Fanatismus, Hass und siebenundzwanzig Sekunden Ruhm

 Salman Rushdie auf der 75. Buchmesse Frankfurt

Bild: Markus Wissmann /Shutterstock.com

Extremismus: Das Messer ist das Schreibgerät des Analphabeten. Salman Rushdies Buch – und Erfahrungen aus der Gefängnispsychologie.

Ein Schuss ist eine Aktion aus der Ferne, ein Angriff mit dem Messer, einer Nahkampfwaffe, etwas geradezu Intimes; und die Verbrechen, die mit einem Messer begangen werden, sind Resultate intimer Begegnungen.

Salman Rushdie

Salman Rushdie berichtet in seinem Buch Knife – Gedanken nach einem Mordversuch davon, wie sich am 12. August 2022 in Chautauqua, im Nordosten der USA, ein mit einem Messer bewaffneter Attentäter auf ihn stürzte und auf ihn einstach.

Ausgerechnet zu Beginn einer Veranstaltung, bei der es um die Schaffung von sicheren Zufluchtsstätten für verfolgte und bedrohte Schriftsteller gehen sollte.

Seit Rushdie seinen Lebensmittelpunkt um die Jahrtausendwende nach New York verlegt hatte, lockerten sich die strengen Sicherheitsvorkehrungen, die wegen der über ihn vom Iran verhängten Fatwa ergriffen werden mussten und die sein Leben in einen Hochsicherheitstrakt verbannt hatten. Er war gezwungen, an ständig wechselnden Wohnorten und in strenger Isolation zu leben und wurde rund um die Uhr bewacht.

Die Fatwa

Über dreißig Jahre, nachdem Khomeini wegen Rushdies Roman "Die satanischen Verse" eine Fatwa über ihn verhängt hatte, fühlte sich ein 22-jähriger Sohn libanesischer Einwanderer, der so gut wie nichts von Rushdie gelesen hatte und kaum etwas über ihn wusste, berufen, das Todesurteil zu vollstrecken.

Berserkerhafte Wut

Von einer berserkerhaften Wut erfüllt stach er mit einem Messer siebenundzwanzig Sekunden lang auf ihn ein, bis endlich andere zu Hilfe kamen und ihn wegrissen. Er verletzte ihn schwer, unter anderem am Auge, das nicht gerettet werden konnte.

Im Buch schildert Rushdie, wie er die Tat erlebte, den Krankenhausaufenthalt und die anschließende Reha und schließlich die Rückkehr nach New York. Wenn man derart angegriffen wird, werden nicht nur Muskeln, Sehnen und Knochen verletzt, sondern auch und vor allem das Welt- und Selbstvertrauen. Dass sich ein Mitmensch als Gegenmensch erwies, kann so schnell nicht vergessen werden. Eine Welt, die Welt bricht zusammen, "das Verständnis von Realität gerät ins Wanken".

Voller Dankbarkeit spricht Rushdie in diesem Zusammenhang von seiner Frau, der Dichterin und Fotografin Eliza Griffiths, die er ein Jahr zuvor geheiratet hatte und die diese Zeit gemeinsam mit ihm durchstand. Aus ihrer Liebe bezog und bezieht er die Kraft zum Weiterleben und Weiterschreiben.

Bald wurde ihm klar, dass er nicht umhinkam, über die Messerattacke zu schreiben, bevor er sich wieder anderen Themen zuwenden könnte. Und zwar musste er in der ersten Person darüber schreiben, nicht in der dritten, was er bisher bevorzugt hatte:

Wenn fünfzehnmal auf einen eingestochen wurde, fühlt sich das definitiv nach erster Person an.

Ein islamistischer Incel

Im Mittelpunkt des nun vorliegenden Buches stehen fiktive Begegnungen und Gespräche mit dem Täter. Begegnen wird er ihm real erst in der noch ausstehenden Gerichtsverhandlung, von der sich Rushdie eine schuldangemessene Verurteilung des Täters erhofft, aber in puncto Wahrheitsfindung wenig erwartet.

Dazu ist der junge Mann zu vernagelt. Davon zeugt schon der Umstand, dass er die Tat, die vor den Augen von Hunderten von Zuschauern stattfand, bestreitet.

Er äußert kein Bedauern über das, was geschehen ist, und scheint auch im Nachhinein nicht von Zweifeln an der Richtigkeit seines Handelns befallen zu werden. Er ist ein Fanatiker, der nach einem Wort von Lichtenberg "zu allem fähig ist, aber sonst zu nichts".

Ich denke, dass Rushdie den jungen Mann richtig einschätzt, wenn er in ihm einen sogenannten "Incel" sieht, einen unfreiwillig zölibatär lebenden, einsamen Mann, der die Trauben, die ihm zu hoch hängen, für sauer erklärt. Er hasst Frauen und, weil sich dieser Hass verallgemeinert, das Leben und das Lebendige insgesamt.

Rushdie würde ihn gern fragen, ob er schon jemals verliebt war und welchen Wert er seinem Leben beimisst. Er würde ihn gern nach Sokrates fragen, "der sagte, das unerforschte Leben sei es nicht wert, gelebt zu werden. Woraus folgt, dass nur das erforschte Leben lebenswert ist. Meine Frage: erforschen Sie ihr Leben? Gehen Sie jeden Tag in sich und versuchen herauszufinden, was Sie über Ihr Tun und Handeln denken?"

Rushdie weiß, dass der Täter, den er im Stillen nur "Arschloch", abgekürzt A. nennt, einer Zwiebel gleicht, die aus lauter Häuten besteht: Zieht man die letzte ab, so ist sie nicht mehr. Der Berliner schnoddert an dieser Stelle: "Ik bin in mir jejangen, da is ooch nüscht!"

Da die Gespräche mit A. fiktiv bleiben und die forensische Aufarbeitung noch auf sich warten lässt, beschießt Rushdie, ein Jahr nach der Tat mit seiner Frau nach Chautauqua zu reisen und sich den Ort des Geschehens noch einmal und mit etwas Abstand anzuschauen. Er besucht das Gefängnis, in dem der Beinahe-Mörder untergebracht ist und, so hofft er, einen beträchtlichen Teil seines Lebens verbringen wird.

Dann begeben sie sich zu dem Amphitheater, auf dessen Bühne die Veranstaltung hatte stattfinden sollen. Die Begegnung mit dem Tatort hat die erhoffte kathartische Wirkung: "Ein Kreis hatte sich geschlossen, und ich tat, was ich mir erhofft hatte – ich schloss meinen Frieden mit dem Geschehen, schloss Frieden mit meinem Leben."

"Komm, wir sind hier fertig", sagte er schließlich zu Eliza und griff nach ihrer Hand. "Lass uns nach Hause fahren."

"Knife" ist ein absolut lesenswertes und erstaunliches Buch von einem Betroffenen, der aus seiner Betroffenheit keinen Hehl macht, sich aber auch nicht von ihr davontragen, den Blick verstellen und einengen lässt. Immer wieder gelingt es Rushdie, aus seiner Geschichte herauszuspringen und aus der Vogelperspektive auf das Ereignis zu blicken.

Kurz: Er antwortet auf die Gewalt mit Kunst und Erkenntnis. Vor allem hat er sich seinen Humor nicht nehmen lassen, der ein Wesensmerkmal seiner Art, die Welt zu betrachten und zu schreiben war und ist. Anlässlich des Streits um die "Satanischen Verse" hat Rushdie gesagt, man könne diesen auch "als eine Auseinandersetzung zwischen Menschen mit Humor und Menschen ohne Humor" begreifen.

Das Resümee langjähriger Resozialisierungsbemühungen

Einem von der zweiten Sorte ist nun buchstäblich "das Messer in der Tasche aufgegangen" und er ist mit ihm auf Rushdie losgegangen. Die Pistole (oder das Messer) ist das Schreibgerät des Analphabeten, habe ich während meiner Tätigkeit als Gefängnispsychologe gelernt. Oder umgekehrt: Sprechen, Schreiben und Lesen entwaffnen. Was sprachlich ausgedrückt werden kann, muss nicht länger blind und gewaltförmig agiert werden.

Sprache transportiert die Utopie der Verständigung, des Kompromisses, der Möglichkeit einer zivilen Lösung von Konflikten. Gewalt ist manchmal auch der Versuch, allzu komplexe Situationen, deren man sprachlich und kognitiv nicht Herr zu werden vermag, magisch zu vereinfachen.

Das Resümee meiner langjährigen Resozialisierungsbemühungen in einem Gefängnis für erwachsene Straftäter läuft auf die Empfehlung hinaus: Statt modularisierter Sozialtechniken und Trainingsprogramme brauchen wir mehr Theater-AGs und Musik- und Literaturprojekte, mehr Theateraufführungen, Konzerte und Lesungen.

Die wirken manchmal gerade dadurch, dass sie nichts bewirken wollen und nicht nach der Resozialisierungsformel "pi mal qu durch Baumstamm" vorgehen.

Salman Rushdie: Knife - Gedanken nach einem Mordversuch, Penguin, 256 Seiten, 25 Euro

Götz Eisenberg betreibt seit einigen Jahren unter dem Titel "Durchhalteprosa" einen eigenen Blog: https://durchhalteprosa.de/.

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