Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind
Seite 2: Die spalterischen Effekte der Gerechtigkeitsorientierung
- Fallen, die mit Forderungen nach Gerechtigkeit verbunden sind
- Die spalterischen Effekte der Gerechtigkeitsorientierung
- Der Stellenwert des privaten Luxus der Reichen
- Was Gerechtigkeitskonzepte nicht aushebeln können
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Faktisch sorgt der Streit um Gerechtigkeit in der Öffentlichkeit häufig dafür, dass sich verschiedene Gruppen der abhängig Beschäftigten auseinanderdividieren. Oft ist der Vorwurf zu hören, Kinderlose seien ungerechterweise materiell besser gestellt als Menschen, die Kinder aufziehen.
Viele beschweren sich über die Ungerechtigkeit, die darin bestehe, dass manche nicht auf ihre Gesundheit achten oder infolge von Risikoverhalten Gesundheitsleistungen beanspruchen.
Andere ereifern sich über die Pendlerpauschale. Der Vorwurf ist weit verbreitet, Gewerkschaften trieben den Preis der Ware Arbeitskraft so in die Höhe, dass sie damit Arbeitslosen den Zugang zur Arbeit versperren. Auch das sei ungerecht.
"Leistungsloses Einkommen"
Als ungerecht gilt die Erzielung leistungslosen Einkommens. Weit verbreitet ist allerdings die Ansicht, es handele sich dabei um keine exklusive Angelegenheit von Kapitaleigentümern, sondern um ein viel umfangreicheres und zudem leider allzu menschliches Phänomen.
Sozialhilfeempfänger würden den Leistungskern der Gesellschaft ausbeuten, Männer Frauen (oder umgekehrt), Inländer Ausländer (oder umgekehrt) usf. "Die Versuchung, andere für sich arbeiten zu lassen, […] wird zur Massengefahr […]: Ausbeutung nicht von oben, sondern von nebenan. Nicht mehr Reiche beuten Arme aus, ist die alles dominierende Verteilungsfrage in der Wohlstandsgesellschaft, sondern möglicherweise: Die Faulen beuten die Fleißigen aus" (Norbert Blüm, zit. n. Bischoff, Detje 1989, 114.).
Die "Gerechtigkeitsrhetorik" zehrt von der "Unschärfe des Gerechtigkeitsbegriffs. […] Er ist moralisch geschmeidig, kann jedem Maximierungsinteresse den Anschein moralischer Berechtigung geben" (Kersting 2003, 107).
Umgekehrt lässt sich auch jede Kürzung und Zumutung als "gerecht" legitimieren. Dafür reicht der Hinweis auf Vergleichsgruppen, die bereits Einbußen haben hinnehmen müssen.
Was die Gerechtigkeit ausblendet
Unter Berufung auf die Gerechtigkeit werden Relationen innerhalb der Konkurrenz kritisiert, nicht aber die Konkurrenz oder die dem Markt eigene Gleichgültigkeit und gegenseitige Instrumentalisierung.
Wer aber die anstrebenswerte Sozialität als das tätige Interesse an der Entwicklung der Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen anderer Menschen versteht, der ist damit über die Orientierung an Gerechtigkeit als Gleichgewicht zwischen partikularen bzw. "egoistischen" Sonderinteressen hinaus.
Nicht die Ursachen von Zumutungen sind in der Rede von Gerechtigkeit Thema, sondern die Unausgewogenheit der Opfer. Im Horizont der Gerechtigkeit werden die in der Gesellschaft existierenden Zumutungen, Opfer und Einkommen zueinander in ein bloß quantitatives Verhältnis gesetzt.
Kein Thema ist der innere Zusammenhang zwischen dem, was getan wird, und dem, was das Arbeiten mit den Arbeitenden macht und was die Arbeitsprodukte mit den Verbrauchern machen.
In Gerechtigkeitskonzepten kommen die der kapitalistischen Marktwirtschaft eigenen Trennungen und Ausblendungen sowie Abstraktionen und Gegensätze nicht vor.
Gerechtigkeit sagt nicht, was man will, sondern nur wie viel man haben möchte. [...] Gerechtigkeit ist seltsam indifferent, was Inhalte betrifft, nimmt dadurch aber keinen Schaden. Im Gegenteil, in dieser Relation des Messens liegt gerade ihre Stärke. [...] Ziel der Gerechtigkeit ist nicht die Alternative zum System, sondern die Korrektur des Quantums.
Nicht die politische Ökonomie ist demnach unser Problem, sondern dass nicht alle ausreichend partizipieren dürfen. [...] Statt endlich zu sagen: '"Wir haben genug!'", sagt eins (eine betreffende Person – Verf.) '"Wir haben nicht genug!'" oder "Wir können gar nicht genug kriegen'". Mehr, mehr von alledem wollen wir, unbedingt. Man bleibt im Reich des Komparativs gefangen. [...] Gerechtigkeit ist der Umweg über die Empörung zur Zustimmung.
Schandl 2020, 19-22
Das Eintreten für die Umverteilung des Reichtums unterscheidet sich von Auseinandersetzungen, in denen es um den Inhalt des Reichtums geht.