sie auf ökonomische Modelle und auf Fallbeispiele. So führte die Regierung Indonesiens in den 90er Jahren, unter Druck durch Saubere-Kleidung-Kampagnen und durch die Androhung der US-Regierung Privilegien bei der Importsteuer zu beschneiden, einen Mindestlohn ein. Als Reaktion darauf verdoppelten sich die realen Mindestlöhne. Eine weitere Folge jedoch war, dass die Beschäftigungsrate um 12 bis 36 Prozent einbrach und viele kleinere Fabriken schließen mussten (Harrison und Scorse, 2010). Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, sich zum Beispiel für einen internationalen Mindestlohn einzusetzen?
Siegel und Zertifikate
Eine weitere Frage ist, welche Rolle Zertifikate (wie etwa das Produktsiegel FairTrade oder der Hersteller-Verbund Fair Wear dabei spielen könnten, die Arbeitsbedingungen der asiatischen Textilarbeiter zu verbessern. Nur weil solcherart Zertifikate existieren und es somit eine echte Alternative zu dem Angebot der Textildiscounter gibt, können Verbraucher schließlich anstreben, Produkte von bestimmten Ketten oder Marken zu meiden.
Aber: Ist dem Versprechen der Zertifikate zu trauen? Wie gut können Produktionsbedingungen wirklich kontrolliert werden? Weiter noch: Durch ethischen Konsum und Maßnahmen der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen (CSR) mag es möglich sein, Nischen zu schaffen, in denen bessere Arbeitsbedingungen herrschen. Aber setzen solcherart Nischen auch einen Impuls dafür, dass sich insgesamt die Dinge zum Besseren wenden?
Auch hieran hegen Wirtschaftsforscher Zweifel. Ihrer Ansicht nach bleibt es bei Nischen – im besten Fall. Denn wenn bessere Arbeitsstandards allgemein Verbreitung finden würden, hätte dies nur negative Auswirkungen für die Textilarbeiter, weil die Beschäftigtenzahlen notwendiger Weise sinken würden (Vogel 2005).
In welcher Verantwortung stehen angesichts all dieser ungeklärten Fragen wir als Verbraucher: Leben wir als Konsumenten, die von dem günstigen Angebot profitieren, auf Kosten der Niedriglohn-Arbeiter in Asien und anderswo? Sollten wir eigentlich besser nur noch fair erzeugte Kleidung kaufen? Oder tun wir den Textilarbeitern schon damit einen Gefallen, wenn wir T-Shirts für 4,99 kaufen – weil wir damit die Beschäftigung sichern und diese, langfristig, zu wirtschaftlichen Wachstum und besserer Entlohnung in den Produktionsländern beiträgt?
Diskutieren und recherchieren Sie mit: Welche der eingebrachten Argumente finden Sie besonders überzeugend? Wo gibt es Lücken in der Auflistung von Für und Wider? Kommentare im Forum werden fortlaufend in die Mindmap (siehe oben) übertragen.
Als Experten beteiligen sich an der Debatte im Forum und auf der Mindmap:
Dr. Gisela Burckhardt, Vorstandsvorsitzende von FemNet e.V.. FemNet ist Mitglied im Trägerkreis der Kampagne für Saubere Kleidung (Clean Clothes Campaign). Das Ziel der Kampagne ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der weltweiten Bekleidungs- und Sportartikelindustrie. Hierzu werden Endverbraucher informiert, wird mit Unternehmen verhandelt, werden Organisationen der ArbeiterInnen unterstützt und öffentliche Kampagnen durchgeführt.
Dr. Ulrich Thielemann. Privatdozent an der Universität St. Gallen, Stellvertretender Beiratsvorsitzender des Ökosozialen Forums Deutschland und Direktor der Denkfabrik für Wirtschaftsethik Me'M. Das Me'M bearbeitet ökonomische Fragen unserer Zeit aus einer paradigmatisch neuartigen, ethisch-integrierten Sicht auf das Wirtschaften. Es möchte praktische Orientierungen bieten und Perspektiven eröffnen für eine Menschliche Marktwirtschaft.
Prof. Dr. Matthias Lücke. Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich "Armutsminderung und Entwicklung" am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Er meint:
Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass absolute Armut vor allem dort zurückgegangen ist, wo es Wirtschaftswachstum gab – typischerweise verbunden mit wachsenden Industriegüterexporten. Gerade neue, im internationalen Geschäft unerfahrene Firmen können sich zunächst nur durch günstige Preise den Zugang zum Exportmarkt verschaffen. Vor diesem Hintergrund wären sehr hohe soziale und ökologische Standards für die gesamte Bekleidungs-Wertschöpfungskette entweder nicht durchzusetzen oder kontraproduktiv.
Als Rechercheur begleitet die Debatte der Wirtschaftsjournalist Hubert Beyerle.
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Das Projekt Faktencheck wird gefördert durch die Robert Bosch Stiftung. Kostenfreie Wiederveröffentlichung diese Textes ist auf Anfrage möglich: faktencheck@debattenprofis.de.