Fall Amri und die Rechtsstaatlichkeit
Ein Amtsrichter und ein Staatsanwalt sollten seit einem Jahr nicht mehr ruhig schlafen dürfen
Ohne das Zutun eines Amtsrichters und eines Staatsanwalts aus Ravensburg am Bodensee würden die zwölf Besucher des Weihnachtsmarktes vom Breitscheidplatz in Berlin mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch leben.
Die bisher bekannte Geschichte ist schnell erzählt. Sie geht aus einer Antwort vom 15. Februar 2017 eines Dr. Günter Krings, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren auf eine entsprechende Frage des Abgeordneten Ströbele hervor:
Frage 23 Hans-Christian Ströbele:
Welche Angaben macht die Bundesregierung zum konkreten Inhalt und zu den Erklärungen zu zwei verfälschten ITAID-Karten (ITA: Italien), die Anis Amri am 30. Juli 2016 bei seiner Festnahme durch Beamte der Bundespolizei in Friedrichshafen im Flixbus bei sich führte (Chronologie des Behördenhandelns vom 17. Januar 2017, Seite 16), und welche Erkenntnisse haben deutsche Behörden im Anschluss an das Auffinden insbesondere zu Herkunft, Zustandekommen, Ort, Zeit und Täter der Verfälschung sowie über die Nutzung dieser ITA-Karten gewonnen (bitte die Erkenntnisquellen aufschlüsseln)?
Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:
"Am 30. Juli 2016 um 0.11 Uhr wies sich Amri bei einer Kontrolle durch Beamte der Bundespolizei im Rahmen einer Identitätsfeststellung mit einer italienischen ID-Karte aus. Das war in diesem Fernbus. Bei der fahndungsmäßigen Überprüfung der Ausweisnummer wurde durch eine Treffermeldung in der INPOL-Sachfahndung festgestellt, dass bereits am 13. Mai 2013 eine italienische ID-Karte mit identischer Ausweisnummer, jedoch anderen Personaldaten als Totalfälschung festgestellt wurde. Im Weiteren wurde bei der Durchsuchung des Amri eine weitere italienische ID-Karte gefunden. Beide Karten wiesen identische Ausweisnummern und identische Personaldaten aus. Ausgestellt waren sie auf Anis Amri, geboren am 22. Dezember 1995 in Rom.
Aufgrund des Antreffens des Amri am 30. Juli 2016 in Friedrichshafen wurden durch die Bundespolizeiinspektion Konstanz am 30. Juli 2016 mehrere Ermittlungsverfahren eingeleitet. Konkrete Vorwürfe waren: Urkundenfälschung, § 267 Absatz 1 StGB, Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen, § 276 Absatz 1 StGB, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 BtMG, Verdacht des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass bzw. Passersatz, § 95 Absatz 1 Nummer 1 Aufenthaltsgesetz, Verdacht des unerlaubten Aufenthaltes ohne Aufenthaltstitel, § 95 Absatz 1 Nummer 2 Aufenthaltsgesetz.
Nach Abschluss der strafprozessualen Sofortmaßnahmen und Sachdarstellung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft wurde der Gesamtvorgang zuständigkeitshalber dem Landespolizeirevier Friedrichshafen übergeben. Zudem wurden durch die Bundespolizei Erkenntnismitteilungen an das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Berlin gesteuert. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde über die Festnahme des Amri unterrichtet.
Weitere Ermittlungen zur Herkunft der bei Amri aufgefundenen totalgefälschten ID-Karten erfolgten durch die Bundespolizei nicht. Dem Bundeskriminalamt, dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst liegen darüber hinaus keine Erkenntnisse im Sinne der Fragestellung vor.
Aus dem Aufgriff des Amri erwuchs ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Ravensburg, über dessen Inhalt grundsätzlich die Landesbehörden Auskunft erteilen müssen. Das Verfahren wurde am 7. September 2016 von der entsprechenden Landesbehörde dort gemäß § 154f StPO eingestellt."
Man muss diese Darstellung mehrmals lesen, doch die Absurdität des Ablaufs der Ereignisse löst sich nicht auf: Ein Mann mit zwei gefälschten Pässen und Drogen im Gepäck wird wieder auf freien Fuß gesetzt (Amtsrichter) - und mehr noch: Die Verfahren gegen ihn werden sogar eingestellt (Staatsanwalt).
Das Behördenhandeln wirft zwei grundsätzliche Fragen auf:
- Warum hat der Ravensburger Amtsrichter Abschiebehaft statt Untersuchungshaft angeordnet? Die Voraussetzungen für eine Untersuchungshaft bis zu 6 Monaten waren gegeben: Flucht- und Verdunkelungsgefahr bei Anschuldigungen, die Amri bis zu 5 Jahren Knast eingebracht hätten. Warum setzt der Ravensburger Amtsrichter eine zeitliche Abschiebe-Haftgrenze von zwei Tagen? Warum wurde keine Sicherungshaft bis zu 6 Monaten erlassen? Bei Untersuchungs- oder Sicherungshaft wäre Amri zur Adventszeit hinter Gittern gesessen.
- Warum hat die Staatsanwaltschaft Ravensburg die Verfahren gegen Amri nach § 154f StPO eingestellt?
Auch dieser Aspekt wurde in der Fragestunde des Bundestages erörtert:
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
"Herr Staatssekretär, das war eine ganz schöne Auflistung von Straftaten, die allein am 30. Juli 2016 in Friedrichshafen durch die Bundespolizei festgestellt worden sind. Sie sagen, diese Verfahren wurden nach § 154f StPO, das heißt, mit Rücksicht auf andere, schwerere Straftaten bzw. Strafverfahren aufgrund noch schwererer Delikte, eingestellt.
Wie beurteilt die Bundesregierung diese Einstellung wenige Tage nach der Feststellung des Verdachts, dass sich Herr Amri in diesem Maße strafbar gemacht hat? Offenbar war ein guter Geist über ihm, der die Strafverfolgungsbehörden davon abgehalten hat, ihres Amtes in Deutschland zu walten."
Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:
"Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie mit dem 'guten Geist' insinuieren wollen."
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
"Oder böser! Kann auch sein!"
Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:
"Ich kann nur sagen, dass das eine Entscheidung der Landesbehörden war, die wir als Bundesregierung im konkreten Fall nicht zu kommentieren haben. Die Entscheidung ist nicht von einer Bundesbehörde getroffen worden."
Vizepräsidentin Petra Pau:
"Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage."
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
"Herr Staatssekretär, noch einmal zu den beiden Karten: Ich habe gefragt, welche Erkenntnisse die Bundesbehörden über die Herkunft dieser Daten gewonnen haben. Welche Informationen haben Sie oder die Bundesbehörden denn in Italien eingeholt? Welche Erkenntnisse gibt es darüber, wie Herr Amri an diese Karten gekommen ist und wie Herr Amri diese Karten gefälscht hat? Wann und wo hat er das gemacht? Sind hierzu Ermittlungen angestellt worden? Das war immerhin mehrere Monate vor dem Anschlag, und vielleicht gab es dort Erkenntnisse, die den Fall Amri in einem ganz anderen Licht hätten erscheinen lassen.
Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern:
"Auch hier muss ich Ihnen sagen, dass die Zuständigkeit für die Ermittlungsverfahren und auch für die Beurteilung der Ergebnisse, die dort erzielt worden sind, bei den Landesbehörden liegt. Diese Landesbehörden haben die Aufgabe, diesen Sachverhalt auszuermitteln. - So ist das bei der föderalen Zuständigkeitsverteilung."
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
"Das stimmt nicht!."
Staatssekretär Dr. Krings verweist also auf die Landesbehörden in Baden-Württemberg, die ja schließlich die Verfahren gegen Amri und alle Ermittlungen zur Herkunft der gefälschten Ausweise eingestellt hätten. Und im Landtag von Baden-Württemberg sitzt leider kein Christian Ströbele, sondern nur ein grüner Ministerpräsident Kretschmann, dessen CDU-Innenminister das Desaster von Ravensburg und deshalb die Katastrophe vom Breitscheidplatz mit zu verantworten hat.