Fehlinterpretation klinischer Versuchsreihen: Eine Episode aus der Kolonialmedizin

Seite 2: Ein Kontinent als Großraumlabor

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Nach Ende des Zweiten Weltkrieges beschloss die Mehrzahl der Kolonialmächte - mit Ausnahme des britischen Herrschaftsbereichs, wo man den Schutz auf spezielle Wirtschaftssektoren, beispielsweise Minen beschränkte - ein breitangelegtes Programm zur Ausrottung der Afrikanischen Schlafkrankheit. Zur Koordinierung wurde im Februar 1948 das Ständige Internationale Büro gegen Tsé-Tsé und Trypanosomiase (BPITT) mit Sitz in Brazzaville gegründet.

Es war eine doppelgleisige Strategie vorgesehen, wobei Krankheitsfälle mit Pentamidin kuriert und die Gesunden mit einer etwas geringeren Dosis "immunisiert" werden sollten. Auf die zeitraubende und komplizierte Mikroskopie musste allerdings oft verzichtet werden. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten wurden insgesamt 12-13 Millionen präventive Injektionen verabreicht. Die gesamte Menge wurde von zwei Firmen produziert, die heute zum Pharmagiganten Sanofi gehören: die britische May & Baker und die französische Spécia.

In den französischen Kolonien wurde das Medikament unter dem Namen Lomidin eingesetzt, weshalb man die dortige Kampagne als Lomidinisierung (lomidinisation) bezeichnete. Mobile Sanitätsbrigaden untersuchten, meist im Abstand eines oder zweier Jahre, die Bevölkerung potenziell gefährdeter Gebiete. Für die Einheimischen, inbegriffen Schwangere und Kinder, bestand strikte Teilnahmepflicht. Die Kontrolle wurde durch die Einführung eines Impfausweises sichergestellt. Im Falle der Verweigerung drohten Geld- bzw. Haftstrafen.5

Kampagne zur Bekämpfung der Schlafkrankheit in Pagouda (ehemals Französisch-Togoland, jetzt Togo). Zwischen 1940 und 1950. Bild: Agence économique de la France d'Outre-Mer/ ANOM

Impfen im Fließbandtakt

Die Brigaden, meist aus vier einheimischen Hilfskräften unter der Leitung eines europäischen Sanitäters bestehend, hatten dabei ein hohes Arbeitspensum zu bewältigen. Für die Injektionslösung musste Wasser vor Ort filtriert werden. Pro Vormittag wurden im Durchschnitt 250 Injektionen verabreicht. Aufgrund des Zeitdrucks, der geringen Qualifikation, der sparsamen Ausrüstung (5 Spritzen, 10 Nadeln) sowie mangelhafter Sterilisierung vor Ort war es nicht erstaunlich, wenn bei den Geimpften regelmäßig tödliche Komplikationen auftraten. Zu deren Behandlung waren die Teams weder ausgebildet noch mit Medikamenten ausgerüstet.

Hauptgründe der Todesfälle waren allergische Schockreaktionen sowie bakteriell verschmutzte Einstichstellen. Es sind mehrere schwere Zwischenfälle mit Dutzenden von Toten durch bakterienverseuchtes Wasser bekannt. In den ausführlichen Statistiken der einzelnen Regionen (mit der Anzahl der getesteten bzw. geimpften Personen, Menge des verbrauchten Impfstoffs usw.) fehlen jedoch die Angaben über Todesfälle.

Da sich die Verantwortlichen der Risiken und Nebenwirkungen sehr wohl bewusst waren, gaben sie für Weiße genau die entgegengesetzte Richtlinie. Hier wurde von einer allgemeinen prophylaktischen Injektion abgeraten. Falls sie aufgrund besonderer Umstände trotzdem ratsam wäre, müsse sie unbedingt durch einem weißen Arzt aus der Kolonialverwaltung erfolgen. Weiterhin war deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Komplikationen vermeidbar wäre, wenn der Impfstoff vom Hersteller bereits in wässriger Lösung hergestellt würde. Ein entsprechender Vorschlag wurde von einigen Organisatoren in die Diskussion gebracht und selbst vom Hersteller angeboten, jedoch aus Kostengründen nicht umgesetzt.

Obwohl Pentamidin nach der obigen Rechnung zur Prophylaxe ungeeignet ist, zeigte die Behandlung eine Wirkung. Selbst nach ein- oder zweijähriger Pause blieb die Anzahl der Neuinfektionen oft noch bemerkenswert tief. Die Gesamtzahl der Erkrankungen sank merklich, wenn auch die Krankheit nie völlig verschwand. Das nährte die Hoffnung auf eine Ausrottung der Seuche und war der Hauptgrund für die jahrzehntelange Fortsetzung der Kampagnen.

Zunehmende Impfverweigerung und Zwang

Solange die Einwohner die Schlafkrankheit als reale Bedrohung im Lebensalltag sahen, nahmen sie die Risiken der Impfung in Kauf. Die Behörden mussten kaum Überzeugungsarbeit leisten, um die Teilnahme zu gewährleisten. Allerdings sank die Impfbereitschaft der Bevölkerung im gleichen Maße, wie auch die Krankheit zurückging. Selbst wenn Folgeschäden ausblieben, war die Impfung äußerst schmerzhaft und führte neben Erbrechen oft zu Abszessen. (Ein zeitgenössisches Klagelied aus Kamerun listet sämtliche Symptome auf.6 Bei Komplikationen blieben die Betroffenen auf sich selbst gestellt und hatten keinerlei Möglichkeit, einen Arzt zu konsultieren. Inoffiziell kursierende Nachrichten über Todesfälle in benachbarten Regionen löste Angst und zunehmend die Flucht beim Heranrücken der Impfbrigaden aus.

Während die Teilnehmerquote in den Anfangsjahren um 100 Prozent lag, sank sie innerhalb eines Jahrzehnts drastisch ab, oftmals auf 60 und teilweise sogar auf 25 Prozent. Appelle der Behörden an die Verantwortung einschließlich der verbalen Kriminalisierung der Verweigerer verhallten zunehmend ungehört. Um ein Entkommen über den Grenzfluss zu vermeiden, koordinierten die Verwaltungen von Belgisch- und Französisch-Kongo ihre Aktionen an beiden Ufern des Kongo. Mitunter griff man im "Krieg gegen den Krankheitserreger" zu härteren Methoden gegen die Verweigerer: Zunächst wurde das ganze Dorf mit Militär umstellt, dann folgte die Impfung.

Koordinierte Franko-Belgische Impfkampagne entlang des Kongo. Bild: Archives Africaines des Belgischen Aussenministeriums, Brüssel.

Die Wahrnehmung innerhalb der Bevölkerung und unter den Organisatoren driftete mehr und mehr auseinander, da letztere jegliche Verantwortung für die Komplikationen verneinten und den Opfern zuschoben. Angeblich lag es an der mangelhaften Disziplin und fehlenden Hygiene der Geimpften selbst, welche ihren Tod verursachte.

Als es im November 1954 im Dorf Gribi (Kamerun) zu einem Zwischenfall mit 32 Toten durch verschmutztes Wasser kam - Schlimmeres wurde nur vermieden, weil man eiligst Ärzte hinzu zog -, wurde eine Untersuchung eingeleitet, die schließlich dem Leiter der Brigade, einem ehemaligen Zahntechniker, die volle Verantwortung zuschob. Der Vorfall, welcher nur einen Punkt in einer Kette von Pannen markierte, brachte die Bevölkerung in Wut, da in der Umgebung schon seit längerem kein Fall von Schlafkrankheit aufgetreten war. Er führte erstmals zu größeren Bürgerprotesten, die auch im Regionalparlament einen Nachhall fanden. (Da die ehemals deutsche Kolonie nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich als Treuhandgebiet verwaltet wurde, besaß Kamerun unter den französischen Territorien das Privileg, ein Parlament mit eingeschränkten Rechten zu führen.) Einige der Abgeordneten forderten öffentlich Rechenschaft über die Schwachstellen und Risiken der Massenimpfungen. Auch unter den Organisatoren hatte die Skepsis längst Fuß gefasst.

Im Rückblick beurteilt der Arzt René Labusquière, einer der führenden Mediziner im französischen Kolonialcorps, die Prophylaxewirkung von Pentamidin als "inutile, dangereuse et par conséquent inutilement dangereuse" (nutzlos, gefährlich und folglich gefährlich nutzlos7 Die Kampagnen zur Prophylaxe wurden in den meisten afrikanischen Ländern noch vor dem Erreichen der Unabhängigkeit eingestellt.

Wirkungen und Spätfolgen

Im Rückblick stellt sich die Frage, warum Pentamidin - trotz seiner geringen Halbwertzeit - bei der massenhaften Anwendung überhaupt eine Langzeitwirkung zeigte. Die Antwort fand sich erst durch bessere Diagnosen und ein tieferes Verständnis der Übertragungsmechanismen. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde die Technik Beta-2-M entwickelt, welche einen genaueren Nachweis des Parasiten ermöglicht. Dabei offenbarte sich, dass Mikroskopie nur eine Erfolgsquote von etwa 30 Prozent aufweist. 70 Prozent der Krankheitsfälle bleiben unentdeckt. Die angeblich so effektive Prophylaxe war also in vielen Fällen eine - tatsächlich wirkungsvolle - Krankheitsbehandlung.

Außerdem durchläuft der Erreger zwischen seinen wechselnden Aufenthalten in Fliege und Mensch einen komplizierten Anpassungszyklus. Dadurch ist meist nur ein geringer Teil der Tsetse-Fliegen infiziert, nämlich diejenigen, welche sehr rasch nach dem Schlüpfen infiziertes Blut aufnehmen können.8 Verabreicht man der Bevölkerung die vorgeschriebene Dosis Pentamidin, so ist sie zumindest für einige Tage gesund und versorgt in dieser Zeit geschlüpfte Fliegen mit sauberem Blut. Dadurch nimmt der Anteil infizierter Fliegen merklich ab. Die kurzzeitige Immunisierung verlangsamte die Krankheitsausbreitung. Zugleich wird klar, warum die Krankheit auf diesem Wege niemals vollständig ausgerottet werden konnte.

Unter Einheimischen war die Prävention wegen ihrer schweren Komplikationen gefürchtet. Zur Kostenbegrenzung ignorierten die Verantwortlichen die Sicherheits- und Hygienestandards, wie es in Europa selbst für damalige Verhältnisse unvorstellbar gewesen wäre. Die Risiken schienen tragbar, solange sie auf die einheimische Bevölkerung beschränkt blieben. Einerseits wurden Todesfälle zu Pannen heruntergespielt, ihre Ursachen ignoriert oder den Opfern selbst angelastet. Andererseits unternahm die Forschung über Jahrzehnte keinen Versuch zur Überprüfung der mysteriösen Prophylaxewirkung, der den Irrtum aufgeklärt hätte.

Von den Organisatoren wurde in Kauf genommen, dass mangelhaft sterilisierte Spritzen gleichzeitig Wege zur Übertragung neuer Krankheiten schufen. (Das Problem war zuletzt im Zweiten Weltkrieg deutlich geworden. Spätestens nach Kriegsende galt es als ausreichend erforscht, sodass entsprechende Hygienestandards bereit standen.)

Nachgewiesen ist die Förderung von Hepatitis C im südlichen Kamerun und von HIV-2 in Guinea-Bissau. (HIV-2 ist hauptsächlich auf Westafrika beschränkt. Die Krankheit ist sexuell weniger übertragbar und verläuft leichter als HIV-1, sodass die Erkrankten länger überleben.) Da die Gesundheitskampagnen im damals portugiesischen Guinea-Bissau erst zwischen 1950 und 1970 intensiviert wurden, ließ sich bei den Geimpften noch eine höhere HIV-Rate nachweisen.9

Mit der Verbreitung blutübertragbarer Infektionen werfen die fast vergessenen Gesundheitskampagnen einen langen Schatten in die Gegenwart. Die Ursachen dieses Desasters sollten weder im Irrtum einzelner Entscheidungsträger wie General Van Hoff noch in vereinfachten wissenschaftlichen Modellansätzen oder gar einem unzureichenden zeitgenössischen Wissensstand gesucht werden. Bei der Komplexität des Problems ist davon auszugehen, dass ihm auch heutige Konzepte nicht gerecht werden, solange sie eine rein technologische Lösung suchen.

Es waren Netzwerke aus Investoren, Politikern, Administratoren und Wissenschaftlern, welche im 19. und 20. Jahrhundert die kolonialen Großprojekte vorantrieben, gigantisch in ihren Profitversprechen und unvorhersehbar in ihren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Bei neuen Problemen griffen sie wiederum auf dieselben Methoden zurück. Anstelle des Gewinnverzichts zugunsten der Gesundheit der Einheimischen, deren Wohlergehen für die Öffentlichkeit als maßgeblicher Kolonisierungsvorwand herhalten musste, kam zur Lösung nur ein neues Großprojekt in Betracht, diesmal als hochprofitabler Staatsauftrag für die Pharmaindustrie.

Dr. Raj Spielmann ist Mathematiker und Autor der Fachbücher "Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Mathematische Anwendungen in Natur und Gesellschaft" und "Biomathematik. Deterministische Modelle aus Evolutionsbiologie, Populationsgenetik und Epidemiologie", die im Verlag Walter De Gruyter erschienen sind.

In der aktuellen Gesundheitsdebatte sieht er - unabhängig von allen Einschätzungen über Risiken und Sterblichkeitszahlen - eine grobe Vereinfachung, solange monopolkapitalistische Gesellschaftsstrukturen ausgeblendet werden. Wenn letztere den Raubbau durch industrielle Landwirtschaft, Umweltzerstörung und Kriege forcieren, werden die Bedingungen zur massenweisen Ausbreitung verschiedenster alter und neuer Krankheitserreger ständig reproduziert. Keine Regierung, die sowohl Krieg führt, als auch Sozialabbau und wirtschaftliche Ausbeutung fördert, kann gleichzeitig eine glaubhafte Gesundheitspolitik beanspruchen.

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