Fischen im Trüben
Hans Ulrich Gumbrecht sucht für die Geisteswissenschaften nach Hermeneutik und Dekonstruktivismus nach einem anderen Bezug zur Welt und findet sie "Momenten der Intensität"
Begriffe wie "Substanz", "Identität" oder "Realität" haben keinen guten Leumund mehr, seit es dem Poststrukturalismus gelungen ist, die Geisteswissenschaften im Handstreich zu übernehmen. Fortan muss jeder, der innerhalb der Zunft Karriere machen will, seine Forschung in historische Kontexte stellen oder sie durch die Brille der eigenen Kultur lesen, sie als soziale Konstruktion ausweisen oder der Beobachtung durch andere Beobachter aussetzen. Wer dennoch, bar aller Vernunft, weiter mit Wahrheiten und Gewissheiten operiert, läuft Gefahr, von Kollegen als philosophisch naiv und rückständig angesehen zu werden und überdies einen "schlechten intellektuellen Geschmack" zu haben.
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe,
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe,
und hinter tausend Stäben keine Welt...::Rainer Maria Rilke, Der Panther
Ausgeleiert und müde
Auf Hans Ulrich Gumbrecht trifft weder das eine noch das andere zu. Schließlich hat er alle modischen Wendungen, die der Diskurs der letzten Jahrzehnte genommen hat, aktiv und an vorderster Front mitgemacht. Erst in Dubrovnik, als es galt, Brücken zwischen Textwissenschaft und Praxisphilosophie zu bauen und dem Fach neue Themen- und Forschungsfelder zu erschließen; dann in Siegen, als es darum ging, dem damaligen Wissenschaftsminister Möllemann die Einrichtung des ersten Postgraduierten-Kollegs abzuschwatzen; und schließlich in Stanford, wo er mittlerweile diesseits der Frontstellung von "harter" und "weicher" Wissenschaft nach einem Theorie-Jenseits sucht.
Dass sich nach dieser Zeit eine gewisse Erschöpfung und Theoriemüdigkeit einstellt, ist nur verständlich. Vor allem, wenn man im Plausch mit Kollegen, auf Kongressen oder den vielen Vortragsreisen rund um den Erdball erlebt, wie ewig die gleiche Semantik wiedergekäut wird, dieselben Rituale abgehalten werden und der Theoriefortschritt ausgerechnet von jenen blockiert wird, die den Muff und Mief der Achtundsechziger einst aus den Universitäten vertrieben haben, das neu eroberte Terrain aber mit derselben intellektuellen Borniertheit und Hartnäckigkeit wie ihre Vorgänger verteidigen.
Dann kann es schon passieren, dass einem der ständige Verweis, dass alles Text und/oder Konstruktion sei, dass Sinn und Bedeutung niemals eindeutig festlägen und man sich als Leser oder Beobachter auf eine nicht enden wollende Schleife der Interpretation einzurichten habe, ziemlich "ausgeleiert" (Th. Kapielski) vorkommt und der Wunsch nach einem komplexeren Verhältnis zur Welt aufkommt, einem, das mit den Dingen dieser Welt im gleichen Rhythmus schwingt und den Weltverlust, den die Krise der Repräsentation und die Beobachtung zweiter Ordnung festgeschrieben haben, kompensiert.
Überwältigt und ergriffen
Sepp Gumbrecht, sichtlich genervt ob des poststrukturalistischen Getues und überdrüssig ihrer abgeschmackten Sprachspiele, scheint mittlerweile fündig geworden zu sein. Auf den Spuren Karl Heinz Bohrers wandelnd, hat er diesen anderen Bezug zur Welt "diesseits der Hermeneutik" in der "Produktion von Präsenz" entdeckt. Um ihm nachzueifern, muss sich der Beobachter nur vom Popanz des Sinns lösen und sich den sinnlichen Effekten aussetzen, die Kunstwerke, Landschaften und andere Phänomene der Gegenwartskultur in ihm hervorrufen.
Aussetzen ist hier durchaus wörtlich zu verstehen, da Dinge, Phänomene und Ereignisse nicht nur in Diskurse oder Codes eingebettet sind und den Beobachter kraft ihrer Semantik und Symbolik überzeugen. Mehr als das, und noch bevor jede diskursive, soziale oder kulturelle Brechung stattfindet, ziehen sie ihn nämlich durch ihre schlichte Präsenz in ihren Bann. Aus heiterem Himmel, ohne dass er genau wüsste warum, kann der Beobachter plötzlich von "Momenten der Intensität" entflammt, überwältigt und aufgezehrt werden, von Momenten, die ihn in höchste Verzückung oder Ekstase versetzen, ihm unter Umständen sogar Tränen der Rührung in die Augen treiben und ihn sprachlos zurück lassen. Auf Nachfragen bleibt in solchen Augenblicken meist nur noch ein Stammeln oder mühseliges Artikulieren dessen, was man da gerade erlebt oder empfunden hat.
Zustoßen kann das dem Beobachter beim Hören eines Stückes von Mozart, dem Anblick eines Bauwerkes von Gaudi oder dem Aufschlagen des neuen Buches von Robbie Williams; Gleiches kann ihm aber auch beim Betrachten der wohlgeformten Beine, Lippen oder Brüste einer schönen Frau, beim Genuss eines gelungenen Dribblings von Cristiano Ronaldo oder dem Auftritt des kränkelnden Papst Johannes Paul widerfahren, beim Geruch eines köstlichen Tartuffo-Gerichts und dem Vernehmen der Stimme von Patrick Stanley Morrissey ebenso wie beim Ergehen einer satten Bergwiese oder dem Kauf eines Anzugs von Jean-Paul Gaultier.
Bewegen und greifen
Schon die willkürliche Auswahl und Zusammenstellung solcher Augenblicke der Rührung zeigt, dass davon alle Bereiche und Aspekte des Lebens betroffen sind, die Massenkultur genauso wie die Hochkultur. Weder ist das Überwältigt-, Hingerissen- oder Gefesseltwerden an ein bestimmtes Genre oder ein spezielles Milieu geknüpft, noch ist es irgendwie von der Bildung oder der Intelligenz des Beobachters abhängig. Erleben tun nun mal alle, gleich ob sie reich oder arm, alt oder jung, dumm oder gebildet sind. Diskurse und Kulturen, Schichten und Geografien sind hier von minderer Bedeutung. Bedeutender als das ist da schon die Stimmungslage, die Biografie oder das Milieu des Aficinados; und bedeutender ist auch, dass all das, was heftige Gemütsregungen hervorruft, greif- oder spürbar sein oder sich zumindest in Reichweite unseres Körpers befinden muss. Weil die physische Nähe von Dingen wichtig ist, haben Momente der Intensität darum etwas mit leiblicher Präsenz zu tun, mit räumlicher Anwesenheit und Bewegungen im Raum.
Beides dürfte innerhalb der Zunft zu einigen Irritationen führen. Zumal kaum zu erwarten ist, dass ein leidenschaftlicher Operngänger beim Hören des luziden Gitarrenspiels von Robin Proper-Sheppard von heftigen Gefühlswallungen übermannt wird und feuchte Augen bekommt. Dass etwa ein Joachim Kaiser zu einem Konzert von The Hives geht, beim Gesang von Pelle Almquist in emotionalen Ausnahmezustand gerät und sich im Tanz die Kleider vom Leibe reißt, kann man sich nicht vorstellen; und dass einem Fan der Südkurve, der beim Sturmlauf seines Lieblingsspielers in trunkenen Siegestaumel verfällt, ähnliche Gefühle beim Hören eines Gedicht von Durs Grünbein oder Garcia Lorca widerfahren, ebenso nicht.
Der Vermittlung intensiver Gefühle, die Gumbrecht gegenwärtig an seinen StudentInnen erprobt, um dem Fach neue Möglichkeiten zu erschließen, dürfte darum von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein. Eigenes Erleben ist nicht von hier nach dort transferierbar. Was den einen in höchste Verzückung versetzt, führt beim anderen häufig zu gähnender Leere oder Langeweile.
Das liegt einfach daran, dass Gemütsbewegungen extrem von der Einstellung, vom Geschmack und der Mentalität des Betroffenen abhängig sind. Einen Spielzug finde ich meist dann besonders toll, wenn ich das Team oder den Spieler, das oder der ihn inszeniert, heiß und innig liebe. Bin ich hingegen Hasser des FC Bayern, wird mich ein genialer Steilpass von Michael Ballack, ein Freistoßtor von Mehmet Scholl oder der kühle Abstauber von Roy Makaay gleichgültig lassen.
Andererseits bleibt völlig unklar, wie es sich mit der Greifbarkeit bzw. räumlichen Präsenz von Texten, Arien oder Formeln verhält oder wie sie zu verstehen sind. Die Materialität als solche existiert nämlich in den allermeisten Fällen nur im Kopf des Beobachters, als Hirngespinst oder Heimsuchung. Die Metrik eines Gedichts, die Eleganz einer Kadenz oder die fixen Hände von Glenn Gould sind für den Hörer oder Leser weder materiell greifbar, noch sind sie materiell im Raum präsent.
Was präsent ist, sind Stimmen und Klänge, Harmonien und Rhythmen, Bilder und Kommentare, die von einem Redner, Sänger oder Moderator stammen oder von einem Band oder einem CD-Player kommen. Die dazugehörigen Realien hausen häufig irgendwo, entweder auf den Festplatten eines Servers, im Archiv eines Museums oder im Grab eines verfallenen Friedhofes. Von Materialitäten bleiben, wenn man nicht unmittelbar im Stadion oder bei einem Konzert direkt präsent ist, nur Eindrücke und Effekte, die von Buchstaben und Schallwellen, Zeichen und Bildern hervorgerufen werden.
Erleben und manipulieren
Stellt man diese medientechnische Brechung in Rechnung, dann ist man vom ästhetischen Wahrnehmen und Erleben flugs und fast unmerklich bei den Techniken und Strategien gelandet, die Gemeinschaften erfunden haben, um Individuen, Gruppen und Stämme für politische oder andere Zwecke zu vereinnahmen, bei Ritualen und Zeremonien, Spektakeln und Konzerten, Messen und Umzügen, Demonstrationen und Happenings. All das bleibt im Buch außen vor und spielt in Gumbrechts Präsenzeffekten keine Rolle.
Ihn interessiert nicht, wie ein Staat, eine Regierung oder ein Terror-Netzwerk patriotische oder Hassgefühle bei Bürgern oder Mitgliedern schürt und damit leb- oder erlebbar macht, als vielmehr das heftige und intensive Erleben des Einzelnen. Sicherlich sind die Intensitäten, die ein Selbstmordbomber erlebt, kurz bevor er die Zündschnur am Sprenggürtel reißt, etwas anderes als das Glück verheißende Versprechen, bald im Kreis vieler wunderschöner Jungfrauen zu weilen. Beides verursacht zwar heftige Gemütsbewegungen, ist aber voneinander nur unter der Hinnahme von Wahrnehmungs- und Denkverlusten zu trennen.
Karl Marx, in der Dialektik von Wesen und Erscheinung geschult, hat das bekanntlich am Doppelcharakter der Ware vorexerziert und sie uns als "ein sinnlich übersinnliches Ding" vorgestellt, das "voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und "theologischer Macken" ist. Wird das, was sie verkörpert und zeigt, allein der Wahrnehmung und dem Erleben des Betrachters unterstellt, verschwindet dieser Doppelcharakter, nämlich ein Gebrauchswert zu sein, in dem sich gleichzeitig ein gesellschaftliches Verhältnis widerspiegelt. Sieht man davon ab, verwandelt sich alles in ein sinnliches Ding und der Reichtum kapitalistischer Gesellschaften erscheint tatsächlich als "ungeheure Warensammlung". Die Bürger der ehemaligen DDR können davon ein Lied singen.
Gleiches lässt sich von der Macht behaupten. Auch sie erscheint auf dem Bildschirm bei Sabine Christiansen, beim republikanischen Konvent in New York oder beim politischen Aschermittwoch in Passau anders, als sie sich letztlich gibt. Das eine ist Erlebnis-Politik, sie ist da, um politische Stimmungen, Heimatgefühle und Aufgehobensein erleb- und greifbar zu haben; das andere ist Geheimpolitik, die von Beratern, Geheimräten und Denkzirkeln in Hinterzimmern und Oval Offices abgesprochen und geplant wird. Auch sie findet diesseits der Hermeneutik, aber jenseits der Wahrnehmung statt und scheut die Beobachtung durch andere.
Dieser Unterschied kommt in Gumbrechts Buch ebenso zu kurz wie das gemeinschaftliche Erleben und der kollektive Rausch. Der Aficinado, der nur noch Erleben will, weil er leben will, sollte sich daher vorsehen. Nicht, dass er Opfer seiner eigenen Ausnahmezustände wird und den gesellschaftlichen oder politischen Ausnahmezustand glatt verschläft. Hans Ulrich Gumbrecht kennt das, auch er ist Opfer eines solchen, medial geschürten Patriotismus geworden (Intellektuellen-Kitsch à la americaine). Panem und Circensis, Brot und Spiele, haben auf dieser Klaviatur der Gefühle immer schon hervorragend funktioniert.
Man braucht daher schon eine gehörige Portion Skepsis oder Ideologiekritik in der Hinterhand, um zwischen den einzelnen Formen oder Angeboten des Erlebens, zwischen Manipulation und Verführung, Stimulierung und Simulierung, Erzeugen und Erleben zu unterscheiden. Sonst kann es einem passieren, dass man vor lauter Bäumen bald den Wald nicht mehr sieht. Das mag dann auf Kosten des Genusses und der Verzückung gehen. Doch wie schon Adorno wusste, lachen den Gast beim Servieren von Tartuffo und Rotwein zu beschwingter Mozartmusik nicht nur die schönen Rehaugen der Kellnerin an, sondern auch der Warenfetisch.
Anwesend und abwesend
Trotz dieser Einwände und Vorbehalte liest sich das Buch mit Gewinn und, wie in meinem Fall, mit wachsender Begeisterung, sieht man mal vom bisweilen allzu prätentiösen Stil des Autors ab. Von einem "außergewöhnlichen" oder gar "bahnbrechenden Werk", von dem aus "tausend grelle Blitze vom Geisteshimmel auf die Eroberfläche projiziert werden", wie manch junger Popkulturalist vorschnell schließt, kann man jedoch nicht sprechen. Und von einer "poststrukturalistischen Warte" aus argumentieren Autor und Buch, wie andere vermeinen, sicherlich auch nicht. Weder will Gumbrecht den Begriff der Präsenz poststrukturalistisch neu besetzen, noch wirft er von da aus einen Blick auf die fernere wie jüngere Philosophiegeschichte.
Genau betrachtet bricht es nämlich mit dem geisteswissenschaftlichen Milieu der letzten beiden Jahrzehnte, dem "linguistic turn" und der soziologischen Kontingenzkultur. Stattdessen nimmt es vormoderne und mittelalterliche Fäden wieder auf, wie sie einst in der katholischen Transsubstantiationslehre selbstverständlich waren und heute noch sind. Bekanntlich werden dort durch das magische Ritual der Wandlung der räumlich wie zeitlich entfernte Leib und das Blut Christi für die Gläubigen jedes Mal präsent gemacht und intensiviert. Ein gläubiger Katholik isst Gott und trinkt dessen Blut. Wein und Hostie symbolisieren nicht, sie sind Leib und Blut.
Erst durch den Protestantismus und das calvinistische Verständnis des Gottesdienstes als Gedenkakt, ist die katholische Vorstellung von der Präsenz des Leibes zu einem bloßen Symbol und Bedeutungsakt geworden. Seitdem sind Brot und Wein nur noch "Formen" von Leib und Blut, sie stehen für anderes und sind substantiell nicht mehr greifbar.
Erleben und hervorbringen
Weder lässt das Buch den verdrängten Körper wiederauferstehen (wie in der Berliner Historischen Anthropologie), noch wendet es sich gegen eine heimliche Entmaterialisierung der Welt. Zumal die These von der Entkörperlichung der Kultur überhaupt nicht stimmt. Gerade die modischen Diskurse sind vom Körper und dessen Möglichkeiten fasziniert und richten Postgraduierten-Kollege ein, um ihn zu studieren; andererseits ist der Körper im Begriff der "Performance" längst poststrukturalistisch vereinnahmt worden. So wie er etwa von Erika Fischer-Lichte gebraucht wird, umfasst er nicht nur die leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern, sondern auch die performative Hervorbringung von Materialität sowie die Emergenz von Sinn und Bedeutungen. Gerade an ihm ist die Klimax von Leiblichkeitsdiskursen zu beobachten, die die Unverfügbarkeit der Präsenz mit Syllogismen voll stopfen und entern will, meist um den Preis der Unverständlichkeit.
Genau das aber will Gumbrecht nicht. Überdrüssig des modischen Getues und Gehabes, das Systemsoziologen und Dekonstruktivisten, Medienarchäologen und Postmodernen zeigen, geht es ihm nicht um das Hervorbringen, sondern allein um das Erleben, nicht um die Bedingungen des Soseins, sondern um das Phänomen des Daseins. Auch wenn er im Buch, wohl um den Streit mit Freunden und Kollegen nicht völlig eskalieren zu lassen, eher von "ergänzen" spricht, geht es Gumbrecht nicht um eine Erweiterung des Begriffsarsenals, sondern um dessen Austausch, darum, "der Herrschaft des Zeichens eine Ende zu setzen" und den Dingen ihre Bodenständigkeit und Erdverbundenheit zurückzugeben.
Mit dieser "neuen Seinskultur", die in Martin Heidegger seinen kongenialen Fürsprecher und heimlichen Einflüsterer findet, fischt Gumbrecht zwar im Trüben (W. Benjamin), setzt sich aber auch über alle modischen Sinn- und Kontingenzkulturen hinweg, die überall und allerorten nur noch Texte, Macht und Konstruktionen am Werk sehen und sich darum längst im Meer der Zeichen und Bilder, Differenzen und Möglichkeiten verlaufen.
Angesichts des Status Quo, der derzeit an den geisteswissenschaftlichen Instituten herrscht, ist dieser Vorschlag mutig und riskant. Den heutigen Mainstream mit "Unzeitgemäßen" zu attackieren, kann nur jemand machen, der auf Karrieren und Schmeicheleien nicht mehr angewiesen ist und daher, wie sein Pendant Friedrich Nietzsche, jenseits von gut und böse operieren kann.
"Riskful thinking" nennt folglich Gumbrecht diese Art, sich den Dingen zu nähern. Kollegen und Zeitgenossen könnten davon lernen und profitieren. Ihnen wäre so viel Mut zum Risiko zu wünschen. Doch leider haben sie sich diese längst hinter ihren einmal erworbenen Überzeugungen, Prinzipien und Weltbetrachtung verbarrikadiert und es sich dort genau so bequem gemacht wie ein Beamter an seinem unkündbaren Arbeitsplatz.
...Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.::Rainer Maria Rilke, Der Panther
Demütig und hingebungsvoll
In einem haben die Kritiker aber sicher Recht. Ohne Zweifel markiert das Buch einen starken Hang zum Religiösen. Statt von Mobilmachung spricht es von Gelassenheit; statt hektische Betriebsamkeit artikuliert es den Wunsch, einfach sein und da sein zu wollen; und statt ständig den neuen Wendungen des Zeitgeistes nachzuhecheln, formuliert es den intensiven Wunsch, "von der permanenten Verpflichtung zur Bewegung und Veränderung" erlöst zu werden.
Dieses Plädoyer fürs "innerweltliche Dasein", für "Gelassenheit" und "Erlösung" hat dazu geführt, dass man Hans Ulrich Gumbrecht als Konvertiten beschimpft und als "religiösen Denker" abgestempelt hat. Doch wo ist das Problem? Es mag durchaus sein, dass da ein vom Alter diktierter Konservatismus grassiert. Doch haben wir es hier auch mit einem Verrat zu tun, wie Gumbrecht befürchtet, einem, der sich am Vermächtnis der Post-Achtundsechziger vergeht?
Ich meine nein! Viele Meisterdenker, von Nietzsche über Bataille, Blanchot und Klossowski bis hin zu Adorno und Derrida sind im Grunde ihres Herzens religiöse Denker gewesen und/oder spätestens im Alter dazu geworden. Im Denken und Räsonnieren haben sie neben der Verpflichtung zum Wahr-Sagen auch immer und zuallererst das Leben gesucht.
Religiosität hat zunächst ja nichts mit Neuheidentum oder konfessioneller Bindung zu tun. Eher hat sie etwas mit Demut und Ehrfurcht, Hingabe und Achtung zu tun, mit Werten also, die heutzutage auch einen schlechten Leumund haben. Ihre Berechtigung steht aber außer Frage und wird im privaten Kreis auch nie bestritten. Nur öffentlich schweigt man sich darüber lieber aus. Schließlich will man nicht als Weichei, heimlicher Katholik oder rechter Intellektueller in Verruf geraten. Auf diese Werte und Tugenden wieder aufmerksam gemacht zu haben und den Dingen wieder zu ihrem Recht verhelfen zu wollen, darin liegt eines der größten Verdienste des Buches und des Autors.
Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt: Suhrkamp, 2004, 192 Seiten, 10 Euro