Faule Eier
Zur Plakativität der amerikanischen Filmkritik
Im Englischunterricht lernt man es, dass Amerikaner eine emotionale Bipolarität kennen, die sie ebenso auf Lebewesen wie auf beliebige Objekte ausdehnen. "I love Michael Jackson, but I hate Prince," sagen sie beispielsweise mit ebensolcher Lapidarität wie "I love Coca Cola, but I hate Pepsi." Wenn man als Europäer die Aussage vielleicht weniger krass formulieren möchte - "I wouldn't say, I hate Pepsi, but I don't like it quite as much as Coke…" - wird man mit ziemlicher Sicherheit an dieser Stelle korrigiert: "No, I HATE the stuff. I LOVE Coke, but I really HATE Pepsi." Bei der Diskussion über Filmschauspieler fallen die Urteile nicht minder drastisch aus: "I HATE Alec Baldwin, but I LOVE Nick Cave."
Es ist im Grunde genommen die gleiche Geste, die wir alle aus Facebook und diversen anderen Internet-Foren kennen, den nach oben gerichteten oder nach unten zeigenden Daumen, die Geste "Like" oder "Don't Like". In Europa - etwa bei Telepolis - ist diese binäre Kultur noch nicht in ihrer ganzen Krassheit angekommen. Leserbriefschreiber zu Beiträgen in TP werden nicht einfach nur zu einer positiven oder negativen Stellungnahme angehalten.
Die Leser können ihre beliebig langen und beliebig abweichenden Meinungen äußern, und andere Leser können beliebig graduierte Zustimmung oder Ablehnung zu dieser Meinungsäußerung dazu geben. In irgendeiner - der Leserschaft nicht öffentlich zugänglich gemachten - Asservatenkammer des Verlages wird dann wohl (so kann man vermuten) ein statistisch von Ablehnung bis Zustimmung ausführlich austarierter Graph konstruiert, der zeigt, wie die Leser zwischen "Like" und "Don't Like" hin und her lavieren. Wobei diejenigen Leser, die 26 verschiedene Meinungsäußerungen zum gleichen Artikel abgesondert haben, vermutlich zu einer statistisch einzigen Kurve eingedampft werden. Wer weiß.
Bei Facebook und bei unzähligen anderen Internet-Anlaufstellen wird es offenbar noch beliebig komplizierter, andererseits reicht es beispielsweise bei "Rotten Tomatoes" schon, die aufgestellten oder niedergehaltenen Daumen zu zählen. Der Begriff "Rotten Tomatoes" - "vergammelte Tomaten" - leitet sich, wie das deutsche "faule Eier", aus der Theaterwelt her, wo früher das Publikum seine ablehnende Haltung mit harmlosen aber übelriechenden Wurfgeschossen kundtat. In den Theatern, in denen nur Melodramen gezeigt wurden, traurige. gräßliche, zu Tränen rührende Stücke, in denen auch Bösewichter eine Hauptrolle spielten, äußerte sich das Publikum mit Vorliebe durch "Buh"-Rufe und durch ein zischendes "Hiss", mit dem man das allgemeine Missfallen kundtat. Diese alte Tradition wurde in der Kinderbuchserie "Eine Reihe betrüblicher Ereignisse" von Lemony Snicket wiederbelebt.
Nett, aber komplex, zu komplex für normale Leser. In jedem Roman der 13teiligen Serie müssen stets von neuem die vom Autor verwendeten Vokabeln erklärt werden, in der Hoffnung, dass die Leser später einmal einen Kinderbuch-Klassiker wie "Alice im Wunderland" ohne fremde Hilfe lesen und verstehen können werden.
Die drastische Vereinfachung bei den "Vergammelten Tomaten" besteht nun darin, eine beliebige Anzahl von Filmkritiken zu jeweils einem bestimmten Film aus amerikanischen Printmedien herauszulösen und entweder zu einem erhobenen oder niedergehaltenen Daumen zu verkürzen. Anschließend erfährt man, dass von so-und-so vielen Kritiken beispielsweise 54 Prozent einen bestimmten Film "positiv" beurteilten. Der Zuschauer, der den Film noch nicht im Kino oder als Video gesehen hat, kann nun im Internet unter der Rubrik "Rotten Tomatoes" nachschlagen, und sich mit den jeweils anfallenden Prozentzahlen bekannt machen. Umgekehrt, wenn beispielsweise 89 Prozent der Kritiken negativ ausfielen, kann man dann bei "Rotten Tomatoes" gleich erfahren, dass es gar nicht lohnt, diesen Film überhaupt anzusehen.
Wenden wir uns an dieser Stelle einmal EINEM dieser amerikanischen Filmkritiker zu. Eben hat er oder sie zwei Tage damit verbracht, die nötigen Illustrationen aufzutreiben, den Film zweimal anzusehen, sich Notizen zu machen und trotz aller häuslichen Krisen den Text um Mitternacht an die Redaktion abzuschicken. Eine Woche später liest jemand bei den "Vergammelten Tomaten" lustlos diesen 159sten Text zum immergleichen Thema, und sagt: "Hey Jim. Ich kann nicht verstehen, was diese Person hier sagt. Findet sie den Film jetzt gut oder nicht gut?"
Und dabei ist die Rezension nicht einmal von einer Pauline Kael - erstens weil Pauline Kael schon lange tot ist und zweitens weil es in Amerika heute keine Filmkritiker mehr gibt, die sich mit ihr vergleichen ließen. Und drittens, weil es völlig egal ist, was die oder der betreffende Mensch über einen Film schreibt; was einzig zählt, ist der Daumen.
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