Falschmeldung zu Raketeneinschlag in Polen: Guter Geheimdienstglaube?

Leitende Redakteure der weltgrößten Nachrichtenagentur AP setzen sich dem Verdacht der übermäßigen Staatsnähe aus. Falschmeldung hatte fast dritten Weltkrieg ausgelöst. Fehler zog lediglich ein "Bauernopfer" nach sich.

Am 15. November stand die Welt dank einer Falschmeldung der Nachrichtenagentur Associated Press, die als die weltgrößte und global einflussreichste gilt, in mancher Hinsicht kurz vor dem Beginn eines neuen Weltkrieges.

Mit etwas Abstand betrachtet, lassen sich einige wichtige Fragen stellen hinsichtlich der redaktionellen Strukturen und journalistischen Verantwortlichkeiten, die solche gravierenden Fehlinformationen offenbar ermöglichen oder zumindest begünstigen.

Interessant für Mediennutzende hierzulande ist, dass auch an dieser Stelle sowohl gesellschaftlich als auch individuell vor allem ein Plädoyer angebracht scheint für eine möglichst vielseitige Medienlandschaft und Mediennutzung. Denn in diesem Falle hat eine Veröffentlichung der ihrerseits höchst etablierten Washington PostEigentümer ist seit 2013 der Multimilliardär Jeff Bezos – für manche nicht gering zu schätzende Aufklärung gesorgt.

Schauen wir also auch hier gerne über den deutsch-medialen Tellerrand hinaus, um (mehr) Perspektivenwechsel und mediale Vielfalt zu erfahren:

Der angesehene AP-Journalist und Ex-Militär James (Jim) LaPorta war am Montag, knapp eine Woche nach dem dramatischen Nachrichtentag, entlassen worden, im Nachgang eines erheblich fehlerhaften Beitrages über einen vermeintlichen russischen Raketen-Angriff auf polnisches Gebiet, bei dem es an jenem Dienstagabend zwei Tote gegeben hatte.

Diese Entlassung wurde auch in manchen Medien hierzulande gemeldet und auch von Telepolis aufgegriffen.

Allerdings findet sich etwa im für Deutschland zentralen öffentlich-rechtlichen Online-Portal der Tagesschau (also der Redaktion von ARD-aktuell in Hamburg) derzeit keinerlei Hinweis überhaupt auf den Journalisten LaPorta.

Deutsche Medien berichten kaum über den Fall

Über wichtige strukturelle Aspekte dieser Falschmeldung war in vielen deutschsprachigen journalistischen Angeboten ohnehin kaum etwas zu erfahren. In Medien wie eben der Washington Post schon eher.

Laut diesem bemerkenswerten Bericht der Zeitung, der offenbar auf Insider-Informationen wiederum aus AP-Kreisen beruht, wurde der 35-Jährige "nach einer kurzen Untersuchung entlassen". LaPorta habe auch der Post gegenüber eine Stellungnahme weiterhin abgelehnt.

Der ehemalige US-Marine, der in Afghanistan gedient habe, sei im April 2020 zu AP gekommen, nachdem er mehrere Jahre als freiberuflicher Reporter gearbeitet habe. Für AP habe er über militärische Angelegenheiten und sogenannte "Fragen der nationalen Sicherheit" berichtet. Es wird deutlich, dass LaPorta als Ex-Militär offenbar sehr dicht dran war an den entsprechenden staatlichen US-Einrichtungen.

Diese persönliche und biografische Nähe, die nicht selten als professioneller Vorteil gesehen wird, weil man sich ja kennt und so die Redaktion an exklusive "Informationen" kommen kann, scheint hier eines der viel zu wenig debattierten Strukturprobleme, wenn wir uns fragen, was zu solchen eskalierenden Nachrichtenlagen führen mag.

Verantwortliche der Associated Press haben es laut Washington Pos abgelehnt, den Journalisten LaPorta als die genaue Quelle des Fehlalarms zu identifizieren. Dennoch wurde er offenbar als Einziger infolge dieser nicht zuletzt medial ausgelösten Krise offiziell und öffentlich bestraft.

Offenbar ist er daher das Bauernopfer dieser Affäre, um weder auf Leitungsebenen noch auf strukturelle Aspekte bei der AP sowie bei staatlichen US-Stellen (Geheimdienste) schauen zu müssen.

Dass dies hochgradig fragwürdig ist mit Blick auf künftige Entwicklungen, zeigen manche Enthüllungen seitens der "Washington Post":

Interne AP-Kommunikationen, die laut dem Post-Beitrag eingesehen wurden, zeigten "einige Verwirrung und Missverständnisse während der Vorbereitung des fehlerhaften Berichts". Der Journalist LaPorta habe innerhalb der AP-Redaktion den angeblichen Hinweis eines angeblichen hochrangigen US-Geheimdienstmitarbeiters in einer E-Mail gegen 13:30 Uhr US-Ostküstenzeit mitgeteilt.

Rückfragen ignoriert

Ein (anderer) Redakteur habe sofort gefragt, ob AP eine Warn-Meldung auf der Basis dieses "Tipps" (sic!) veröffentlichen solle, "oder brauchen wir eine Bestätigung von einer anderen Quelle und/oder Polen?"

Und jetzt wird es besonders interessant: Nach einer weiteren Diskussion habe eine zweite Redakteurin gesagt, dass sie für die Veröffentlichung einer solchen Meldung stimmen würde. Sie habe hinzugefügt: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein US-Geheimdienstmitarbeiter in dieser Sache falsch liegen würde."

Das lässt in der Tat tief blicken: Gerade Mitarbeitenden von Geheimdiensten zumindest nicht alles zu glauben, sollte für alle Bürgerinnen und Bürger auch in politisch-demokratisch verfassten Gesellschaften selbstverständlich sein.

Für Journalist:innen nach allen Regeln professioneller Standards sowie beruflicher Ethik insbesondere, und für Verantwortliche in Redaktionen sicher erst recht. Und ganz bestimmt in Fragen von Krieg und Frieden.

Hier aber, wenn wir nach Ursachen des AP-Fehlalarms jenseits persönlichen Versagens fragen, scheint eine also sowohl strukturelle als auch kulturelle Nähe zwischen (leitenden) Medien und Staatsapparaten, die eine oder andere Rolle gespielt zu haben.

So wirkt die Erklärung der AP-Sprecherin Lauren Easton leider fast schon folgerichtig. Sie sagte, die Nachrichtenagentur AP erwarte keine Disziplinarmaßnahmen für die beteiligten verantwortlichen Redakteure.

Und nach der Verantwortung des angeblichen US-Geheimdienstmitarbeiters für seinen angeblichen "Tipp" wird in einer solchen Perspektive folgerichtig auch kaum gefragt. Glossierend könnte gesagt werden: LaPorta hat seine Schuld getan, LaPorta kann gehen.

Das ist freilich, strukturell gesehen, keine neue Erkenntnis, was Gesellschaften und Organisationen angeht, die nicht zuletzt von Konkurrenz bestimmt sind: Bei Bertolt Brecht heißt in der Schlussstrophe seiner Moritat von Mackie Messer in der Dreigroschenoper:

Denn die einen sind im Dunkeln

Und die andern sind im Licht.

Und man siehet die im Lichte

Die im Dunkeln sieht man nicht.

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