Flucht in die Lukaschenko-Diktatur?

In belarussischen TV-Studios gerade gern gesehen: Emil Czeczko. Bild: БЕЛАРУСЬ

Ein polnischer Soldat soll sich nach angeblichen Tötungen von Migranten nach Belarus abgesetzt haben. Die Story ist fragwürdig. Noch fragwürdiger aber ist der mediale Umgang mit ihr

Kann es sein, dass Sie als politisch interessierter Mediennutzer im Schatten von Impfdebatten oder Ukraine-Krise eine Nachricht verpasst haben? Ein belarussischer Soldat hat die Grenze nach Polen überquert, um dort über Tötungen von Migranten durch belarussisches Militär zu berichten und einen Asylantrag zu stellen.

Im polnischen Fernsehen behauptet er, Soldaten trieben Migranten mit Gewalt zur Grenze und verprügeln sie. Aber das ist noch nicht das Schlimmste: Es habe auch Tötungen von Migranten gegeben, dutzende Migranten seien erschossen und im Wald verscharrt worden. Unter einem derart grausamen Diktator wie Alexander Lukaschenko nicht wirklich überraschend.

Aber auch das ist noch nicht alles. Als freiwillige Helfer Zeugen dieser blutigen Willkür wurden, habe ein Offizier sie festgesetzt und – gemeinsam mit alkoholisierten Soldaten – zwei von ihnen erschossen.

Der desertierte Soldat sagt aus, dass er an diesen Verbrechen nicht mehr teilnehmen wollte und nun Polen um politisches Asyl bittet. Das Rote Kreuz solle in das Sperrgebiet an der Grenze vorgelassen werden, um die Gräber der Opfer ausfindig zu machen.

Sollten Sie diese unglaubliche Geschichte übersehen haben, dann haben Sie sicherlich wenigstens mitbekommen, zu welchen politischen Konsequenzen sie geführt hat. Obwohl, warten Sie: Es war eigentlich unmöglich, dies zu übersehen, wenn man in Europa lebt und Augen und Ohren hat.

Denn die Mediennutzer haben zuletzt auf allen Kanälen mitgeteilt bekommen, was die Vertreter aus Medien und Politik in Warschau, Berlin, London, Brüssel zu Enthüllung dieser Art zu sagen hatten.

Sanktionen waren nicht mehr das Schlagwort. Lukaschenko und seine Mörderbande müssten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gezerrt werden. Und solange das nicht geschieht, müssten Polen zu Hilfe zusätzliche Nato-Kontingente an die Grenze geschickt werden – wer weiß, was dieser irre Diktator schon gegen seine demokratischen Nachbarn im Sinn hat!

Alles mit einem kleinen Nebensatz versehen natürlich: "Sollte die vom Soldaten geschilderte Geschichte stimmen …." Aber solange die Hintergründe noch geprüft werden, müssten die Sanktionen gegen Belarus samt militärischer Verstärkung für Polen eben beschlossenen werden.

Details zum unbekannten Überläufer

Auch davon haben Sie nichts gehört? Ich löse das Rätsel auf: Sie können es nicht wissen, weil die Geschichte andersherum stattgefunden haben soll und wohl deswegen niemand in Deutschland über sie berichtete.

Ja, es gab wirklich einen Überläufer, aber er kam von der anderen Seite – von Polen nach Belarus. Und Emil Czeczko – so heißt der 25-jährige Pole aus dem 11. Masurischen Artillerie-Regiment – hat in groben Zügen die oben wiedergegebene Geschichte erzählt, nur im belarussischen Fernsehen und über die vermeintlichen Vorkommnisse auf der polnischen Seite der Grenze.

Ihm zufolge haben polnischen Grenzschützer gefangene Migranten in den grenznahen Wäldern erschossen. Er selbst sei zunächst alkoholisiert und dann gezwungen worden, an solchen Exekutionen teilzunehmen. Nun sagt der Ex-Soldat vor der belarussischen Ermittlungsgruppe aus und gibt ein Fernsehinterview nach dem anderen.

Obwohl der polnische Überläufer kein Gedankenspiel ist, sondern echt, haben bislang weder seine Person noch seine Schilderungen das Interesse deutscher Medien erweckt. Also: Überquerung der Grenze in einem Nachbarland, Asyl, spektakuläre Anschuldigungen – all das hat für sie keinen Nachrichtenwert.

Genauer gesagt, keinen politischen Nachrichtenwert. Denn dann müsste man ausführlich berichten, Warschau verdammen und Sanktionen fordern. Wenn die Informationen in ein Schema passen, können auch Zeugenaussagen einer Person genügen, um Entscheidungen über Krieg und Frieden zu beeinflussen. Die berühmte Brutkastenlüge ist hierzfür nur ein Beispiel.

Aber wenn die Enthüllung in eine unerwünschte Richtung zielt, hat sie keine Chance, es in die Schlagzeilen zu schaffen. Polen ist ein befreundeter Staat an der Ostflanke der Nato und EU-Mitglied, dem in der Migrationskrise an der Grenze zu Belarus "unsere volle Solidarität" gilt.

Ob die Aussagen des Soldaten stimmen, muss natürlich stark angezweifelt werden, keine Frage. Zu fantastisch sind die Schilderungen und sie können einfach der Fantasie des Mannes entsprungen sein. Aber das ist kein Grund, weder über die Fahnenflucht noch über die Schilderungen des Überläufers zu berichten.

Und es ist nicht so, dass man den Skandal in Warschau ignoriert hat. Im Gegenteil: Im PiS-regierten Polen des Jarosław Kaczyński und Andrzej Duda machte er die Behörden sichtlich nervös. Mehrere Vorgesetzten des Soldaten wurden vom Dienst suspendiert und er selbst wurde umgehend der Spionage verdächtigt.

Um zu prüfen, ob er seine Flucht geplant hat, wurde seine Wohnung durchsucht. Medien stellen ihn als schwierige Person mit Alkoholproblemen dar. Manche meiden es, wie der polnische russischsprachige Kanal Nexta Live, über den Inhalt seiner Schilderungen zu berichten.

Die polnischen Behörden fordern von Belarus nun die Auslieferungen Czeczkos. In seiner Heimat drohen dem Deserteur bis zu zehn Jahre Haft, manche hochrangige Militärs fordern sogar die Todesstrafe für den Verräter.