Wer regiert das Internet?
Kontroverse Debatten um die ICANN und die Zukunft neuer Formen der Medienregulierung
Die Bertelsmann Stiftung hat Benchmarks für die (Ko-)Regulierung des globalen Internets aufgestellt. Nationale Regierungsvertreter sollen demnach nur noch ein vermindertes Mitspracherecht bei der Lösung von Netzproblemen haben. Wie alternative Verfahren und Institutionen ihre demokratische Legitimation erfahren sollen, ist allerdings noch ungeklärt. Der transatlantische Schlagabtausch rund um die Verwalterin des virtuellen Namensraumes ICANN zeigt, dass (inter-)kulturelle Meinungsverschiedenheiten quer zu allen Lagern und Fraktionen verlaufen.
Die Debatten rund um die (Selbst-) Regulierung des Internets begleiten das Medium seit dem Boom des World Wide Web in schönster Regelmäßigkeit. Da die Zahl der Menschen, die das Internet in ihren Alltag integrieren und es als Informations-, Vergnügungs-, Diskussions- oder Handelsplattform ansehen, immer größer wird, steigen auch die Begehrlichkeiten nationaler Regierungen oder internationaler Organisationen sowie die Bemühungen von Konzernen, den Nutzern einen bestimmten Way-of-Netlife vorzuschreiben. Die "Unabhängigkeitserklärung" für den Cyberspace, mit der John Perry Barlow den alten Mächten die virtuelle Tür zeigen wollte, ist längst Geschichte. Richter, Konzernchefs oder Regierungsmitglieder sind dabei, das Netz in "geordnete Bahnen" zu bringen und den Gesetzen der Offline-Welt zu unterwerfen.
Doch die Frage nach einem passenden Regulierungsrahmen für das Internet ist längst noch nicht beantwortet. Neu diskutiert wurde sie nun am Freitag auf der Konferenz Internet Governance, zu der die Bertelsmann Stiftung sowie die Friedrich Ebert Stiftung Experten aus Europa und den USA nach Berlin geladen hatten. Im Vordergrund stand dabei mit der Kritik der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) die Urinstanz eines neuartigen Regulierungsgremiums rund ums Netz. Aber auch Vertreter der Internet-Industrie präsentierten ihre Erfahrungen mit der Selbstverpflichtungen anhand von "Codes of Conduct". Als weiteres Lösungsmodell präsentierte die Bertelsmann Stiftung eines ihrer liebsten Kinder: die Internet Content Rating Association (ICRA), die eine universell einsetzbare Filterplattform in Zusammenarbeit mit zahlreichen Firmen und Providern entwickelt.
Benchmarks für die Netzregulierung
Im Vorfeld der Tagung hatten die Gütersloher bereits die Eingaben von sieben Professoren, Forschern und Leitern von Non Governmental Organisations (NGOs) zu einem 25 Seiten langen Empfehlungskatalog (PDF-Datei) verarbeitet. Ausgangspunkt des Papiers ist die Feststellung, dass das Internet ein "globales, öffentliches Gut" ist, das erhebliche gesellschaftliche Relevanz besitzt. Die Autoren betonen in der Präambel:
"So wie der Schutz der Weltmeere oder der Erdatmosphäre Aufgabe einer globalen Politik und globaler Regulierung ist, so ist das globale öffentliche Gut 'Internet' wegen seiner Bedeutung für kommerzielle und nicht-kommerzielle Zwecke, insbesondere für die globale Kommunikation, besonders schutzbedürftig."
Um den gesellschaftlichen Nutzen des Internets abzuschöpfen, ist für die Bertelsmann Stiftung ein Mindestmaß an Regulierung nötig. Beispielsweise müssten inkompatible Insellösungen schon auf der technischen Ebene vermieden und ein diskriminierungsfreier Zugang zum Netz gesichert werden. "Das Internet ist bei einer Größe angekommen, die einige grundsätzliche Regeln erfordert", sagte Ingrid Hamm, die Medienbeauftragte der Stiftung, bei der Eröffnung der Konferenz. Dabei sei aber zu bedenken, dass das Netz supranational angelegt sei und die unterschiedlichen Kulturen zahlreicher Länder und Kontinente berücksichtigt werden müssten. So stehe etwa in Europa der "Schutz vor Unerwünschtem" wie rassistischen Äußerungen im Vordergrund, während in den USA "free speech über allem und jedem" regiere und nichts schlimmer empfunden würde als Zensur.
Aufgrund dieser Vorüberlegungen hat die Bertelsmann Stiftung zusammen mit ihren Sachverständigen sieben Designprinzipien für die Internet-Regulierung aufgestellt. Gefordert wird ein globaler Ansatz, der nicht notwendigerweise von staatlicher Seite ausgehen oder gar institutionalisiert werden müsse (Bottom-up statt Top-down). Die Verfahren sollten zudem verschiedene Interessengruppen berücksichtigen, die Stabilität des Internet gewährleisten, dynamisch und flexibel sowie "absolut transparent" sein, so Hamm. Last not least dürften die Mechanismen oder Organisationen nicht überfrachtet werden, sondern müssten mit einem klaren und eindeutigen Mandat ausgestattet sein.
Klassische Ansätze der Medienpolitik stellt das Netz demnach in Frage. "Die Regulierung soll regierungsfern erfolgen", betonte Hamm in ihrem Vortrag. Sonst verlaufe der Prozess zu langsam und sei damit letztlich kontraproduktiv. Das bedeute aber nicht, so die Vertreterin der Bertelsmann Stiftung, dass Regulierungsinstanzen vollkommen ohne demokratische Legitimation arbeiten dürften. Die Empfehlungen sprechen daher von der Notwendigkeit zur "Koregulierung", also zur "globalen Kooperation zwischen Regierungen, Interessenvertretern und Internetnutzern".
Modellfall ICANN?
Den ersten "Ernstfall" einer supranationalen Regulierungsinstanz für das Internet bildet nach allgemeinem Erachten die ICANN. Ziel der Konstruktion der Netzverwaltung war es, so die Verfasser der Empfehlungen, "Legitimierung durch die dauerhafte und breit angelegte Beteiligung" von Usern, Interessengruppen und Regierungsinstitutionen an den Entscheidungen von ICANN zu erhalten. Obwohl sich das Gremium konkret "nur" um die Kontrolle des Namensraums des Internets kümmert, sieht die Bertelsmann Stiftung in ihm einen - zumindest theoretisch - auch auf andere Regulierungsbereiche anzuwendenden Modellfall: "Die Art und Weise, wie Regulierungs- und Koordinationsaufgaben für das Internet institutionell verankert und auf die Grundlage eines konkreten Regelwerkes gesetzt wurden," heißt es in dem Dokument, sei auf viele "Internet-typische" Probleme wie den Schutz der Privatsphäre oder die Aufrechterhaltung des Informationsflusses im Cyberspace übertragbar.
Als gelungenes Beispiel für partizipative Koregulierung über Grenzen hinweg - das sind sich auch die Strategen in Gütersloh bewusst - bezeichnet die ICANN gerade in Europa allerdings kaum noch ein Beobachter. Denn während sich die US-Regierung darüber freuen kann, die Verwaltung der Domain-Adressen privatisiert und in die Hände einer global agierenden Unternehmung gelegt zu haben, ohne jedoch die Oberaufsicht über das zentrale Adressverzeichnis des Internet aus den Händen gegeben zu haben, kritisieren Unternehmer und Politiker in Europa die Situation immer offener. Der Tenor dabei lautet, dass die Netzbehörde im Großen und Ganzen ein Instrument der US-Regierung und nicht ausreichend legitimiert sei, und ihre Mission über rein technische Fragen weit hinausgehe.
Die Amerikaner haben die ICANN gut im Griff
Für Michael Schneider beispielsweise beginnt die ICANN gerade den Status eines Beispiels "nicht funktionierender Selbstregulierung" zu erlangen. Der Anwalt ist neben seinen zahlreichen Verpflichtungen in internationalen Organisationen auch Mitglied im Names Council der ICANN, das eines der wichtigsten Beratungsforen im ICANN-Pfeiler der Domain Name Supporting Organisation (DNSO) darstellt. Seiner Meinung nach hat das Gremium eine kaum mehr zu kontrollierende Eigendynamik entfaltet, die sich negativ auf das Arbeitsklima auswirke. Die USA haben laut Schneider die Strukturen der Netzverwaltung "voll im Griff". So beschäftige die ICANN nur einen einzigen nicht-amerikanischen Mitarbeiter. Außerdem übe der Justiziar des Unternehmens - natürlich ein US-Amerikaner - "mehr Einfluss aus, als er eigentlich haben sollte."
Wer die ICANN als "wahrhaft international" bezeichnet, "liegt falsch", befand in Berlin auch Detlef Eckert, Leiter der Grundsatzabteilung der Generaldirektion Informationsgesellschaft der Europäischen Kommission. Der Volkswirtschaftler sieht bisher zwar "keine massiven Wettbewerbsnachteile" durch die US-Dominanz bei der ICANN, beklagte allerdings das "nicht ausgewogene" Kräfteverhältnis. Das beruht für Ahmed Risk, Herausgeber von Health Informatics Europe und Mitglied des G8-Programms zur Stärkung der Global Information Society, allerdings auf historischen Entwicklungen. Die USA haben seiner Ansicht nach im Bereich Internet allgemein die Nase vorn, da sie seit Anbeginn des Mediums die Infrastrukturen und Inhalte bereitgestellt hatten. Der einzige Weg, dies zu ändern, sei ein größeres Investment in eben diese Netzbereiche.
Hans Kraaijenbrink, einer der am längsten amtierenden ICANN-Direktoren, verwies die Berichte von der permanenten Bevormundung der ICANN durch die US-Regierung dagegen ins Reich der Legenden. "Ich fühle nicht ständig einen heißen Atem in meinem Nacken", sagte der Niederländer, der als Lobbyist für die Telekommunikationsgesellschaft KPN in Brüssel sitzt. Auch die ständige Kritik an dem Netzgremium konnte er nicht nachvollziehen. "Was wir gelernt haben, ist, dass die Selbstverwaltung möglich ist", sagte Kraaijenbrink, für den ICANN die "transparenteste Organisation auf der ganzen Welt ist".
Alternativer Root-Server für .eu?
Der von den europäischen Netzbürgern gewählte ICANN-Direktor Andy Müller-Maguhn hielt auf der Governance-Konferenz dagegen mit seiner Schelte, die er auch auf seine Kollegen im Aufsichtsrat der Netzinstanz bezog, nicht zurück. Wie der Entschluss zur Verlängerung der Verwaltungslizenz über die lukrative .com-Domain zugunsten der kalifornischen Firma Verisign/Network Solutions gezeigt habe, würden im Board "knallhart" die Interessen der amerikanischen Wirtschaft und der US-Regierung vertreten.
Weiterhin beunruhigt den Hacker vom Chaos Computer Club (CCC), dass die Markenrechtslobby über die "IP Constituency" der DNSO nach wie vor "Imperialismus" im Kulturraum Internet betreibe. So könne beispielsweise Greenpeace nach Intervention der Markenrechtsvertreter nicht mehr unter der Adresse www.oil-of-elf.de über die Praktiken der Erdöl fördernden Industrie berichten.
Dem Abgesandten der EU-Kommission legte Müller-Maguhn nahe, am besten gleich einen alternativen Namensraum und Root-Server einzuführen. Unabhängig davon, ob die ICANN die von vielen Politikern in Europa gewünschte Top Level Domain .eu nun einführen würde, sollte diese ins Auge gefasste Erweiterung des Domain-Namen-Systems "technisch so gestaltet werden, dass sie unabhängig von ICANN ist". Notfalls müsste die Kommission dafür einen alternativen Root-Server aufbauen. Bisher werden alle Anfragen nach Webadressen letztlich vom A-Root-Server in Virginia an ihr Ziel geleitet, der von Verisign gewartet wird.
Bundesjustizministerin warnt vor Überlastung von ICANN und anderen Selbstkontroll-Initiativen
Deutsche Politiker und Regierungsbeamte sind sich in der Einschätzung des ICANN-Modells derweil noch gänzlich uneins. Es sei zu früh, um über den Erfolg der Selbstverwaltung zu urteilen, gab Michael Leibrand, Vertreter der Bundesregierung im Regierungsbeirat der Netzbehörde, zu Bedenken. "Ihre eigentliche Aufgabe hat ICANN bisher zu 100 Prozent erfüllt", lobte der Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums. Es sei ihm nicht bekannt, dass am Root-Server etwas falsch gelaufen wäre. Auch Jörg Tauss, Beauftragter für Neue Medien der SPD-Bundestagsfraktion, hält die ICANN für einen fortsetzungswürdigen Versuch, in einer globalisierten Welt einen demokratischen Regulierungsansatz zu finden. Im Gegensatz zur kritisch beäugten Netzverwaltung habe dagegen bei der Welthandelsorganisation (WTO) noch niemand gefragt, "wie demokratisch sie überhaupt ist."
Tauss' Parteifreundin Herta Däubler-Gmelin wollte sich dagegen weder mit ICANN noch mit dem Modell der Selbstregulierung generell anfreunden. Die Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung, die der Bundesjustizministerin vorab vorlagen, hatten die SPD-Politikerin in Rage gebracht. Laufen sie doch ihrer immer wieder vertretenen Auffassung zuwider, dass sich traditionelle Regulierungsmodelle Eins zu Eins auf das Netz übertragen lassen ("Online gleich offline").
In ihrem Konferenzbeitrag kam die Ministerin daher schnell zur Sache: "Wohl keiner der Anwesenden hier wird glauben, alle Anliegen könnten durch eine globale Form der Internet-Regulierung - etwa durch die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers - angemessen aufgegriffen und in legitimer Weise gelöst werden", glaubte sie die Gedanken der Versammelten lesen zu können. "Neue Probleme im Internet durch Selbstregulierung im ICANN-Rahmen bewältigen zu wollen, wäre mit Sicherheit eine Überforderung und zum Scheitern verurteilt."
Däubler-Gmelin warnte daher nicht nur vor einer "Überlastung von ICANN", sondern auch von anderen selbstregulativen Institutionen allgemein. Die offenen Fragen, die das Internet mit sich bringe, richten sich ihrer Meinung nach vor allem an die traditionellen Politikmacher, da deren Macht im Gegensatz zu Organisationen wie ICANN "auf demokratischer Legitimation und auf ihrer Bindung an den Verfassungs-Konsens und an Gesetz und Recht beruht."
Ist das Experiment der Legitimationsbeschaffung durch Online-Wahlen gescheitert?
Argumentative Schützenhilfe erhielt die Bundesjustizministerin überraschenderweise von Claus Leggewie, der eigentlich spätestens nach seiner Initiative im Rahmen der Münchner Erklärung zur Netzpolitik als großer Verfechter der Cyberdemokratie galt (Internet & Politik und die "Münchner Erklärung"). Der Giessener Politikwissenschaftler erklärte das Experiment der ersten globalen Online-Wahlen zum ICANN-Aufsichtsrat vom vergangenen Herbst schlicht für gescheitert (The Party is Over). Zu groß seien die technischen Pannen gewesen, zu klein der Anteil von Wählern aus Kontinenten wie Afrika, um nun von demokratisch legitimierten ICANN-Direktoren zu sprechen.
Der von den europäischen Surfern gekürte Müller-Maguhn hatte die Wahl allerdings schon vor der Entscheidung als reinen "Legitimations-Simulationsversuch" dargestellt. Ein fahler Nachgeschmack sei geblieben, sagte der Hacker kurz nach der Wahl in einem Gespräch mit Telepolis (Frischer Wind bei den Netzarchitekten). Vom Gedanken des virtuellen Urnengangs als Möglichkeit zur Einbeziehung der Nutzer in das ICANN-Konstrukt wollte sich Müller-Maguhn allerdings trotzdem nicht vollkommen verabschieden. Die Entwicklung eines klareren und technisch ausgereifteren Wahlverfahrens sei aber unerlässlich für die Zukunft.