Flüchtlinge: Götterdämmerung der Politik

Seite 2: Deutsche Handlungsoptionen

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Der kleinere Teil der deutschen politischen Klasse beginnt zu verstehen, dass es mit der Bekämpfung der Fluchtsymptome nicht getan ist. Damit kommt man allenfalls halbwegs unbeschadet durch den Winter. Wenn alles gut geht, werden keine Flüchtlinge erfrieren. Doch dann kommt der nächste Frühling mit ihm die Flüchtlinge. Unser vorrangiges Interesse muss es also sein, die Ursachen der Flüchtlingsströme vor Ort zu beseitigen und zwar nicht nur in Syrien, sondern in allen Herkunftsländern.

Es besteht die große Gefahr, dass zu den Fluchtwellen aus Syrien, Afghanistan und Irak noch weitere Länder hinzukommen (z. B. Ukraine) oder Mali und Nigeria; zwischen den letztgenannten Ländern und dem Mittelmeer liegen nur Algerien bzw. Libyen. Das Flüchtlingspotenzial dieser Länder liegt deutlich jenseits von 200 Millionen Menschen. Neue Dimensionen tun sich auf. Ein Verteidigungsminister schwadronierte einmal, wir müssten unsere Freiheit am Hindukusch verteidigen. Wahrscheinlicher ist, dass wir unseren Lebensstil in den genannten Ländern verteidigen müssen.

Wir sind erst am Anfang der Probleme.

Der notwendige Politikwandel wird nicht einfach zu erreichen sein und vor allem nicht von heute auf morgen. Überdies ist zu befürchten, dass sich die Staaten, die von den Flüchtlingsströmen nicht unmittelbar und nachhaltig betroffen werden, entspannt zurücklehnen. Es war bereits zu vernehmen, dass die Flüchtlingskrise ein "deutsches Problem" sei.

Um Gehör zu finden, müssen wahrscheinlich verstörende Fragen gestellt werden:

  • Wie lange ist es noch hinnehmbar, dass einige europäische Staaten die ganze Last des Flüchtlingsdramas tragen müssen, während sich dessen Verursacher einen schlanken Fuß machen?
  • Was spricht dagegen, angemessene Flüchtlingskontigente auf seetüchtigen Schiffen in das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" oder seiner nimmermüden Kriegsunterstützer zu bringen?
  • Ist es sachgemäß, einen wichtigen Global Player wegen eines vermeintlichen Völkerrechtsverstoßes von internationalen Verhandlungstischen zu verbannen, während notorische Völkerrechtsverächter dort das große Wort führen?
  • Ist es nicht allmählich Zeit, sich von lähmenden Klischees ("Wir sind die Guten, sie die Bösen") zu trennen?
  • Warum legen wir nicht die gleiche Elle an? Beispiel: Wenn Assads Fassbomben Fluchtursachen sind, dann sind es Obamas völkerrechtswidrige Drohnen und Kampfjets nicht weniger.
  • Muss ggf. mit der schärfsten Waffe, dem Austritt aus einem degenerierten "Verteidigungs"-Bündnis, gedroht werden?
  • Sollte man stattdessen dem Regelwerk der Vereinten Nationen wieder mehr Bedeutung beimessen?
  • Ist es legitim, EU-Mitgliedsstaaten, die sich humanistischer Solidarität entziehen, Transferzahlungen zu versagen?

Ich kann mir vorstellen, dass einige Leute allein schon beim Lesen solcher Fragen feuchte Hände bekommen. Aber die Gedanken sind frei. Allerdings gehört Mut dazu, Ungehörtes und Unerhörtes zu sagen. Mittelfristig werden sich solche Gedanken als alternativlos erweisen.

Angela Merkel hat in den letzten Monaten Mut bewiesen. Es mag sein, dass sie die Sogwirkung ihrer Bekenntnisse zu einer humanen Flüchtlingspolitik unterschätzt hat. Dafür hat sie von den eigenen Parteifreunden Prügel bezogen. Es ehrt sie, dass sie auch im größten Proteststurm nicht völlig umgefallen ist. Mit lutherischer Geradlinigkeit hat sie den Krieg gegen das eigene Volk gewagt. Wird sie auch die Courage haben, gegenüber fremden Völkern, die die neuzeitlichen Völkerwanderungen ausgelöst haben, ein klares Wort zu sprechen?

Vermutlich wird sie es nicht tun. Denn die dazu erforderliche innerparteiliche Solidarität hat sie nicht mehr. Ihre Regierung wirkt zerrissen, ziellos und weit davon entfernt, sich auf Grundsatzfragen einzulassen. Es scheint, dass die bisher unangreifbare Kanzlerin nur noch die Wahl hat zwischen Pest und Cholera. Entweder sie behält ihr humanes Credo bei, dann wird sie vermutlich stürzen. Oder sie nimmt radikale Kursänderungen vor, dann ist sie gleichwohl ruiniert.

Manchmal mutet es an, als stünde hinter der sichtbaren Konfusion die ausgefeimte Strategie von Leuten, die hinterrücks in die eigene (politische) Tasche wirtschaften?

Neben Merkel sitzen in letzter Zeit immer öfters ergraute oder goldblonde Amtsträger, die erkennbar den Eindruck vermitteln, dass sie durch ihre Ministerposten nicht wirklich ausgelastet sind. Einer, der sich stets für die bessere Lösung hielt, steht unübersehbar als Reservekanzler bereit. Bei allen Vorbehalten gegen Merkel muss man sich diese Entwicklung nicht unbedingt wünschen. Eine solide Lösung des Flüchtlingsproblems wäre damit in weite Ferne gerückt. Der Rigorismus der Griechenlandrettung wäre auch hier Leitmotiv. Der große Showdown hat begonnen.

Wir sind Zeugen einer Götterdämmerung.

Peter Vonnahme, Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof i.R., ehem. Mitglied im Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung.