Frankreich: Erfolgreiche Sperrmechanismen
Warum Protestparteien in unserem Nachbarland kaum Chancen haben
Warum existiert in Frankreich keine "Protestpartei", vergleichbar mit der UKIP in Großbritannien oder der niederländischen PVV? Die Fragestellung selbst wirft Fragen auf. In Erinnerung kommt zunächst ein im Jahr 1979 erschienenes Büchlein aus dem Rowohlt-Verlag, das damals so etwas wie ein Standardwerk (im Taschenbuchformat) zu allen möglichen Protestparteien auf der Linken wie auf der Rechten bildete: "Protest - Grüne, Bunte, Steuerrebellen". Die historisch älteste Formation, die darin behandelt wird, ist just eine französische Protestpartei, auch wenn diese inzwischen der Vergangenheit angehört.
Es handelt sich um jene der so genannten "Poujadisten". Diese parteiförmige Bewegung, die in den Jahren 1953 bis 1956 die französische Politik vorübergehend durcheinanderwirbelte - und danach relativ schnell wieder verschwand -, ließ bei den Parlamentswahlen vom 02. Januar 1956 einen 27-Jährigen zum jüngsten Abgeordneten der Pariser Nationalversammlung wählen. Einen gewissen Jean Le Pen. Die doppelten Vornamen waren zu jener Zeit noch nicht in Mode gekommen, und der damals junge Mann sollte später unter dem Namen Jean-Marie Le Pen noch zu einiger Berühmtheit kommen. Auch heute noch spielt er eine gewisse Rolle in der französischen Politik.
Dies deutet zumindest darauf hin, dass zum einen die kurzlebigen Erfolge der "Poujadisten" - die vor allem einen kleinbürgerlichen Protest gegen Steuern und Sozialstaat verkörperten - nicht völlig spurlos geblieben sind. Und dass es zum anderen durchaus auch in Frankreich Newcomer im politischen System gegeben hat und damit vielleicht auch weiterhin geben kann.
Sperrmechanismen des politischen Systems
Zunächst einmal grundsätzlich: Jedes politische System und zumal jedes Parteiengefüge verfügt über seine je eigenen Sperrvorrichtungen. Diese sollen verhindern, dass neue politische Kräfte, zunächst einmal unabhängig davon, wie man ihre politischen Inhalte bewerten kann, von progressiv bis faschistisch, auftauchen und als erfolgreiche Eindringlinge die Etablierten teilweise verdrängen. In der Bundesrepublik wirkte und wirkt die Fünf-Prozent-Hürde bei Landtags- und Bundestagswahlen als eine solche Blockade.
Vor dem Hintergrund einer seit Ende der 1950er Jahre (und dem Verschwinden der Vertriebenenpartei BHE, "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten", die weitgehend durch die CDU/CSU aufgesogen wurde) ultrastabilen politischen Landschaft verhinderte dieser relativ schwache Sperrriegel 25 Jahre lang den Eintritt neuer politischer Kräfte, jedenfalls ins Bundesparlament. Die rechtsextreme NPD, die von 1966 bis 68 einige Wahlerfolge auf Länderebene feiern konnte, scheiterte 1969 bei der Bundestagswahl an der Fünf-Prozent-Klausel und stürzte danach alsbald in die langjährige Bedeutungslosigkeit ab.
Erst der Aufstieg der Grünen und ihr Einzug in den Bundestag 1983 veränderte erstmals dessen Zusammensetzung. Es folgten später, als Nebenprodukt der Wiedervereinigung, die PDS und - in der historischen Folge - die Partei Die Linke. Aber in beiden Fällen schafften es die betreffenden politischen Kräfte nicht direkt, die Hürde zu nehmen, sondern erzielten ihre ersten Erfolge gewissermaßen an ihr vorbei. Die Grünen hatten zunächst auf Länderebene (ab 1979 in Bremen) Erfolg und erreichten zumindest einen Achtungserfolg bei den allerersten Europaparlamentswahlen im Juni 1979.
In den Bundestag kamen sie erst im zweiten Anlauf: 1980 erzielten sie ein bescheidenes Ergebnis, erst 1983 klappte es. Und die PDS nahm 1990 bundesweit nicht die Fünf-Prozent-Hürde, kam aber in den Bundestag, weil bei den ersten gesamtdeutschen Parlamentswahlen die alte BRD und die frühere DDR zwei getrennte Wahlgebiete bildeten.
Zurück nach Frankreich: Die Sperrvorrichtungen sind in diesem Falle noch stärker als in (West-, später im wiedervereinigten) Deutschland. Seit 1986 ohne Unterbrechung - und bereits zuvor während längerer Perioden - galt und gilt bei den Parlamentswahlen auf nationaler Ebene hier das Mehrheitswahlrecht. Dies hinderte die "Poujadisten" nicht an ihrer vorübergehenden Erfolgswelle in den fünfziger Jahren, denn damals unter der "Vierten Republik" galt just noch das Verhältnisrecht. Es war Charles de Gaulle, ab 1958 an der Macht, der sowohl den "Poujadisten" die Wähler wegnahm, als auch erstmals das Mehrheitswahlrecht etablierte.
Linkes Lager, rechtes Lager und der Bündniszwang
Anders als in Großbritannien weist es allerdings nicht nur einen Wahlgang auf - unter Anwendung des Prinzips The winner takes it all -, sondern funktioniert in zwei Durchgängen. Zwischen den beiden Wahlgängen haben die politischen Blöcke, also grob gesprochen vor allem "die Linke" (im weitläufigen Sinne) und "die Rechte", jeweils Zeit, um sich hinter den erfolgreichsten Kandidatinnen oder Kandidaten ihres jeweiligen politischen Lagers zu sammeln. Dies bedeutet, dass die schwächeren Parteien der Linken oder der Rechten sich dafür entscheiden können, die stärkeren Bewerber auf ihrer jeweiligen politischen Flanke in der Stichwahl zu unterstützen.
In der Regel geschieht dies nach vorherigen Verhandlungen, bei denen die Letztgenannten gewisse Zugeständnisse in einzelnen Programmpunkten an die Ersteren machen. Läuft es gut, dann wird die stärkste Kraft in einem politischen Block einer der schwächeren Kräfte auch bestimmte Wahlkreise zuschanzen, in denen der Stärkere den Schwächeren "Huckepack" nimmt, also seine Kandidaturen unterstützt. Auf diese Weise kommen etwa in der Regel die grünen Abgeordneten ins Parlament, indem die Sozialdemokratie sich in der einer bestimmten Zahl von Wahlkreisen zu ihren Gunsten zurückzieht und sie schon im ersten Wahlgang unterstützt.
Dies hat mindestens drei Auswirkungen. Zum einen kommen allzu schwache politische Kräfte gar nicht in Verlegenheit, an einen Einzug in die Nationalversammlung oder den Senat zu denken. Denn aufgrund des in beiden Fällen geltenden Mehrheitswahlrechts ist völlig ausgeschlossen, dass sie auch nur den Hauch einer Chance hätten, Kandidatinnen oder Kandidaten durchzubekommen: Diese müssten mindestens eine relative Mehrheit erreichen, also etwa bei drei Kandidaturen in der Stichwahl (mehr bleiben sehr selten im zweiten Durchgang übrig) mehr als ein Drittel der Stimmen, auf sich vereinigen, können.
Zum Zweiten bleibt mittelgroßen Parteien jedoch die Chance, in Verhandlungen mit den jeweils größten Parteien auf "der Linken" oder "der Rechten" zu treten. Dies setzt aber voraus, dass sie von jenen als seriöse Bündnispartner anerkannt werden, deren Anwesenheit an ihrer Seite die stärkeren Parteien nicht zu diskreditieren droht.
Und zum Dritten zeichnet sich jeweils eine relativ klare Scheidelinie zwischen einer "linken" und einer "rechten" Hälfte des politischen Systems ab, die bei jeder Wahl spätestens nach dem ersten Durchgang wiederhergestellt wird. Dies entspricht auch einer politischen Geschichte des Landes, in der die Polarisierung zwischen grundsätzlichen Orientierungen und politischen Ideen erheblich stärker ausfiel als in Nachkriegsdeutschland nach 1949: Es ist in Frankreich völlig üblich, dass sich Sympathisanten der Sozialdemokratie als "Linke" und Konservative oder Liberale als "Rechte" bezeichnen, während solche Titulierungen in Deutschland eher dezidierten Linksradikalen oder Anhängern der Linkspartei auf der einen Seite, Halb- und Vollnazis auf der anderen Seite zugeschrieben werden.
In den letzten Jahren werden diese politischen Zuordnungen allerdings zunehmend brüchig, insbesondere deswegen, weil sich beide großen Lager jedenfalls in der Wirtschaftspolitik oft kaum noch unterscheiden. Zumal sozialdemokratisch geführte Regierungen "Sachzwänge" des Neoliberalismus und der Sparpolitik heute weitgehend unwidersprochen hinnehmen. Bislang führte dies nicht zu größeren politischen Brüchen, die heute aber auch nicht ausgeschlossen werden können - am Ausgang der letzten sozialdemokratischen Präsidentschaft vor jener François Hollandes, also am Ende der Amtszeit François Mitterrands (1981-1995), kam es jedenfalls zu stärkeren Verwerfungen im Mitte-Links-Spektrum, die noch anzusprechen sein werden.
Dennoch kam es jedenfalls im Augenblick, im Jahr 2013, nicht zu einem dauerhaften Aufbrechen der bisherigen politischen Kategorien. Dies bedeutet, dass die Einordnung in ein "Links"-"Rechts"-System, so verwässert die damit verknüpften politischen Inhalte auch in der Praxis zum Teil sein mögen, bislang nicht grundlegend in Frage gestellt erscheint. Aus diesem Grund haben außerhalb der bekannten politischen Blockbildungen stehende Kräfte es auch nach wie vor schwer, auf die politische Bühne vorzudringen und sich dauerhaft zu etablieren.
Schlupfloch Europaparlamentswahlen
Dennoch gibt es auch in Frankreich Schlupflöcher, durch die hindurch neue politische Akteure - wiederum unabhängig davon, wie man ihre Inhalte bewerten muss - es auch in der Vergangenheit schaffen konnten, einen Weg auf die politische Bühne zu finden. Dies gilt insbesondere für die Europaparlamentswahlen, denn bei ihnen wurde lange Zeit auch in Frankreich die Fünf-Prozent-Klausel angewandt, und das Mehrheitswahlrecht fiel zugunsten eines (bei den EU-Wahlen in allen Mitgliedsländern geltenden) Verhältniswahlrechts weg.
Allerdings hat sich die Ausgangslage für kleinere Parteien in jüngster Zeit verändert: Seit der Wahlrechtsreform im Jahr 2003 gilt zwar bei den Europaparlamentswahlen in Frankreich auch weiterhin das Verhältniswahlrecht; allerdings wird das französische Staatsgebiet bei den EP-Wahlen nicht mehr als einheitliches Wahlgebiet behandelt, sondern in acht "Superwahlkreise" aufgeteilt. Letztere entsprechen keinerlei bestehender Verwaltungsstruktur und auch keinen historischen Gegebenheiten, sondern sind aus Sicht der meisten Beobachter relativ willkürliche Einteilungen.
Da Frankreich über insgesamt 72 Sitze im Europäischen Parlament verfügt, stehen jedem dieser "Superwahlkreise" acht bis zehn Mandate zu. Dies bedeutet, dass folglich eine Liste mindestens ein Zehntel bis ein Achtel (also 12,5 Prozent) der abgegebenen Stimmen benötigt, Die Ergebnisse der kleineren Listen fallen dabei unter den Tisch. Dies war wohl auch der Hauptzweck der Übung.
Für den Durchbruch neuer Parteien weniger in Frage kommen andere Wahlgänge. Bei Kommunalwahlen gilt zwar in den größeren Gemeinden und Städten das Verhältniswahlrecht (bei den Kommunen mit unter 3.500 Einwohnern hingegen das Mehrheitswahlrecht), jedoch mit einer Zehn-Prozent-Hürde. Ferner wird die jeweils stärkste Liste mit einem "Bonus" in Gestalt von zusätzlichen Sitzen belohnt, um eine Bildung stabiler Mehrheiten zu ermöglichen. Ähnlich laufen, seit einer Reform aus dem Jahr 2013, auch die alle sechs Jahre stattfindenden Regionalparlamentswahlen.
Hinzu kommt, dass sowohl die Kommunalparlaments- als auch die Regionalparlamentswahlen gleichzeitig in ganz Frankreich stattfinden. So werden die nächsten Kommunalparlamentswahlgänge, die im März 2014 anstehen, in allen 36.000 französischen Kommunen, vom Dorf bis zu den Zentren Paris - Lyon - Marseille an denselben beiden Sonntagen ablaufen. Deswegen ist es weniger leicht für eine neue politische Kraft, hier ihren Durchbruch zu feiern.
In Westdeutschland, wo (wie auch heute im wiedervereinigten Deutschland) die jeweiligen Landtage an getrennten Terminen gewählt wurden, konnte etwa die rechtsextreme Partei "Die Republikaner" in den späten achtziger Jahren mehrere Landtagswahlen nutzen, um ihren Durchbruch voranzutreiben. Im Oktober 1986 erzielten sie in Bayern einen Achtungserfolg mit drei Prozent der Stimmen, im Januar 1989 im damaligen Westberlin einen Donnerschlag mit 7,5 Prozent. Letzterer löste dann auch einen bundesweiten Widerhall aus, denn nachdem die "REPs" einmal bewiesen hatten, dass sie die Fünf-Prozent-Hürde nehmen konnten, folgte eine Dynamik zu ihren Gunsten.
Im Juni 1989 erzielten sie dann auch bundesweit 7,1 Prozent bei den darauffolgenden Europaparlamentswahlen. Aus anderen Gründen fielen sie jedoch später in die Bedeutungslosigkeit zurück. In Frankreich wäre dies von vornherein schwerer. Denn ein Erfolg in nur einer von insgesamt 22 Regionen, deren Parlamente gleichzeitig neu gewählt werden, hätte kein vergleichbares Gewicht.
Es waren und sind also in aller Regel Europaparlamentswahlen, bei denen Durchbrüche für bis dahin nicht parlamentarisch vertretene politische Kräfte in Frankreich stattfinden. Die Lage ist insofern mit jener im Vereinigten Königreich vergleichbar. Denn sowohl die britischen Grünen vor über 20 Jahren als auch die nationalistische und EU-kritische UKIP (2004 und 2009) und zuletzt die rechtsextreme BNP (2009) erlangten - auf landesweiter Ebene - erstmals durch Europaparlamentswahlen Bedeutung und Sitze.
Extreme Rechte
Dies gilt in Frankreich in ähnlicher Weise vor allem für den rechtsextremen Front National (FN). Seinen Durchbruch bei einer landesweit stattfindenden Wahl erzielte er erstmals bei den Europaparlamentswahlen im Juni 1984, bei denen er 10,95 Prozent der Stimmen einsammeln konnte.
Und hier liegt vielleicht auch ein Teil der Antwort auf die Frage nach dem Fehlen rechter Protestparteien oder nationalistischer "Alternativen": Ihr Platz ist im französischen Parteiensystem bereits besetzt! Tatsächlich okkupiert der FN unter Marine Le Pen (seit Januar 2011), zuvor unter langjähriger Führung ihres Vaters Jean-Marie Le Pen - an der Spitze der Partei seit 1972 -, einen ähnlichen Platz im politischen Koordinatensystem wie etwa BNP und UKIP auf den britischen Inseln, die "Wahren Finnen" (PS) in Finnland oder die Lega Nord in Italien. Nur kam er wesentlich früher auf die politische Bühne als diese Parteien.
Auch die PVV in den Niederlanden belegt einen ähnlichen Standort im nationalen politischen System; die Anführer beider Parteien, Marine Le Pen und Geert Wilders, trafen im Übrigen im April 2013 in Paris zusammen und vereinbarten eine engere Kooperation.
Nichtsdestotrotz bestehen beträchtliche Unterschiede in der Funktionsweise und teilweise auch im Diskurs dieser Parteien. Der französische Front National gab sich zumindest in einer Anfangsphase in den siebziger Jahren wenig Mühe damit, seine Wurzeln im historischen Faschismus zu verbergen. Die züngelnde Flamme in den drei Farben der Trikolore wurde damals vom italienischen neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano) übernommen und lediglich von grün-weiß-rot in die französischen Nationalfarben blau-weiß-rot adaptiert. Das italienische Original verkörpert jedoch "die Seele Benito Mussolinis, die aus seinem Sarg in den Himmel auffährt".
Heute macht der französische FN zwar sicherlich keine Werbung mit solchen Wurzeln, doch lassen sie sich schlecht leugnen. Aber Parteien wie die PVV in den Niederlanden haben andere Ursprünge, so kam Geert Wilders aus dem rechtsliberalen Spektrum, bevor er sich ab etwa 2005 weitgehend auf die rechte "Islamkritik" als Spezialität verlegte.
Trotzdem gibt es in mehreren wichtigen EU-Ländern Parteien auf der Rechten, die sich um einen gemeinsamen Platz auf der politischen Bühne streiten und von denen manche offen faschistischer, manche eher rechtsbürgerlicher Herkunft sind. Beide Seiten versuchen jedoch, ein zwischen ihnen umzanktes Publikum mit ähnlichen vordergründigen Inhalten - Stänkern gegen Einwanderer, Kritik an EU-Integration und Euro, Bedienen von gesellschaftlich verbreiteten Ressentiments - anzusprechen. Lediglich die historischen Hintergründe und ihr jeweiliger Erfolg unterscheiden sich.
So versucht derzeit auch in Deutschland die rechtsbürgerliche Anti-Euro-Partei "Alternative für Deutschland" (AfD), Sympathisanten der aus der Nazi-Erbmasse kommenden NPD als Wähler zu gewinnen. Aufgrund der politischen Geschichte der letzten dreißig Jahre ist es in Frankreich jedoch so, dass der rechtsextreme Front National und nicht eine eher rechtsbürgerlich geprägte Partei die Nase vorn hat.
Es hätte eine Zeit lang anders laufen können: Um 2005 schien der rechtskatholische Politiker Philippe de Villiers - im deutschsprachigen Raum stünde er vielleicht auf dem rechten Flügel der CSU, ähnlich wie zeitweilig Peter Gauweiler -, die Anhängerschaft des damals in der Krise steckenden Front National mehr oder minder erfolgreich anzusprechen. Die politische Entwicklung verlief dann jedoch anders. Unter anderem vielleicht deswegen, weil de Villiers nicht in glaubwürdiger Form neben der rechten EU-Kritik auch die "soziale Frage" ansprechen konnte.
Andere "neue" politische Kräfte
Aber es ist nicht allein der Front National, der in den letzten Jahrzehnten Durchbrüche - zeitweilige oder vorübergehende - bei Wahlen, insbesondere zum Europaparlament, schaffen konnte. Auch in anderen Fällen wurden die stärksten Parteien, auf der "Linken" wie auf "Rechten", zeitweilig scheinbar durch politische Newcomer verdrängt.
Auf der konservativen Rechten schien dies jedenfalls vorübergehend dem bereits erwähnten Philippe de Villiers zu gelingen. In den neunziger Jahren schaffte er es zwei Mal hintereinander, bei den Europaparlamentswahlen in beträchtlicher Höhe abzuschneiden: Im Juni 1994 erhielt die von ihm angeführte Liste 12 Prozent der Stimmen und überflügelte damit den Front National (damals 10 Prozent). Im Juni 1999 tat er sich mit dem nationalkonservativen Ex-Innenminister Charles Pasqua zusammen, und ihre gemeinsame Liste unter dem Namen RPF ("Sammlung für Frankreich") wurde zu dem Zeitpunkt sogar die stärkste Kraft auf der Rechten überhaupt. Mit ihren 13,05 Prozent der Stimmen stand sie nämlich sowohl vor der konservativ-wirtschaftsliberalen Liste von Nicolas Sarkozy (12,5 Prozent) als auch deutlich vor jener des FN.
Die beiden rechten EU-Kritiker de Villiers und Pasqua stellten sich lediglich in der Folgezeit selbst ein Bein. Untereinander zerstritten, überzogen sie sich gegenseitig mit Vorwürfen, vor allem nachdem im Januar 2001 ein internationales Waffengeschäft, die so genannte Falcone-Affäre, aufflog, in deren Folge Charles Pasqua in ein Strafverfahren verwickelt (und Jahre später auch verurteilt) wurde. Ihr Bündnis flog auseinander.
Auch im Mitte-Links-Spektrum zeichnete sich zeitweilig eine Krise der am stärksten etablierten Parteien ab, die zugunsten "neuer" politischer Kräfte ausfallen könnte. Bei den Europaparlamentswahlen im Juni 1994 landete die Sozialdemokratie, deren Liste durch Ex-Premierminister Michel Rocard angeführt wurde, mit nur noch 14 Prozent in einem Rekordtief. Dies war unter anderem eine Folge der damals dreizehnjährigen Regentschaft von François Mitterrand, dessen Bilanz aus Sicht einer eher linken Wählerschaft zunehmend frustrierend ausfiel.
Zu den stärksten Gewinnern zählte dabei eine populistische Liste, die im weiteren Sinne dem Mitte-Links-Lager zugeschlagen wurde, unter dem windigen Geschäftsmann Bernard Tapie. Der Geschäftemacher und zeitweilige Chef des Marseiller Fußballclubs Olympique Marseille weist eine gewisse Ähnlichkeit zu Silvio Berlusconi auf, er war jedoch seit 1992 durch Präsident Mitterrand politisch aufgebaut worden.
Seine Liste erzielte damals 12 Prozent der Stimmen bei den Wahlen zum Europaparlament. Doch seine weitgehende Inhaltsleere - als Rezept gegen Arbeitslosigkeit schlug er etwa schlicht vor, sie für "gesetzlich verboten" zu erklären - sorgte dafür, dass der Erfolg nur von kurzer Dauer blieb.
Heute könnte er jedoch wieder auf die politische Bühne drängen: Tapie, der im vergangenen Jahr drei Regionalzeitungen in Marseille aufkaufte, will dort voraussichtlich zu den Kommunalparlamentswahlen im März 2014 antreten und rechnet sich dort Chancen aus. Ferner ist generell damit zu rechnen, dass bei den Kommunal- und den im Mai 2014 darauffolgenden Europaparlamentswahlen die französische Sozialdemokratie heftig abgestraft wird. Die Entwicklung ist also durchaus sehr offen.
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