Frankfurter Bahnhofsviertel: Zwischen Exotisierung und Exorzismus

Straßenleben im Frankfurter Bahnhofsviertel, aufgenommen mit der Spiegelung eines Schaufensters

Bild: FenchelJanisch / Shutterstock.com

Täglich strömen hier unzählige Menschen vorbei. Es ist das am meisten missverstandene Viertel Deutschlands. Essay über ein Stadtviertel-Gefühl.

Frankfurt ist bekanntlich die internationalste Stadt Deutschlands. Ihr Fluss, der Main, ist der längste hiesige Fluss, der in Deutschland entspringt und endet. Ihr Bahnhof ist derjenige in Deutschland, der es zur Pendlerhauptstadt werden lässt.

Das besondere Viertel

Der Bahnhof und das nämliche Viertel – Thema dieses Beitrags –, aber auch die umliegenden Viertel Gallus, Westend und Gutleut, sind alle miteinander eng verbunden. Insbesondere von dessen neuen Bewohnern wird das Bahnhofsviertel als etwas Besonderes – meistens in einem Nicht-Frankfurter-Tonfall –, als das Mekka oder das von ihnen ausgesuchte Biotop der Großstadt bezeichnet.

Kritiklos, weniger jedoch herzlos, wird derart das Bahnhofsviertel von den umliegenden Stadtteilen sowie dessen inhärenten Zugehörigen einfach getrennt, die damit seit ihrer Sozialisation zusammengewachsen sind.

Zwar ist das Herz voll dabei, wenn es um die Identifizierung mit dem Bahnhofsviertel geht. Da grenzt man sich gegenüber der Nachbarschaft ab, obwohl es keine realistische Grundlage hat, weil doch die umliegenden Viertel dazu gehören, jene Viertel, die vielfach miteinander verwachsen sind. Kritiklos bedeutet hier einen Zug ins romantisch Erhöhte.

Reduktionistisch nennt man diese Gangart in der Fach- und Wissenschaftssprache. Alles deswegen, um sich mit dem Viertel am Bahnhof selbst zu preisen.

Das Erlebnisbiotop

Desgleichen ist es höchstwahrscheinlich der dichotome Preis der Individualität, der Gemeinschaft, der Zugehörigkeit, aber auch die der Abgehobenheit, der Extase und des Erlebnisbiotops. Der dichotome Preis der Individualität hier besagt, dass es ein von der Realität abgespaltenes "Ich" gibt. Die Abspaltung erfolgt demnach im Kontext der eigenen Identität (Subjekt) und dem Bahnhofsviertel (Objekt).

Nur wenige dieser Menschen haben darüber jemals ernsthafte Literatur und Dokumentarfilme gesichtet oder dessen wirklichen nativen Bürger getroffen und sich ihre Geschichten erzählen lassen. Das Viertel am Bahnhof wird ruralisiert, man nimmt seine Dorfherkunft ins urbane Frankfurt mit, meint dann eigensinnig, wie dann so oft in Gesprächen und Interviews erfahren: "Frankfurt ist ein Dorf."

Das hat Frankfurt als "First Global City" Deutschlands bestimmt nicht verdient. Ähnliches widerfährt dem sich nun im mittlerweile geografischen Einheitsgebiet befindenden Osten Frankfurts, nämlich Offenbach am Main.

Exotisierung

Frankfurt ist die erste oder mindestens zweite Filmstadt Deutschlands. Dessen Szenario und die Regie möchte jeder von seinem oftmals unwissenden Augenschlag aus führen. Der unwissende Augenschlag besteht tatsächlich aus einer großen Portion Ignoranz dessen, was man schlussendlich mit den eigenen Augen nicht ganz erblickt.

Es liegt in der Natur der Sache, dass dieses Viertel von Menschen, die es bewusst oder eher unbewusst bewohnen, als ein Eldorado für abweichendes gesellschaftliches Normverhalten, obszönen Handlungen entweder entwertet (negativ) oder aufgewertet (positiv) wird.

Dadurch haften ihm Wesenszüge einer gern vorgefundenen Surrealität an, was man aus ebenso Weltstädten wie New York und Paris aus Filmen kennt.

Der Voyeurismus

Damit wird ein versteckter, sich jedoch schnell anbietender Voyeurismus erstrebt. Denn durch die drei langen Straßen, Münchener-, Kaiser- und der Taunusstraße bewegen sich Endkosumenten von Drogen, Banker, Broker, Informatiker, DB Mitarbeiter, Studenten, Gastronomen, Touristen, Pendler, Fluggäste, Sportler, Frankfurter und viele anderen Genres. Die Exotisierung entsteht stark über Voyeurismus, die man passiv bis aktiv anwendet.

Die Kaiserstraße hat, was viele Außenstehende nicht wissen mögen, unlängst seine erotische Meile an Cafés, Restaurants, Kioske, Hotels, Unternehmen und glokalen Einkaufsläden aus der ganzen Welt verloren. Nun befinden sich westwärts dessen in den Seitenstraßen zur Taunusstraße gelegen die notorischen Etablissements.

Merkwürdigerweise wird der südliche Teil hin zum Main bzw. der Main selbst niemals in Gesprächen als Erholungsort oder das gegenüberliegende Museumsufer einer nur kurzen Erwähnung bemüht.

Das ist die Handlungsstrategie von Exotisierenden, um bloß nicht die imaginierten Grenzen der 0,52 Km2 als Eigenaufgabe zu verlassen. Ebenso wird nie ersucht zu sagen, dass bei klarem Himmel der Taunus vom südlichen Kopf der Münchenerstraße sichtbar heraus schimmert.

Niemals wird erwähnt, dass das Viertel eben nicht eine eigene Welt ohne Umwelt ist, keine Welt unter einer Glocke, sondern dass es eben mit einer Außenwelt fortbesteht.

Amüsiermeile

Nicht inflationär exotisiert wird das Bahnhofsviertel als Begriff von den dort ca. 3.500 lebenden Menschen, den nativen Frankfurtern aus anderen Stadtteilen und den arbeitenden Pendlern. Zu beobachten ist das von solchen Menschen, die es als Quelle eines äußeren Sehnsuchtsorts oder inneren Sinnstiftung benötigen.

Historisch war das Frankfurter Viertel vor dem Bahnhof neben Altsachsenhausen einer der beiden Amüsiermeilen innerhalb der Frankfurter Stadtgrenzen. Bundesweit ist dieses politisch, kulturell und alltäglich getadelte Wohn-, Arbeits- und Amüsierviertel für das bloße Vergnügen bekannt, ähnlich wie die Reeperbahn in Hamburg.

Wissensbasierte Informationen haben da keinen leichten Stand. Die historische Einordnung fällt nicht so leicht wie die Exotisierung, die eine Konstanze der jüngeren Wahrnehmung ausmacht.

In Interviews der hier vorgenommenen Feldforschung – der vorliegende Beitrag beruht u.a. auf wissenschaftlichen Studien der teilnehmenden Beobachtung – berichten beinahe ausschließlich Frankfurter, meist mit einer langjährigen familiären, urbanen, oftmals universitären Sozialisation, in einer nicht aufgeregten Art und Weise über die zusammen wachsenden, somit transurbanen Stadtteile.

Exorzismus

Der native Frankfurter sieht im Bahnhofsviertel etwas Normales. Es gehört für ihn zum alltäglichen Stadtbild dazu, es bildet nicht etwas Fremdes ab, sondern stellt hinreichend Eigenes dar. Dagegen sind Neuankömmlinge, ob biodeutsche Binnenmigranten, Europäer, Amerikaner oder dergleichen, mit diesem Viertel am Bahnhof geringfügig vertraut.

Allgemein gesprochen, haben vielleicht viele Menschen, ohne hier zu werten, selbst eine durch ihre Geburt nativ-urbane Sozialisierung erfahren, damit kennen sie sich mit ihrer eigenen Stadtentwicklung und dessen relativer Geschichte, Mobilität, Zentren und Überangeboten aus. Meistens sind also Neuankömmlinge in ihrer alltäglichen Wahrnehmung zu sehr von ihrer Herkunft geprägt, um das Bahnhofsviertel in einem der Lokalität und deren Geschichte angemessenen Licht und Sinn zu sehen.

Dennoch sind genauso viele in Frankfurt einfach im transurbanen Raum verloren, somit besitzen sie eine daher verständlich non-urbane Identität. Sie suchen oder erfinden ihnen altbekannte Nischen in der Frankfurter Urbanität, was ihnen (neue) Normalisierung durch (alte) Angleichung verspricht.

Man gibt an. Die Angabe, gerade aus dem verruchten Viertel zu kommen oder gerade dorthin zu gehen, gar dort zu wohnen oder dort immer seine Freizeit zu verbringen – verspricht,etwas allgemein Dynamisches bis spezifisch Lustvolles zum Ausdruck zu bringen. Hier wähnt man sich, um es auf einer anderen Ebene zu diskutieren, in der Position eines Exorzisten.

Eine eingenommene soziourbane Rolle als Exorzist – der ungekannten Zauber in Zeiten von (Über-)Rationalität impliziert –, was durch ein Stadtviertel seinem als ahnungslos bewerteten Gesprächspartner dargeboten wird.

Kritisch betrachtet, bleibt jedoch meistens die selbstversprochene Immersion in den Tiefen des Bahnhofsviertels aus. Ferner, ist das Eintauchen in das richtige Stadtviertelgefühl hier die Herausforderung, um einen Sinn für das Treiben, die Motive und die besondere Prägung zu bekommen, ohne mit Schablonen zu reagieren, die das Hineingehen in die besonderen örtlichen Gegebenheiten verhindern.

Denn durch die bloße Nennung der Geografie "Bahnhofsviertel" und dem Konsum des vielfältigen Angebots kratzt man vergeblich an dessen komplexer Oberfläche. Folglich findet eine ersehnte Immersion kaum statt.

Infolgedessen sollten sich also die eigene Teilhabe am Objekt und die Teilnahme als Subjekt neu erfinden. Diese erreicht man eher anders: erst durch Neugier, Wissen und dann durch einen ehrlichen und nachhaltigen Selbsteinsatz für eben 0,52 km2 Bahnhofsviertel.

Labor

Frankfurt ist seit über einem Jahrtausend (seit 794 n.Chr.) eine stets wachsende Stadt. Die Kaiserpfalz Franconofurd, wie es einst hieß, weist im 21. Jahrhundert 46 Stadtteile, verteilt auf einer Fläche von 248,31 Quadratkilometer, auf.

Ihre Größe war stark an den Handelsrouten gebunden, die nicht nur Waren mit sich brachten, sondern auch globale Ideen durch diverse Menschen am Main platzierten. Heutzutage hat Frankfurt mit seinen dazugehörigen geografischen Nachbarn bis zu drei Millionen Einwohner (erster Kreis).

Ausgedehnt auf die regionale Karte des Rhein-Main-Gebiets (zweiter Kreis) weist es eine Bevölkerung von sechs bis sieben Millionen Menschen auf.

Diese drei bis sieben Millionen Menschen betrachten Frankfurt schließlich als ihre zentrale Metropole bzw. omnipotenten Anziehungspunkt.

Die Frankfurter unterscheiden auch hier zwischen Einwohnern und Bürgern. Diese Unterscheidung hat einen heuristischen Wert. Es ist letztlich das entscheidende Kriterium zum Aufschlüsseln der Missverständnisse und Übertreibungen, bei denen letztlich die Frankfurter manchmal selbst auch mitmachen.

Vergessen wir nicht, dass das Rhein-Main-Gebiet unmittelbar an Süd- und Mittelhessen, Bayern, Baden-Württemberg und Rheinlandpfalz sowie erweitert mittelbar an Saarland und südliche Teile Nordrhein-Westfalens angrenzt.

Beispielsweise ist es für Menschen aus Nürnberg gleichmäßig fern oder nah, denn sie gehen als zentralster Ort Bayerns für dies oder jenes entweder in den Süden nach München oder etwas nördlicher gelegen eben nach Frankfurt.

In Südwestdeutschland gelegen, ist Frankfurt auch im Triangel zwischen den Städten Köln im Westen und Stuttgart im Süden besser einzugliedern. Es gilt für viele Menschen, ob aus der Literatur (Buchmesse Frankfurt seit 1437), Finanzen (Börse seit 1585), Handelsstadt (seit 1150) oder als Reichs-, Wahl- und Krönungsstadt (bis 1792) als ein "Kompass der Deutschen" mit seiner vielfachen kontinuierlichen Leistung in der Geschichte Deutschlands und auch die für den europäischen Kontinent.

Letztlich will dieser Artikel jede Leserin und jeden Leser neben dem entspannten Nachdenken und der Anregung zu einer erweiterten Eigenrecherche zu einem Besuch Frankfurts einladen.

Gude!

Dr. Homayun Alam ist Politik- und Kulturwissenschaftler, Soziologe, Schriftsteller, Filmemacher und Gründer des Instituts für Migration in Frankfurt am Main.