Frankfurt als Weltstadt: Was hätte sein können

Panoramabild von Frankfurt am Main

Bild: Elen Marlen / Shutterstock.com

Frankfurt strebte nach Weltstadtstatus. Die Entwicklung prägte die Skyline und das Stadtbild. Doch zu welchem Preis für die Bewohner? Ein Essay.

Es gibt ein berühmtes Poem des US-amerikanischen Dichters Robert Frost aus dem Jahr 1916 namens "The Road Not Taken". Darin sieht sich ein namenloser Wanderer mit einer – alltäglichen – Situation konfrontiert.

Er muss eine Entscheidung treffen: Welchen Weg soll er weiterverfolgen? Seine Wahl ist von großer Unsicherheit geprägt. Unabhängig von seinen Bemühungen und Überlegungen handelt es sich um eine fundamentale Unsicherheit, die er nicht reduzieren oder in Risikoabwägungen umwandeln kann.

Stattdessen setzt er seine Imagination ein und stellt sich vor, welche zukünftigen Entwicklungen ihn auf dem einen, genauer gesagt, dem anderen Weg erwarten könnten.

Entscheidende Zukunftsvorstellungen

Diese Zukunftsvorstellungen beeinflussen seine Wahl entscheidend. Zudem ahnt der Wanderer, dass im Nachhinein für ihn nicht nur der letztlich gewählte Weg, sondern auch die nicht begangenen Wege bedeutsam bleiben werden.

Spätestens im Rückblick kommt dies zum Vorschein. Was sich jedoch rückblickend nicht verändert, ist die fundamentale Unsicherheit der ursprünglichen Entscheidungssituation. Welcher Weg in der Vergangenheit – zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung wie in der damaligen weiteren Zukunft – also der richtige war (gewesen wäre), bleibt auch Jahrzehnte später ungewiss.

Die beeindruckende Entwicklung Frankfurts

Wie hängen nun die im Gedicht beschriebene Entscheidungssituation des Wanderers und die Entwicklung von Frankfurt zusammen? Sich auf die Suche nach Erklärungen für dessen beeindruckende Genese von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart zu begeben, wäre sicherlich ein interessantes Unterfangen.

Doch anstatt rückblickend nach kausalen Erklärungsansätzen zu suchen, könnte man auch eher spekulativ vorgehen – inspiriert durch Frosts "unbegangenen Weg". Man könnte sich beispielsweise fragen, welche Erfahrungen die Zeitgenossen in den Jahrzehnten sammelten, wie sie die urbane Situation deuteten, mit welcher Erwartung sie in die Zukunft blickten – und wie sie sie imaginierten.

Der städtebauliche Aufbruch der Nachkriegsjahrzehnte

Frankfurt hat sich 1945, wie nur wenige andere Städte in Deutschland, von ihrer baulichen Vergangenheit losgesagt: Da war der städtebauliche Aufbruch der Nachkriegsjahrzehnte, der auf die endgültige Auslöschung der alten Struktur und die Implantation des neuen Maßstabes einer Hochhausstadt des Wirtschaftsfunktionalismus zielte.

Da war die Rückbesinnung auf Tradition und Stadtkultur unter dem Oberbürgermeister Walter Wallmann und dem Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann. Und es gab eine gewisse Regenerationsphase des Städtischen unter dem Planungsdezernenten Martin Wentz.

Aus heutiger Sicht profitierte Frankfurt davon, dass nicht überall die Ideologie der verkehrsgerechten Stadt zum alleinigen Dogma avancierte.

1975: Umdenken Richtung Retro

Doch erst das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 markierte ein Umdenken. Es führte zu einem breiten Interesse an historischen Stadtvierteln oder Gründerzeitquartieren. Und leitete einen Paradigmenwechsel ein: Seit dem Wiederaufbau der örtlichen Alten Oper ist eine Rekonstruktionsbewegung in Gang gekommen, die im Stadtbild markante Spuren hinterlässt.

Die heutige Nostalgiewelle hat komplexe Hintergründe: Bürger wünschen sich ein anheimelndes Cocooning auch im öffentlichen Raum, Globalisierungsgegner instrumentalisieren den Stadtbau für ihre Zwecke, Investoren setzen auf verkaufsfördernde Retroarchitektur in bester Lage.

Kommunalpolitikern wiederum liegt viel an einem City-Branding, das zeigt, wo die Anfänge des Aufstiegs von Alt-Frankfurt zum internationalen Finanzzentrum lokalisiert sind: auf dem Römerberg. Die Handelsstadt wurde jedoch einst von den Bewohnern wie Goethe auch als Nest aus düsteren Gassen und Märkten wahrgenommen.

Urbanisierung muss man als komplexen und vielschichtigen Prozess verstehen, der weit mehr als Stadtentwicklung oder Architektur umfasst und demografische, kulturelle, soziale sowie ökonomische Aspekte einschließt.

Jede rückblickende Betrachtung weist eine inhärente Gefahr auf, wird doch nach dem Eintreten eines Ereignisses dessen Zwangsläufigkeit und Vorhersehbarkeit häufig überschätzt.

Urbanisierung: Die Unvorhersehbarkeit

Dass New York – oder auch Mumbai und London – aktuell als Global Cities begriffen werden, wird dann aus heutiger Sicht zu einem historisch zwangsläufigen sowie seinerzeit vorhersehbaren Ergebnis gesellschaftlicher Entwicklung.

Solche kognitiven Verzerrungen haben zur Folge, dass in der (heutigen) Gegenwart in Diskursen über die urbane Zukunft oder in Verlautbarungen stadtplanerischer Absichten häufig ein hohes Maß an Gewissheit mitschwingt.

Zugleich wird suggeriert, dass zukünftige Urbanisierungsprozesse wiederum ebenfalls hochgradig kontrollier-, plan- und gestaltbar sind. Dass die Sache so einfach nicht ist, hat etwa der Soziologie und Stadtforscher Richard Sennett schon vor längerer Zeit deutlich gemacht.

Frankfurt trägt den Spitznamen Mainhattan, und das völlig zu Recht. Doch man sollte auch nicht unterschlagen, dass die Skyline eine relativ neue Entwicklung ist. Noch im Jahr 1966, als das Shell-Hochhaus bezogen wurde, gab es in der Innenstadt keinen einzigen Wolkenkratzer.

Erst zu jener Zeit begann die Mainmetropole mit dem Verdichtungsprozess in der Innenstadt. Da Platz fehlte, baute man nach oben. Es begann nahe der Alten Oper, mit dem (heute nicht mehr existenten) Zürich-Haus. Der Kampf um neue Bauflächen führte zu gewaltsamen Protesten, besonders im Stadtteil Westend, wo alte Villen abgerissen wurden, um modernen Hochhäusern Platz zu machen.

Die ersten Hausbesetzungen

In Frankfurt am Main gab es damals die bundesweit ersten Hausbesetzungen, es kam zu Straßenschlachten zwischen Demonstranten und der Polizei. Der spätere Bundesaußenminister Joschka Fischer wohnte seinerzeit in der Stadt und war einer der Mitstreiter. Die Häuserkämpfe gehörten zum Straßenbild, es waren unruhige Jahre, als Demonstranten von "Bankfurt" und "Junkfurt" sprachen.

Das Unwohlsein am verkehrsgerechten, lauten und schmutzigen "Krankfurt" brachte eine starke Gegenbewegung hervor: Vom beeindruckenden Museumsufer mit seinen perlenartig aufgereihten Ausstellungshäusern haben die Bewohner und der Ruf der Stadt immens profitiert, doch der Wiederaufbau der gemütlichen Ostzeile auf dem Römerberg war für die Identität der Stadt ebenfalls nicht zu unterschätzen.

In gewisser Weise wurde nun der Akzent auf eine ästhetische Komponente des Urbanismus gelegt – auf die Frage, wie reale Räume als Lebensumwelt erfahrungsstiftend erlebt und gebraucht werden.

Welches Identifikationsangebot für die Bewohner?

Doch welchen Sinn stiftet das jenseits der vielfältig subjektiven und kommunizierbar objektiven Komponenten der Stadtentwicklung? Welches Identifikationsangebot gibt es für die Bewohner, wenn die Herstellung von Stadträumen selbst abstrakt vonstattengeht?

Heute wünschen wir uns die meisten Dinge in einer Schachtel und mit Schleife, und so bekommen wir sie auch – ihres Ursprungs beraubt, um ihre eigenen, wahren Geschichten gebracht, die Geschichten von Menschen, von Arbeit, von Leben. Früher wäre diese Art von Ahnungslosigkeit nicht möglich gewesen. Früher konnten wir gar nicht umhin zu wissen, von welchem Fleckchen Erde die Kartoffel auf unserem Teller stammte.

Wir wußten, wessen Hände diesen Teller geformt und gebrannt hatten. Wir wußten, wer unsere Schuhe gefertigt hatte und wessen Kuh geschlachtet wurde, um das Leder zu liefern. Wir wußten, aus welcher Quelle oder Brunnen oder Regenfaß unser Wasser geschöpft wurde.

In vielen Teilen der Welt wissen die Menschen immer noch um diese Dinge, aber in den Regionen, die wir die entwickelten Nationen der Erde nennen, ist die Kenntnis von solcherlei Fakten inzwischen sehr verschwommen und hat fast den Charakter von Märchen angenommen: Die Vorstellung von Verknüpfungen wirkt bezaubernd, aber eher unwirklich.

Leah Hager Cohen. (aus "Glas, Bohnen, Papier")

Tatsächlich entstand und entsteht auf diese Weise eine seltsame Wirklichkeit: Als Produkte treten manche (Stadt)Räume jetzt als zwar beseelt wirkende, aber autonome Objekte auf – ohne jede Verbindung zu menschlicher Arbeit.

Was wiederum anschaulich vorführt, was Karl Marx vor langer Zeit voraussah: Die wirklichen Geschichten der Arbeit gehen verloren, stattdessen scheinen die Waren fertig und schon mit Preis versehen vom Himmel zu fallen.

Was soll Frankfurt sein?

Der Blick auf die strukturellen Entwicklungen in Frankfurt am Main seit der Nachkriegszeit offenbart uneinheitliche und ambivalente Tendenzen. Der Abriss des Technischen Rathauses war genauso eine Zäsur wie der Neubau der Europäischen Zentralbank (EZB) auf dem Gelände der Großmarkthalle im Frankfurter Ostend ein Meilenstein.

In den Diskursen und Debattengegenständen – vom Bahnhofsviertel bis zur Rekonstruktion der Altstadt – kommt eine facettenreiche, vielfältige und unter großen Lasten ächzende Stadt zum Vorschein. Die Zeitgenossen diskutierten zahlreiche Probleme und Herausforderungen in ihrem urbanen Umfeld.

Deutlich unterschiedliche und mehr oder weniger Erfolg versprechende Zukunftsvisionen errichteten massive Trennlinien zwischen ihnen.

Frankfurt wurde und wird gleichzeitig als eine internationale, moderne, selbstbewusste, erstickende und umkämpfte Stadt empfunden – und beobachtet. Offenkundig imaginieren die Akteure widersprüchliche, in jedem Fall multiple Zukünfte. Dies bestimmte auch das Denken und Handeln in der städtischen Öffentlichkeit.

Mainmetropole als "kleine Weltstadt"

Politische Programme zur künftigen Stadtentwicklung, Versuche der weltweiten Repräsentation eines attraktiven Stadtbildes und Widerstände 'auf der Straße' ergaben und ergeben in der Summe kein harmonisches und klar konturiertes Bild von Frankfurt. (Ebenso wenig übrigens auch von Berlin oder Hamburg.)

Frankfurts jüngerer Entwicklungsprozess wurde von begangenen wie unbegangenen Wegen geprägt. Ganz unterschiedliche Protagonisten waren involviert, prognostizierten zahlreiche Zukunftsbilder und stützten sich auf unterschiedliche Referenzrahmen.

Jedenfalls war der Weg Frankfurts zur "kleinen Weltstadt" ein nicht linearer. In dessen Verlauf entstand eine Mainmetropole der blended modernities: weder determiniert von simplen Imitationen zuvor bereits existierender Ideen noch komplett neu kreiert als Folge vollkommen origineller Gedanken.

Bleibt freilich die Frage, ob man es in Frankfurt am Main, das sich als einzige deutsche Stadt unter die "Global Cities" zählt, hätte besser wissen können.