Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind

Was ist der Maßstab für Gerechtigkeit? Wie ungerecht sind hohe Unternehmer- und Managereinkommen? Ein Essay über Macht in unserem Wirtschaftssystem.

Die einen genießen hohe Einkommen, bei anderen ist das Einkommen so gering, dass sie mit ihm kaum über die Runden kommen. Die einen leben in Villen, die anderen in Wohnungen, die minimalen Schließfächern gleichen.

Wie weit führt ein Denken, das diese Unterschiede als "ungerecht" kritisiert?

Meritokratie: Ungleichheit muss nicht "ungerecht" sein

Gerechtigkeit zu befürworten, heißt, Willkür abzulehnen. Für Einkommensunterschiede soll es akzeptable Rechtfertigungen geben. Gerechtigkeit gilt allerdings nur den allerwenigsten als ein absoluter Wert. Die meisten setzen die Gerechtigkeit ins Verhältnis zu anderen Anliegen, die ihnen wichtig sind.

Ziemlich obenan steht der Lebensstandard. Hohe Einkommen und Einkommensunterschiede gelten dem vorherrschenden Bewusstsein dann als völlig in Ordnung, wenn sie aus Leistungen resultieren, die für den durchschnittlichen Lebensstandard als förderlich erachtet werden.

Wahrhafte unternehmerisch handelnde Unternehmer und Investoren seien charakterisiert "durch die Fähigkeit, allein und vorauszugehen, Unsicherheit und Widerstand nicht als Gegengründe zu empfinden" (Schumpeter 1926, 128f. siehe Literatur am Ende des Artikels).

Das Unternehmertum gleiche – der dominierenden Auffassung zufolge – dem "Genius des Künstlers" oder dem "strategischen Geschick und der Entschlusskraft des Feldherrn" (Bröckling 2007, 124). Diese Wertschätzung gipfelt im Urteil "Die Mehrheit verdankt ihren Wohlstand dem Einsatz und Ideenreichtum einer immer kleineren Minderheit" (Miegel 1991, 28).

Spitzengehälter für Wirtschaftsführer

Die hohen Einkommen eines Managers und Unternehmers werden mit seiner Verantwortung und seinem Stress gerechtfertigt, als ob nicht auch andere Tätigkeiten mit viel Verantwortung und Stress verbunden seien.

Ein weiteres Argument dafür, Manager mehr zu bezahlen, bindet die Bezahlung nicht an die Belastung, sondern an die Zahl von denjenigen, die von den Entscheidungen, den Qualifikationen und dem Geschick der Spitzenkraft abhängen.

Ethisch umstritten ist die Verknüpfung:

"Wer vielen dient, verdient mehr als die Person, die einem einzelnen Individuum das Leben rettet oder tagtäglich schwierige Situationen in einer Schulklasse meistert."

Das Argument für die hohen Einkommen der Manager spricht zudem aus, dass in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die Wirtschaft am meisten zählt. Der Stress eines Spitzenpolitikers wird sich nicht von der Belastung eines Spitzenmanagers unterscheiden, die Gehälter tun dies bekanntlich deutlich.

Die These vom Titan

Die Rede von einem Spitzenmanager als einem "Wirtschaftslenker" erinnert an den Kapitän, der sein Schiff durch tosende See mit nervenaufreibendem Einsatz und letzten Kräften in den sicheren Hafen bringt. Dieses Bild passt nicht so recht zu den Bedingungen heutiger Technik und des team-works der Schiffscrew.

Problematisch ist die Auffassung: Von titanenhaften Personen hängt das Wohl und Wehe des Gemeinwohls ab.

Wer diese These weiterdenkt, fragt sich: Wenn wenige Supermen so entscheidend für die Unternehmen sein sollen, dass sie derart außergewöhnliche Gehälter und Prämien verdienen, wie lässt sich dann eigentlich eine beunruhigende Schlussfolgerung vermeiden?

Sie lautet: Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die zwar mittlerweile nicht mehr für die Politik, wohl aber für die Wirtschaft das Führerprinzip anerkannt. (Gewiss sind dafür gegenwärtig politisch korrekte Ausdrücke im Umlauf.)

Enorme Wertschätzung für die Elite

Einen Übergang vom Liberalismus in den Faschismus sah Herbert Marcuse 1934 darin, dass "der charismatisch-autoritäre Führergedanke schon präformiert ist in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschaftsführers, des 'geborenen' Chefs" (Marcuse 1968, 32). Ihm wird Übermenschliches zugeschrieben.

Wer die Legitimation von Spitzengehältern für Wirtschaftsführer infrage stellen will, wird zunächst der enormen Wertschätzung für die Elite auf den Grund gehen bzw. sie einer Prüfung unterziehen.

Für die Frage, ob ein Einkommensunterschied gerecht ist, muss das zu Vergleichende im Bereich des Vergleichbaren liegen.

Der Maßstab der Gerechtigkeit greift nicht, wenn der normale Arbeitnehmer und der übermenschliche Spitzenmanager als unvergleichbar gelten bzw. angenommen wird, sie spielen in ganz verschiedenen Ligen.

Motivieren nur Gehaltsunterschiede?

Der Wunsch nach Gerechtigkeit koexistiert bei vielen mit der Akzeptanz bzw. Befürwortung der Marktwirtschaft. Wer aber die Konkurrenz akzeptiert, kann nichts dagegen einwenden, dass es in ihr notwendigerweise Gewinner und Verlierer gibt.

Ohne die Konkurrenz – so die zur Marktwirtschaft gehörende Annahme – sinke die Anstrengungsbereitschaft und Leistungsmotivation.

Daran schließt sich das Argument an, ohne hohe Unternehmer- und Managereinkommen drohe der wirtschaftliche Niedergang. Diese Vorstellungen tragen massiv dazu bei, spontanen Gerechtigkeitswünschen einen untergeordneten Platz zuzuweisen.

Unterschätzt werden jedoch intrinsische sowie prosoziale Arbeitsmotivationen (vgl. Creydt 2023).

Die Preisbildung durch Märkte

Was die Einkommen von Spitzenkräften in der kapitalistischen Marktwirtschaft angeht, so laufen Gerechtigkeitsvorstellungen an der Preisbildung in Märkten auf. In der internationalen Konkurrenz um Spitzenmanager gehe es darum, dass wir sie uns nicht von Unternehmen aus anderen Ländern wegschnappen lassen.

Hans-Werner Sinn, von 1999 bis 2016 Chef des Ifo-Instituts, sagte 2007 in der TV-Sendung hart aber fair1:

Der Lohn wird nach Knappheit (Angebot und Nachfrage) berechnet. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? Wir kennen das Prinzip der Gerechtigkeit in den Marktentlohnungen nicht.

Notwendig wird es, eine Prämisse in Zweifel zu ziehen, die von Verteidigern der Marktwirtschaft

"weithin geteilt wird – dass nämlich die Ergebnisse des Marktes den wahren gesellschaftlichen Wert dessen wiedergeben, was die Menschen zum Gemeinwohl beitragen. (...) Nur ein glühender Libertärer (i. S. des US-amerikanischen Anarcholiberalen, Einf. d.A..) würde darauf beharren, dass der Beitrag des reichen Casino-Magnaten zum Gemeinwohl tausendmal mehr wert ist als der eines Kinderarztes".

Erforderlich wird es, "dass wir Maßnahmen diskutieren und durchführen, die uns dazu bringen, gezielt und demokratisch darüber nachzudenken, was als wahrhaft wertvoller Beitrag zum Gemeinwohl gilt und wo die Urteile der Märkte das Ziel verfehlen" (Sandel 2021, 11).