Flucht in die Lukaschenko-Diktatur?

Seite 2: Belarus schlachtet Story propagandistisch aus

Die Belarussen schlachten ihrerseits die Story propagandistisch so aus, wie sie nur können. Zuletzt kommentierte sogar Präsident Lukaschenko den Vorfall.

Aber unabhängig davon, ob der Überläufer lügt oder nicht – es ist eine Story, die relevant ist und über sie müsste natürlich berichtet werden. Aber die Redaktionen in Deutschland entscheiden anders. Sie haben die Geschichte einfach ignoriert, einstimmig, obwohl sie schon seit dem 17. Dezember bekannt ist.

Das wirft Fragen auf: Inwieweit sind Redaktionen in unseren Zeiten an strikte Narrative gebunden? Greifen sie keine Story auf, wenn nicht gleich klar ist, welches politische Nutzen sie zu bieten hat?

Man könnte es so sehen: Mit ihrer bisherigen Berichterstattung haben die meisten Medien das Image von Belarus derart ruiniert, dass selbst eine Meldung über die politisch motivierte Leichtgläubigkeit der regierungstreuen Weißrussen, die einer fantastischen Lüge auf den Leim gegangen sind, keinen politischen Zugewinn mehr bringen würde. Der Schaden auf der anderen Seite, den man durch diese Nachricht in Kauf nehmen muss, wäre aber zu groß.

Die Tatsache, dass ein Soldat einer regulären Armee aus einem Nato-Land unter Lebensgefahr in ein gegnerisches Land flieht, scheint die Geschichte für den deutschen Medienkonsumenten unzumutbar zu machen. Eine Flucht aus der Demokratie in die Diktatur? Nein, das geht nicht, das sprengt unsere Vorstellungskraft! Es darf nicht geben, was es nicht geben darf.

Selbst wenn sich herausstellt, dass der Soldat gelogen hat, würde allein die Tatsache seiner Flucht haften bleiben und das Image eines wichtigen EU-Landes beschädigen. Zudem könnte seine Lüge Nachahmer motivieren – um das Politasyl zu bekommen, hat der Soldat schließlich seine Regierung verleumdet.

So wird über das geschwiegen, was unbequem ist oder was man keinem Schema zuordnen kann. So verlagert sich die Zensur von außen nach innen.

Als Kanzlerkandidat sagte Olaf Scholz bei einem Auftritt bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Russland habe Angst vor der offenen Gesellschaft des Westens.

Für den inzwischen amtierenden Kanzler gibt es also keine Zweifel, dass Deutschland eine offene Gesellschaft ist. Aber eine offene Gesellschaft zeichnet sich vor allem durch den freien Zugang zu Informationen aus. Wenn diejenigen, an denen es liegt, diese Informationen zu liefern – also die Journalisten –, unbequeme Nachrichten herausfiltern, dann arbeiten sie nicht für eine offene Gesellschaft, sondern für eine Gesellschaft voller Vorurteile und Feindbilder.

Laut UNO sind 21 Menschen bislang in Zusammenhang mit den Grenzübertritten von Weißrussland zu Polen gestorben. Es gibt Berichte über Misshandlungen von Migranten in Polen. Was, wenn an den Aussagen des polnischen Soldaten einen wahren Kern gibt? Wenn es auch nur eine Tötung gegeben hat?

Die UNO nahm schon Stellung zu Vorwürfen des Soldaten, zu denen deutschen Medien schweigen. Aus den deutschsprachigen Medien hat bislang offenbar nur die Neue Zürcher Zeitung über den Überläufer ausführlich berichtet – über Asyl und über "angebliche Hinrichtungen".