Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind

Seite 4: Was Gerechtigkeitskonzepte nicht aushebeln können

Viele Linke personalisieren und versubjektivieren. Statt von den Zwängen der Kapitalverwertung reden sie dann von einer autonomen Verfügungsgewalt. Das Kapital ist zwar Herr im Betrieb – von allen Widersetzlichkeiten der Arbeitenden hier einmal abgesehen.

Die Kapitalisten können aber weder individuell noch als Klasse die Bedingungen der Kapitalverwertung hinreichend steuern.

Wer sich auf die Enteignung der Kapitalisten fokussiert und fixiert, hat noch keine Antwort auf die Frage: Wie lässt sich die Verselbständigung des (auch deshalb) als "abstrakt" bezeichneten Reichtums gegen alle Akteure im Kapitalismus überwinden?

Viele regressive linke Agitation und Propaganda will von diesen Problemen nichts wissen (vgl. Creydt 2019). Gerechtigkeitskonzepte können den Zwang zur Kapitalakkumulation nicht aushebeln.

Die Unternehmer und die Kapitaleigentümer haben nicht Macht über das Kapital, sondern sind mächtig als Funktionäre eines ökonomischen Systems. Diese Macht währt solange, wie es keine Alternative zum Kapitalismus zu geben scheint.

Die Reichen stehen "von einer anderen Seite ganz ebenso sehr unter der Knechtschaft des Kapitalverhältnisses" wie die Arbeiter (Marx 1969, 18). Auch die Kapitalisten unterliegen dem "stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse" (MEW 23, 765).

Was Macht in der kapitalistischen Rationalität bedeutet

Gewiss vermag es die Kapitalseite leichter, ihre Interessen durchzusetzen, als die Lohnabhängigen. Aus dieser Feststellung folgt aber noch kein hinreichendes Verständnis von Macht in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit.

Macht zu haben, steht per definitionem im Kontrast zum Befolgen von Zwängen. Unternehmen müssen den Zwängen folgen, die sich aus der Kapitalverwertung ergeben. Ein großes Unternehmen will bspw. ein Werk schließen oder realisiert angekündigte Erweiterungsinvestitionen nicht.

Gewerkschafter und Lokalpolitiker tun dann gern so, als ob das Unternehmen hätte auch so entscheiden können, wie es für die Lohnabhängigen oder die betroffene Gemeinde besser gewesen wäre.

Der hier interessiert bemühte Idealismus des freien Willens übergeht aber die kapitalistische Rationalität, in der Gewinnaussichten entscheiden. Die Unternehmensleitung ist dieser Rationalität unterworfen und hat nur in ihrem Rahmen Macht.

Bei der Akkumulation von Kapital handelt es sich um einen selbstbezüglichen und sich notwendig unendlich fortsetzenden Prozess ohne äußeren Zweck. Dieser Prozess weist kein Subjekt auf, für den das Kapital das Mittel wäre.

Systemzwänge

Was aus diesem Prozess an die Kapitaleigentümer für deren private Konsumtion abfällt, stellt einen Nebeneffekt eines anderen Imperativen gehorchenden Prozesses dar. Das Motiv der Teilnahme von Kapitalisten am Prozess der Kapitalverwertung und die Ursachen für den Drang der Kapitale, immer weiter zu akkumulieren, sind zweierlei.

Die Kapitalakkumulation geschieht nicht aus der Ursache, dass Kapitalisten an ihr interessiert sind, gleichwohl sie in ihrem Interesse liegt, sondern bildet eine Bewegungsform für Widersprüche der Mehrwertproduktion: Die Steigerung der Produktivkraft verringert den Anteil von lebendiger Arbeit (an den Gesamtaufwendungen für die Produktion).

Dies führt zum Fall der Profitrate. Dem kann das Kapital nur entgehen durch Zunahme der Profitmasse. Die Nachfrage nach Arbeit müsste absolut zunehmen, weil sie relativ sinkt. "Der innere Widerspruch sucht sich auszugleichen durch Ausdehnung des äußern Feldes der Produktion" (MEW 24, 255).

Trennung zwischen Sache und Person

Im Unterschied zum Feudalismus herrscht in der bürgerlichen Gesellschaft die Trennung zwischen Sache und Person. Das Recht schützt nun die freie Beweglichkeit der Sachen und der Kapitale.

"Freiheit i. S. der 'Unabhängigkeit vom Willen eines anderen' […] (hat die) Funktion, dass der Besitz frei ist, sich dem Wirken des Wertgesetzes anzupassen (verkauft zu werden, so oder so 'angelegt' zu werden)" (Blanke, Jürgens, Kastendiek 1975, 426).

Kapital soll sich von seinem Besitzer trennen können, wenn es von ihm suboptimal verwertet wird. In der bürgerlichen Gesellschaft darf zwar – im Unterschied z. B. zur gegenwärtigen VR China – Kapitaleigentum nicht entschädigungslos enteignet werden, wenn die herrschende Parteiführung es will.

Geht das Unternehmen des Kapitaleigners aber pleite, wird er rechtlich nicht davor geschützt, dass die Produktionsmittel, die er besitzt, in die Hände eines anderen Kapitals übergehen, das mit der Konkursmasse etwas Profitableres anzufangen vermag.

Insofern hat die Gleichgültigkeit des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der konkreten Person auch einen ganz nüchternen Sinn.

Schluss

Fraglich ist, ob die Person, die die großen Einkommens- und Besitzunterschiede ablehnt, sich einen Gefallen tut, wenn sie sich auf die Gerechtigkeit beruft. Warum reicht nicht das Argument "Gravierende materielle Ungleichheiten schaden den sozialen Beziehungen und der Lebensqualität?"

Die Aufmerksamkeit für als ungerecht erscheinende Relationen zwischen Leistungen und Einkommen mag ein Einstieg sein, sich gründlicher mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Häufig verbleibt dieses Nachdenken jedoch im Horizont der mit dem Gerechtigkeitsthema anscheinend nicht nur äußerlich verbundenen Ideologien.