Fortpflanzung durch Abtrennung der Daumen
Radikale Abseitigkeit ohne SciFi-Mätzchen: Cory Doctorows Kurzgeschichten online
Er hat mittlerweile zwei Science Fiction-Romane parallel im Netz und auf Papier veröffentlicht, und diese beiden Bücher haben Leser, Kollegen und Kritiker gleichermaßen aufhorchen lassen (vgl. Aus dem Leben der Stämme). Aber Cory Doctorow macht mit seiner ebenfalls online veröffentlichten Story-Collection '"A Place so Foreign and Eight More" darauf aufmerksam, dass man über den Romanen die kleineren "Nebenarbeiten" nicht vergessen sollte.
Seit dem so genannten Goldenen Zeitalter der Science Fiction ist die kurze Erzählung Königsdisziplin des Genres. Man könnte sogar sagen, die Science Fiction-Literatur, wie wir sie heute kennen, ist aus dem Geist der Erzählung entstanden: mit wenigen Sätzen Atmosphäre, Szenario und die grundlegenden Figuren einer Geschichte zu zeichnen und dann das Uhrwerk ablaufen zu lassen, so knapp und konzis, wie es eben in einem Roman gar nicht möglich ist - das ist auch heute noch eine der grundlegenden Fähigkeiten guter SF-Autoren.
Meister der Kurzgeschichte
Die Erzählung war zuerst da: nicht nur literaturhistorisch gesehen, sondern auch in der Schreib- und Veröffentlichungspraxis vieler Autoren und Autorinnen. Und nicht wenige von ihnen haben gerade im Short-Story-Fach ihre überzeugendsten Texte abgeliefert. Cory Doctorow könnte durchaus zu diesen Meistern der Kurzgeschichte gehören, wie sein Erzählungsband "A Place So Foreign and Eight More" belegt.
Wie seine beiden Romane "Down and Out in the Magic Kingdom" und "Eastern Standard Tribe" hat Doctorow die Collection (oder doch nahezu die gesamte Collection) auf seiner Homepage zum kostenlosen Download bereit gestellt.
Und wie bei den beiden Romanen hat er die Erzählungen mit großartigen Ouvertüren über das Publizieren im Internet versehen, die man getrost überblättern kann. Wie immer zählt am Ende der Text.
Wenn man ihn zählen lässt, kann man sich auf ein echtes Lesevergnügen freuen, bei einigen der Erzählungen sogar auf ein blaues Wunder. Wovon handeln diese Texte? Schwer zu sagen. Man könnte als gemeinsames Merkmal nennen, dass die Geschichten häufig mit der Stadt zu tun haben, in der Doctorow geboren wurde und heute noch lebt: Toronto.
Freundschaftliche und lockere Beziehungen zu den Menschen
Es gibt einen lockeren erzählerischen Rahmen, der aus der Collection fast so etwas wie einen Episodenroman macht: Die Menschheit ist mit der Invasion durch die "bugouts" konfrontiert - Aliens, die so offensichtlich überlegen sind, dass sie der Erde ihre Herrschaft nahezu gewaltfrei auferlegen, und die sich im Normalfall freundschaftliche und lockere Beziehungen zu den Menschen leisten können, weil die Machtverhältnisse vollkommen geregelt sind. Aber das sagt so wenig. Genau so wenig wie die inhaltliche Beschreibung.
Nehmen wir zum Beispiel die beiden besten Geschichten der Sammlung - "Craphound" und "Return to Pleasure Island".
Craphound handelt von der schwierigen Beziehung zweier Trödelhändler. Einer ist ein Mensch, der andere ein "bugout". Seite an Seite haben sie jahrelang die ländlichen Wohltätigkeitsflohmärkte unsicher gemacht und sich die Einkünfte geteilt - wobei dem Menschen immer völlig unklar war, was der Alien-Geschäftspartner eigentlich mit dem Trödel und dem Geld wollte.
Eines Tages geraten die beiden ausgerechnet über eine Kiste mit Cowboy-Spielzeug in Streit - einen Streit, der erst wieder durch das höchst überraschende Ende der Geschichte beigelegt wird. Die Idee allein ist natürlich schon wunderbar, aber ihre Darstellung gibt keine Auskunft über die enorm dichte Atmosphäre, die Doctorow zu erzeugen in der Lage ist. Hätte man es hier mit Musik zu tun, müsste man von Blues sprechen, einem seltsamen, futuristischen Blues, der mit den gewohnt einfachen Stilmitteln aber sehr eigenartigen Instrumenten eine enorme Melancholie freisetzen kann.
Noch deutlicher erklingt diese Musik in "Return to Pleasure Island". Hier schafft es Doctorow, die radikale Abseitigkeit des Szenarios, der Protagonisten, des Plots nahtlos mit einer klar und einfach durchstrukturierten Textentwicklung und einer Sprache ohne SciFi-Mätzchen zu versöhnen.
"Return to Pleasure Island"
Menschen aus Erde (im Sinne von Bodenmaterial), die in einem Vergnügungspark Zuckerwatte verkaufen, sich durch Abtrennung ihrer Daumen, respektive ihrer Zungen vermehren, während sich mehr und mehr der jugendlichen Besucher des Parks in Esel verwandeln? No way. Aber was nach einem Pinocchio-Aufguss für Erwachsene klingt, ist in Wirklichkeit eine Perle der literarischen Fantastik.
Bemerkenswert an "Return to Pleasure Island" ist außerdem, dass der Text offenbar vor "Down and Out in the Magic Kingdom"geschrieben wurde (1999), und wahrscheinlich mit seinem Thema - der Vergnügungspark als Ort der Authentizität - die Keimzelle für den später geschriebenen Roman gewesen ist. Wenn das stimmt, dann muss man anmerken, dass die Erzählung eindeutig stärker ist als der Roman.
Dass diese beiden Arbeiten hervorgehoben werden müssen, hat nicht seinen Grund darin, dass der Rest schlecht wäre. "Home Again, Home Again" zum Beispiel ist fast genau so gut wie die beiden Glanzstücke der Sammlung, nur der schwache Schluss trübt die Freude ein wenig. Und die anderen Stories haben erzählerisch gesehen mindestens die Klasse der beiden Romane.
Alle sieben der online veröffentlichen Geschichten aus "A Place So Foreign and Eight More" sind so gut, dass man sie jedem Science Fiction-Leser empfehlen kann. Einige werden mit dem Gedanken spielen, sich das Buch zu kaufen, nur um die zwei exklusiv im Druck erschienenen Geschichten der Collection nicht zu versäumen. Von daher hätte dann die Publizitätsstrategie Doctorows auch in diesem Fall gewirkt.