Filterinitiative ICRA: Wir sind die Guten

Die Internet Content Rating Association frischt ihr Marketing auf

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Mit einem Feuerwerk an Ideen bereitet die Internet Content Rating Association (ICRA) den Relaunch ihrer mit zahlreichen Produktinnovationen ausgestatteten Filterplattform 2.0 im Spätsommer vor. Die vor allem von der Bertelsmann Stiftung immer wieder beworbene Initiative will jetzt helfen, die Anarchie im Netz "ein Stück weit" zu bewahren.

"Wir sind die Guten", könnte der neue Slogan der Internet Content Rating Association ICRA) lauten, wenn darauf nicht schon die Marketingprofis eines anderen Unternehmens gekommen wären. Obwohl Kritiker seit Jahren vor einer Einschränkung der Kommunikationsfreiheit durch Internetfilter und den Aufbau einer Zensurinstanz warnen, preist die Bertelsmann Stiftung die im englischen Brighton sowie in den USA beheimatete, sich als gemeinnützig ausweisende Privatunternehmung ICRA in ihren Empfehlungen zur zukünftigen Netzpolitik als "Beispiel für verantwortliche Selbstregulierung" an (Internet-Filtern auf gut Deutsch). Die Gütersloher Stiftung ist eine der wichtigsten Trägerinstanzen der ICRA. Im Boot sind außerdem zahlreiche Netz-Unternehmen und -Verbände wie AOL, British Telecom, Digimarc, EuroISPA, IBM, Microsoft, Network Solutions oder T-Online.

Das überarbeitete Filtersystem, das die ICRA im Spätsommer launchen will, "überlässt dem Nutzer die Entscheidung, welche Werthaltungen er im Internet widergespiegelt sehen möchte". So umschrieb Ingrid Hamm, die Medienbeauftragte der Bertelsmann Stiftung, auf der Berliner Konferenz Internet Governance Ende vergangener Woche in einem Satz die Benefits des Produkts (Wer regiert das Internet?). Bereiche wie Pornographie oder Rassendiskriminierung blieben beim Einsatz des Systems "ganz ausgespart". Für den Start, der für September avisiert ist, "drücken wir ganz fest die Daumen", sagte Hamm.

Ola-Kristian Hoff, Europa-Direktor der ICRA, gewährte in Berlin weitere Einblicke in die aufgefrischte Vermarktungsstrategie. Der Ansatz des Norwegers ist subtiler als der der Bertelsmann Stiftung. So betonte er noch stärker die "Freiwilligkeit" des Einsatzes des Systems. "Ich würde niemals zu einem User sagen: Sie müssen filtern." Ob die Lösung der ICRA gut oder schlecht sei, habe jeder Nutzer selbst zu entscheiden. Persönlich wolle er nicht ständig von einer Software verfolgt werden, sagte Hoff. "Ich würde es ablehnen, wenn mir ein fremdes Wertesystem übergestülpt würde". Letztlich ginge es der ICRA und den angeschlossenen Konzernen darum, "die Anarchie des Netzes ein Stück weit zu bewahren." Denn wenn die Industrie nicht Maßnahmen zur Selbstregulierung ergreife, würden die Politiker Branchen wie die Porno-Industrie mit ihren Auflagen überziehen.

Eines der wichtigsten Ziele der ICRA lautet, Eltern die Kontrolle über die Inhalte zu geben, die ihre Kinder online sehen können. Auch die EU-Kommission, die den Jugendschutz im Netz verbessern und die Net-Kids vor "schädlichen Inhalten" bewahren will, fördert daher die Initiative seit 1999 mit mehreren Hunderttausend Euros. Eines der größten Probleme sei aber, gab Hoff offen zu, dass "die Kinder oft mehr wissen" über vermeintlich interessante Websites als ihre Eltern. Institutionen wie die Kirchen oder andere "vertrauenswürdige" Organisationen, so der ICRA-Direktor, würden daher in jedem Land bestimmte Voreinstellungen in Form von Listen mit (nicht) abrufbaren Webadressen anbieten. Die könnten besorgte Eltern einsetzen.

Filters are a Cyberliberarian’s best Friend

Eigentlich setzt die ICRA aber weniger auf derartige Positiv- oder Negativlisten, sondern auf die Klassifizierung und Kennzeichnung ("Labeling") von Webseiten durch die Anbieter selbst. Der Filter, der auf der inzwischen in die gängigen Browertypen integrierten Platform for Internet Content Selection (PICS) basiert, soll diese "Etiketten" lesen und entsprechend der Einstellungen des Users (bzw. seiner Eltern) zulassen oder ausblenden. Durch dieses Prinzip der Selbstklassifizierung "vermeidet das ICRA-Filtersystem eine Zensur von Internet-Inhalten durch Dritte", behauptet die Bertelsmann Stiftung. Es sei am besten geeignet, ergänzt Hoff, "um die freie Meinungsäußerung und die Kinder gleichzeitig zu schützen." An kommerzielle Filtersoftware, die auf intransparenten Listen beruhe, glaubt er dagegen nicht.

Die Einwände von Kritikern (Die große Filteroffensive) hofft die ICRA mit der Überarbeitung ihres Bewertungssystems für Webseiten entkräftet zu haben. Denn während die Klassifizierungsmöglichkeiten des Recreational Software Advisory Council (RSAC), aus dem die ICRA hervorgegangen ist, den Kontext von Bildern oder Texten überhaupt nicht beachteten, sind im neuen System diffizilere Unterscheidungen möglich. In der Grundkategorie "Sex oder Nacktheit" können die Selbstregulierer nun beispielsweise die Untergruppe "Kunst" oder "Bildung" auswählen. Ob nacktes Fleisch im Einzelfall einen ästhetischen oder erzieherischen Wert hat, muss der Content-Anbieter aber nach wie vor allein entscheiden. Und in dieser Frage sind die Geschmäcker bekanntlich verschieden – vor allem zwischen einzelnen Kulturkreisen.

Microsoft soll die Blocker-Software liefern

Unklar ist nach wie vor auch, ob die Sexindustrie überhaupt mitspielt. Die Anreize seien groß, da die Porno-Anbieter im Web "als die Good Guys angesehen werden wollen", glaubt Hoff. Kinder und Jugendliche auf ihre Seiten zu locken, sei nicht das Ziel der Sexprovider. Die hätten schließlich keine Kreditkarte. Dass auch die Verbreiter neonazistischer oder anderer rassistischer Inhalte im Internet plötzlich anfangen, ihre Seiten in die "Gewalt"-Sparte des ICRA-Systems einzuordnen – so weit geht der Glaube an das Gute im Menschen beim europäischen Direktor der Selbstregulierungsinitiative denn doch nicht. Hier baut Hoff auf die Bewertungen von Drittparteien wie der Anti Defamation League.

Der neue Vorstoß der Bertelsmann Stiftung und der ICRA lässt so nach wie vor viele Fragen offen. "Selbst wenn die Teilnahme an einem solchen System dem Inhalteanbieter komplett freigestellt ist, könnte die Marktmacht großer Portale, die den entsprechenden Filter aufschalten, faktisch einer Zensur gleichkommen", befürchtete Sierk Hamann, Mitbegründer der Netzinitiative Freedom For Links, schon im vergangenen Jahr in einem Gespräch mit Telepolis (Die Bundesregierung rät: Schalten Sie gelegentlich Ihren Filter ab!). An diesem Einwand ändert das Redesign der ICRA-Plattform nichts.

Bedenklich stimmt Beobachter zudem, dass die Firma mit Hilfe von Bertelsmann-Geldern die eigentliche Blocker-Software beim Mitgliedsunternehmen Microsoft in Redmond entwickeln lässt. Denn die Firma Bill Gates‘ ist bekannt dafür, "Innovationen" gleich in ihre Betriebssysteme zu integrieren. Und ist die Infrastruktur fürs Filtern erst einmal auf zahlreichen Desktops implementiert, beginnt "die Ära der als normal verstandenen Massenzensur", wie Simon Davies von Privacy International befürchtet.

Treffen Filter-Plug-ins nur die Dumm-User?

Entrüstet zeigte sich auf der Governance-Konferenz auch der Berliner Journalist und "Free-Speech"-Advokat Burkhart Schröder. Er wies unter dem Beifall zahlreicher Teilnehmer darauf hin, dass das "Bertelsmann-Plug-in" nur die "Doofen und die DAUs" – die dümmsten anzunehmenden User – treffe, "die bei AOL surfen." Alle anderen Nutzer wüssten längst, wie einfach sich Filter umgehen ließen.

Marcel Machill, Projektleiter Medienpolitik der Bertelsmann Stiftung, verteidigte das ICRA-System mit dem Argument, dass "Sechs- bis Achtjährige" vor schädlichen Materialien geschützt werden müssten und selbst noch nicht in der Lage seien, sich nur gewünschte Inhalte aus dem Netz zu fischen. Von einem "Bertelsmann-Plug-in" will der Filter-Befürworter zudem nichts wissen, da sich die ICRA gerade durch die Internationalität ihrer Sponsoren und Mitglieder auszeichne.

Unterstützung erhielt Machill von Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Obwohl die SPD-Politikerin keine große Freundin von Selbstkontrollmechanismen ist, begrüßte sie während der Tagung erneut ausdrücklich, "dass die Industrie Filter entwickelt" (Justizministerin hält Selbstregulierung im Netz für unzureichend). In ICRA sieht Däubler-Gmelin einen "viel versprechenden Ansatz" für die "Koregulierung", für die sich die Bertelsmann Stiftung stark macht.