Fehlinterpretation klinischer Versuchsreihen: Eine Episode aus der Kolonialmedizin
- Fehlinterpretation klinischer Versuchsreihen: Eine Episode aus der Kolonialmedizin
- Ein Kontinent als Großraumlabor
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Eine jahrzehntelange Kampagne zur Massenprophylaxe im kolonialen Afrika überschätzte die Wirkung eines Medikaments und bagatellisierte die Nebenwirkungen und tödlichen "Kollateralschäden"
Die Afrikanische Schlafkrankheit (human African trypanosomiasis bzw. HAT) gehört zu den großen Bedrohungen des afrikanischen Kontinents. Bis heute sind mehr als 500.000 Menschen von der Seuche betroffen, die unbehandelt fast sicher zum Tod führt. Von Parasiten hervorgerufen und ausschließlich durch Tsetse-Fliegen verbreitet, bleibt sie auf diejenigen Gebiete des Tropengürtels beschränkt, welche den Lebensraum der Insekten bilden.
Krieg und Verelendung als Hauptursachen der Epidemie
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Ausbeutung, Kriegen und den Opferzahlen der Schlafkrankheit, der bei De Raadt sowie Berrang Ford erläutert wird. (Im letztgenannten Artikel findet man dazu eine eindrückliche Statistik für Uganda über den Zeitraum von 1905 bis 2000.) Intensivierte Bürgerkriege in den späten 1990er Jahren führten zur Vertreibung und Flucht vieler Menschen in unwirtliche Gebiete, wobei auch die Seuchen wiederaufflammten.
Das koloniale Wirtschaftssystem als Triebfeder der Epidemien des 19. und 20. Jahrhunderts
Obwohl die Krankheit seit der frühesten Menschheitsgeschichte in Teilen Afrikas verbreitet war, trat sie in der vorkolonialen Zeit in wesentlich geringem Ausmaß auf. Das Reservoir des Parasiten bildeten hauptsächlich Wild- und Haustiere in wohlbekannten und gut eingegrenzten Regionen. Die Übertragung des Krankheitserregers auf den Menschen geschah also zumeist vom Tier auf den Menschen und nur selten von Mensch zu Mensch. De Raadt erläutert, wie die vorkoloniale Lebensweise innerhalb der Siedlungen und zwischen den Stammesterritorien bewusst oder unbewusst Isolationszonen schuf und zur Krankheitsprophylaxe beitrug.
Dazu gehörte die Tradition, im Umkreis der Dörfer die Vegetation zu roden, um Feinde oder Raubtiere schneller erkennen zu können. Da Tsetse-Fliegen das schattige Gebüsch bewohnen, fehlte ihnen der Lebensraum. Sogenannte "Grenzwildnisse" bildeten eine natürliche Barriere zwischen den Stämmen und Königreichen, welche zugleich die Krankheitsübertragung behinderten.
Ein weiteres Indiz für die verhältnismäßig geringe Gefährdung in vorkolonialer Zeit war die schwache Ausprägung biologischer Schutzfaktoren bei Einheimischen, ganz im Gegensatz zur Vielfalt und Verbreitung entsprechender Schutzmechanismen gegen Malaria.
Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossene Kolonialisierung sollte diesen Zustand drastisch ändern. Zur Erschließung der Reichtümer des Landes wurden Arbeitskräfte benötigt und so zwangen die neuen Herren einen Teil ihrer afrikanischen Untertanen zum Aufgeben der bisherigen Lebensweise. Oftmals wurden sie zur Rohstoffgewinnung (Kautschuk, Erze) oder zum Bau von Straßen bzw. Eisenbahnen in Regionen verschickt, die zuvor aufgrund ihrer Verseuchung gemieden wurden. Eine höhere Besteuerung entzog dem bisherigen System der ländlichen Selbstversorgung zunehmend die Grundlage. Durch die Landflucht entstanden nun Orte mit einer hohen Bevölkerungsdichte, welche die Seuchenausbreitung begünstigten. Armut und Mangelernährung verstärkten die Anfälligkeit.
Nachdem sich die Fliegen in unmittelbarer Nähe menschlicher Siedlungen einnisten konnten, wurde der Mensch selbst zum Reservoir des Parasiten und es kam zum Ausbruch von Epidemien. Diese führten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Entvölkerung ganzer Landstriche und stellten damit die wirtschaftliche Ausbeutung in Frage. Für das Ende des 19. Jahrhunderts gibt De Raadt allein im Kongobecken eine halbe Million und in Uganda zwischen 200.000 und 300.000 Todesopfer der Schlafkrankheit an. Malvy und Chappius beziffern für den Zeitraum zwischen 1896 und 1906 die Zahl der Toten zwischen 300.000 bis 500.000, wobei die Opfer hauptsächlich auf das Kongobecken, Kenia und den Busoga -Distrikt in Uganda entfallen.
Zugleich war abzusehen, dass Infektionen von den Afrikanern früher oder später auf die weiße Minderheit übergreifen mussten, deren Immunsystem unter den örtlichen Gegebenheiten wesentlich schneller nachgibt. Sollte man das Problem nicht in Griff bekommen, so wäre das gesamte Herrschaftsprojekt gefährdet. In den Machtzentren der europäischen Kolonialimperien erklärte man die Seuchenbekämpfung zur vordringlichen Aufgabe, der sich führende Mediziner zuwandten (G. Lachenal1).
Im Jahre 1937 wurde der Wirkstoff Pentamidin (C19 H24 N4 O2) von Chemikern der Liverpool School of Tropical Medicine entwickelt. Schnell erkannten sie vielversprechende Einsatzmöglichkeiten gegen die Afrikanische Schlafkrankheit sowie Leishmaniose, eine ebenfalls von Parasiten hervorgerufenen Erkrankung. Zusammen mit dem Syphilis-Medikament Salvarsan und dem Penicillin erwarb sich Pentamidin den Ruf einer "wonder drug" oder "magischen Kugel" der Chemotherapie. Im Jahre 1939 gelang es damit erstmals, eine Epidemie der Schlafkrankheit im britischen Sierra Leone unter Kontrolle zu bringen. Die Erfolge wiederholten sich auch bei späteren Seuchenausbrüchen in anderen Kolonien.
Eine Kettenreaktion von Irrtümern
Zur damaligen Zeit waren die Gesetzmäßigkeiten beim Abbau von Medikamenten noch weitgehend unbekannt. Die Wirksamkeit von Drogen wurde experimentell erforscht. Wenngleich der therapeutische Nutzen klar erwiesen war, so traten bei der Untersuchung möglicher prophylaktischer Wirkungen einige technische Probleme auf, die zu gravierenden Fehlinterpretationen führten.
Einer der ersten Tests zur Prophylaxe wurden im Jahre 1941 vom belgischen Militärarzt Lucien Van Hoof am Institut für Tropenmedizin von Léopoldville, der Hauptstadt des damaligen Belgisch-Kongo, durchgeführt. Zwei aus der lokalen Bevölkerung stammende Versuchspersonen erhielten eine Einmaldosis Pentamidin injiziert. Diese betrug 2 mg pro kg bzw. 3 mg pro kg Körpergewicht und lag damit tiefer als die heutige Tagesdosis einer zehntägigen Behandlung. Anschließend wurden sie alle zwei Tage den Stichen von Tsetsefliegen aus dem Institutslabor ausgesetzt, deren Infektionsstärke jedoch nicht kontrolliert wurde. Es dauerte zehn bzw. zwölf Monate, bis der Erreger der Schlafkrankheit im Blut der Probanden nachgewiesen werden konnte, worauf man sie ausheilte. Van Hoof schlussfolgerte eine prophylaktische Wirkung über die Dauer von mindestens zehn Monaten.
Tatsächlich hält die Wirkung weniger als zehn Tage an, da sich die Droge im Blut exponentiell abbaut: Bei intramuskulärer Verabreichung beträgt ihre Halbwertszeit 9,4 Stunden, d.h. nach diesem Zeitraum hat sich die Konzentration im Blut durch Filtration über die Nieren bzw. Zersetzung mit Leberenzymen halbiert. Zehn Tage (bzw. 240 Stunden) entsprechen 240:9,4=25,5 Halbierungszyklen, sodass schließlich nur noch (1/2)25,5 = 2 x 105 Promille von der anfänglichen Konzentration übrig sind. Damit ist das Medikament zur Prophylaxe ungeeignet. Heute erscheint es paradox, daß die fehlerhaften Resultate van Hoofs2 nahezu gleichzeitig durch unabhängige Forschungen des französischen Biologen Leon Launoy3 "bestätigt" wurden, womit der Grundstein für einen langjährigen Prioritätsstreit gelegt wurde.
Wegen des Krieges konnten van Hoofs Ergebnisse erst 1944 veröffentlicht werden. Doch selbst in den folgenden zwei Jahrzehnten stießen sie in der Fachwelt kaum auf Widerspruch. Die obigen theoretischen Ansätze zum Abbau der Wirkung waren noch unbekannt. Einzig die Entwickler aus Liverpool gaben zu bedenken, dass die Probanden während des Versuchs möglicherweise nicht ununterbrochen einem Infektionsrisiko ausgesetzt waren.
Bereits vor der Veröffentlichung seiner Resultate entschied sich Van Hoof im Dezember 1942 zur Fortsetzung im Massenexperiment. Als Médecin en Chef du Congo belge im militärischen Rang eines Generals genoss er eine hohe Entscheidungsfreiheit und stand zugleich unter Handlungsdruck. Durch die deutsche Besetzung des Mutterlandes gewann die Kolonialverwaltung von Belgisch-Kongo eine hohe Autonomie. Als enger Verbündeter der Alliierten und Lieferant kriegswichtiger Rohstoffe wie Kautschuk und Uran (für die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki) erhielt sie eine wichtige strategische Bedeutung.
Wegen des Krieges war die Nachfrage nach Kautschuk enorm gestiegen und mit der Zunahme des Kautschuksammelns in den Wäldern stieg zugleich der Anteil Erkrankter. Verstärkte Epidemien, auch in benachbarten Kolonien, drängten zu Gegenmaßnahmen. Für den ersten Massenversuch wurden zwei Dörfer auserwählt, die regelmäßig von Epidemien heimgesucht wurden. Aus den vermeintlich gesunden Dorfbewohnern - die Mikroskopie erkannte Infektionen nur mangelhaft - wurden tausend Personen ausgesucht. Davon wurden nun zwei Drittel "immunisiert", während das verbleibende Drittel als Kontrollgruppe belassen wurde. In dieser fand man nach Ablauf von 6 Monaten einige Krankheitsfälle, während die "Immunisierten" gesund blieben. Wieder einmal schien der Erfolg offensichtlich.
Der Versuchsverlauf ist ungenügend dokumentiert. Es gibt jedoch Hinweise, dass in der Kontrollgruppe die Kinder überrepräsentiert waren.4 Wegen ihres höheren Infektionsrisikos erlaubt ein Vergleich der Gruppen keinen Rückschluss auf die prophylaktische Wirksamkeit des Medikaments. Tests mit einer robusten behandelten Gruppe und einer krankheitsanfälligeren Kontrollgruppe können die Ergebnisse durch das Simpson - Paradoxon verzerren.
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