Fast-GAU in Schweden
Schwerer Störfall in schwedischem AKW nach einer Serie technischer Pannen
Während mancherorts die Atomkraft eine Renaissance erlebt, zeigt ein AKW-Unfall in Schweden, dass die Technik nach wie vor alles andere als 100 Prozent sicher ist. Gut 20 Jahre nach der Katastrophe im ukrainischen Tschernobyl am 26. April 1986, schlitterte Ende Juli ein schwedisches AKW unweit Stockholms nur knapp am Rande eines GAUs entlang.
Das war offensichtlich haarscharf. Am 26. Juli ist es im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark beinahe zur Kernschmelze gekommen, wie das englischsprachige schwedische Internetmagazin „The Local“ berichtet. Das Magazin zitiert Lars-Olov Högelund, der lange Zeit als Chef der Konstruktionsabteilung beim staatseigenen Energiekonzern Vattenfall gearbeitet hat und auch für die drei Reaktoren in Forsmark verantwortlich war. Högelund hatte in der Nya Tidning aus Uppsala davon gesprochen, es hätten nur sieben Minuten daran gefehlt, dass die Bedienungsmannschaft die Kontrolle über den Reaktor verloren hätte. Eine Kernschmelze wäre die Folge gewesen.
Was war passiert? Bei Wartungsarbeiten in einem Umspannwerk außerhalb des AKWs war es zu einem Kurzschluss gekommen. Dadurch wurden zwei der drei Reaktoren am Standort Forsmark vom Netz genommen. Für einen solchen Fall haben die AKWs eigene Generatoren, die den Betriebsstrom liefern. Schließlich muss die Kühlung des Reaktors aufrechterhalten und die Kernspaltung herunter gefahren werden. Auch das Überwachungssystem, das die Belegschaft über den Zustand des Systems informiert, muss unter allen Umständen weiterlaufen. Doch die werkseigene Stromversorgung versagte am 26. Juli in Forsmark. Offenbar war der Netz-Kurzschluss in einen Teil der Anlagen des AKW durchgeschlagen. Auch zwei der vier Notstromaggregate versagten den Dienst. In der Folge war die Betriebszentrale für rund 20 Minuten „blind“. Die Mannschaft hatte keine Ahnung mehr, in welchem Zustand sich der Reaktordruckbehälter befand. Erst dann gelang es ihr, die Notstromversorgung vollständig in Gang zu bringen und den Reaktorkern noch rechtzeitig zu kühlen. Sieben Minuten später, meint Högelund, und der Prozess, der zur Kernschmelze geführt hätte, sei nicht mehr aufzuhalten gewesen. Das wäre der schlimmste Unfall seit Tschernobyl geworden.
Högelunds Kollegen von der schwedischen Atomaufsicht SKI (Statens kärnkraftinspektion) versuchen allerdings, den Fall herunter zu spielen. Die Situation sei kritisch gewesen, aber der Vergleich mit der Tschernobyl-Katastrophe sei nicht zulässig.
In our opinion it was probably an exaggeration. I won’t say he is wrong, but he doesn’t have all of the facts. We agree it was a serious accident, but comparing it to Chernobyl was a bit over the top.
SKI-Sprecher Anders Bredfell in Bezug auf Högelunds Warnungen
Mit den Informationen ist es allerdings so eine Sache. Einmal mehr haben sich AKW-Betreiber reichlich Zeit gelassen, um die Öffentlichkeit über den schwerwiegenden Vorfall zu informieren. Erst Högelunds Interviews haben den Unfall bekannt gemacht, und die wurden erst fünf Tage nach dem Vorfall veröffentlicht. Bis die ersten Nachrichten das benachbarte Ausland erreichten, das ebenfalls betroffen gewesen wäre, dauerte es weitere zwei Tage. Noch vor wenigen Wochen hatten Meinungsumfragen gezeigt, dass die schwedische Bevölkerung langsam von dem Beschluss abrückt, aus der Atomkraft auszusteigen, den es einst unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl gefasst hatte. Zwei von ursprünglich zwölf Reaktoren sind bereits stillgelegt. Gut möglich, dass der jüngste Vorfall die Skepsis wieder vergrößern wird. 45 Prozent der elektrischen Energie in Schweden stammen von AKWs.
Derweil haben schwedische AKW-Betreiber mit dem Havaristen fünf Reaktoren vorsorglich vom Netz genommen, da sie mit baugleichen Notstromaggregaten der Firma AEG ausgestattet sind und eine Wiederholung der folgenschweren Pannen nicht ausgeschlossen werden kann. Nach Angaben von Greenpeace sind die Probleme mit diesen Dieselgeneratoren seit langem bekannt. In Schweden streitet man sich derzeit, ob AEG seine Kunden über den „Schönheitsfehler“ seiner Apparate informiert hat oder nicht.
Unterdessen haben die Umweltschutzorganisation Greenpeace und die deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) auch für deutsche AKW Konsequenzen gefordert. Die IPPNW weisen auf einen Unfall im hessischen Atomkraftwerk Biblis B hin. Dort hatte am 8. Februar 2004 ein Kurzschluss im Hochspannungsnetz zu einer ganz ähnlichen Kette von Vorfällen geführt. IPPNW-Sprecher Hendrik Paulitz sieht zahlreiche Parallelen zu Forsmark:
Auch in Biblis kam es zur Trennung vom Stromnetz, auch in Biblis versagte die Stromversorgung über den kraftwerkseigenen Generator, auch in Biblis versagten verschiedene Komponenten der Kraftwerkssteuerung, auch in Biblis waren manuelle Maßnahmen erforderlich, um die Situation zu retten.
Nach Ansicht der IPPNW haben alle Atomkraftwerke das gleiche grundlegende Problem: „Die Steuerung von Atomkraftwerken kann jederzeit durch Kurzschlüsse beziehungsweise Überspannungen aus dem Ruder laufen und zum Super-GAU führen.“ Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit habe schon 1992 in einer Arbeit für das Bundesumweltministerium eindringlich vor diesen Überspannungen gewarnt.
Aber in Deutschland ignoriert man sicherheitstechnische Schwachstellen, die man nicht lösen kann schlichtweg nach dem Motto: Augen zu und durch. Bis es mal zu spät ist.
Hendrik Paulitz
Inzwischen hat das Bundesumweltministerium reagiert. Ein Sprecher des Ministeriums sagte gestern:
Bei dem Ausfall der elektrischen Versorgungen im Atomkraftwerk Forsmark handelt es sich um ein sicherheitstechnisch ernstes Ereignis. Das Bundesumweltministerium ermittelt zur Zeit den genauen Sachverhalt und wird so schnell wie möglich klären, ob die zugrunde liegenden sicherheitstechnischen Mängel auch in deutschen Atomkraftwerken vorliegen können.