Frankreich: Eine veritable Staatskrise

Demonstration in Paris gegen Rentenreform am vergangenen Donnerstag, den 16. März. Bild: Bernard schmid

Gewalt bei Protesten gegen Rentenreform, die politisch brachial durchgesetzt wurde. Verwüstungen in Paris. Steigen die Gelbwesten wie Phönix aus der Asche?

Was ist los in Frankreich? Das Gesetz zur Rentenreform ist beschlossen – Genaueres und manches unbekannte Inhaltliches zur Reform hier. Das Misstrauensvotum gegen die Regierung ist gescheitert. Gestern gab es in Paris starke Protestbekundungen.

Radikalisierung und Machtprobe

Im Land gehen die Streiks weiter. Nicht nur die Müllabfuhr in Paris wird weiter bestreikt. Es traf auch die Raffinerie in Feyzin, wie auch die zweitgrößte Erdölraffinerie in Donges, die heute von der Polizei geräumt wurde. Beide gehören zum Konzern TotalEnergie.

Die Gewerkschaft CGT blockiert die Ausfahrt von Lastwagen im Erdöldepot von Fos-sur-Mer bei Marseille. Auch der Zugang zum AKW in Bugey (Ain) wurde von 300 bis 400 Streikenden blockiert. Die Strom-Produktion war davon aber nicht betroffen, berichtet Le Monde.

Tankstellen haben Versorgungsprobleme. Dies gibt schon den ersten Einblick in die Situation, die von einer Radikalisierung geprägt ist. Die Gewerkschaft CGT, die beste Verbindungen in den Energiesektor hat, stellt die Regierung Macron vor eine Machtprobe. Dass in der Gewerkschaft bald Wahlen anstehen, spielt da sicher auch eine Rolle.

Im größeren Bild wiegt jedoch schwerer, dass Macron politische Strategiefehler bei der Reform gemacht hat. Mit dem Ergebnis, dass er die Gewerkschaften – und einen Großteil der Bevölkerung – gegen sich hat. Etwa zwei Drittel der Franzosen sollen laut einer Umfrage auf einen Sturz der Regierung gehofft haben (BR24). Es kam ihm offenbar nicht in den Sinn, eine "systemische Reform" über einen übergreifenden Dialog mit Gewerkschaften und Vertretern anderer Organisationen, die eine Nähe zur bevölkerung haben, zu versuchen.

Stattdessen probierte er es auf die harte Weise mit der Veränderung von einzelnen rechnerischen Größen, die sich im Gesamtbild als Verschlechterung der Lebenssituation darstellten.

Oder, um es krasser zu formulieren: Die Reform wurde als neoliberal verstanden, ähnlich wie Hartz-IV in Deutschland, die im Gegensatz zur Einkommenslage vieler steht und die Position der wirtschaftlichen Eliten stärkt.

Als intellektuelles Sprachrohr dieser Sichtwelle kann man Didier Eribon heranziehen, der auch in Deutschland durch sein Buch "Rückkehr nach Reims" einen Namen hat. In einem aktuellen Tweet schreibt er:

Wir sprachen über den Kampf gegen die Rentenreform, aber auch im weiteren Sinne über die Arbeitsbedingungen, die Veränderungen in den Berufen, den Abbau der öffentlichen Dienste (Gesundheit, Bildung, Transport usw.), die wirtschaftliche und soziale Gewalt ...

... die die neoliberale Ideologie und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf das Leben aller Arbeitnehmer hervorbringen.

Didier Eribon

Dass aber auch Autoren in der britischen Financial Times kürzlich zugunsten der Franzosen kommentierten, die gegen die Reform protestierten, weil diese noch eine Ahnung vom guten Leben hätten, spricht Bände.

Legitimationskrise

Man habe nun eine veritable Staatskrise, heißt es aus Frankreich. Eine Legitimationskrise, die das System der fünften Republik, das auf einen starken Präsidenten setzt, erschüttere. Entsprechende Forderungen nach einer grundlegenden Reform werden von oppositionellen Medien mit neuer Verve in die Debatte geworfen. Es sei eine Krise der demokratischen Legitimation, sagen Kenner der französischen Politik.

Auch Präsident Macron ahnt dies, setzt aber weiter auf Unnachgiebigkeit. Heute erklärte er, dass es kein Referendum zur Rentenreform geben wird.

Vieles spricht dafür, dass der Machtkampf außerhalb des Parlaments weitergeht. Die Diskussion hat sich radikalisiert, so die Beobachtung. Den etablierten Medien, vor allem den Fernsehsendern, wird vorgeworfen, dass sie zum Polemisieren neigen und zum Simplifizieren, zur Lagerbildung, die nun Extremisten, links wie rechts, in den Hände spiele. Die Bevölkerung sei nicht genügend über die Probleme der Alterspyramide informiert worden, statt einer inhaltlichen Auseinandersetzung, habe man Positionen plakatiert.

Aus Paris kommen Bilder von tumulthaften Protesten mit gewalttätigen Szenen, bei denen erneut die Polizei mit brutalen Einsätzen auffällt. Diese werde nicht nur von Medien der kritischen "Gegenöffentlichkeit" veröffentlicht.

Der Skandal der brutalen Polizeieinsätze wird auch von reichweitenstarken Sendern abgelichtet, die nicht um Ruf stehen, das System verändern zu wollen.

Viel wird dieser Tage in Frankreich auch darüber gesprochen, ob die Proteste zu einer Wiederbelebung der Gelbwestenbewegung führen könnten. Tatsächlich heißt es auf den Seiten der Bewegung, dass man jetzt weitermache. "Auch wir werden durchgreifen. Die Repression wird unseren Aufstand nicht stoppen", wird auf Twitter von den Gilets jaunes gerufen. Bis vor Kurzem galt die Bewegung als politisch erledigt.

Doch unterscheidet sich die Situation vom November 2018, als, wie es auch einige Historiker so bezeichneten, eine neue "soziale Bewegung" entstand. Zwar sind auf Bildern von Demonstrationen und Blockaden Gelbwesten zu sehen und auch die Medien, etwa Quartier General von Aude Lancelin, die viel Sympathie für die Gelbwestenbewegung und ihren Protest gegen Ungleichheiten und die Bevorzugung von Privilegierten zeigen, bekommen durch die aktuellen Geschehnisse neue Aufmerksamkeit.

Aber im Augenblick spielen die Gewerkschaften eine sehr viel mächtigere Rolle.