Frankreich: "Steuern runter, aber ganz schnell"

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Die Regierung wertet das Gespräch mit der Nation aus

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Die Idee ist außergewöhnlich und groß in der Ankündigung; sie beabsichtigte, Grenzen zu überschreiten: Eine ganze Nation soll über ein besseres Zusammenleben sprechen, die Regierung wird dann daraus politische Konsequenzen ziehen, die die Nation neu begründen. "Einen neuen Vertrag für die Nation", versprach Präsident Macron Mitte Januar in seinem langen Brief zur Großen Debatte (Macrons Brief an die Nation: "Lasst uns über alles reden"). Für den Beginn der Debatte am 15.Januar legte er eine ganze Menge Fragen vor.

Am 15. März ist Le Grand Débat zu Ende gegangen und heute hat Premierminister Eduard Philippe erste Ergebnisse der Auswertung (aufbereitet u.a. von Opinion Way, Qwam, Roland Berger) präsentiert: Die Französinnen und Franzosen beklagen sich demnach über zu hohe Steuern. Vor allem wollen sie nicht, dass Steuern mit Pädagogik verbunden werden (Umweltsteuern auf Treibstoff, Tabak und Alkohol). Sie sind aber durchaus bereit, mehr Geld an den Staat zu zahlen, wenn die Gesundheitsvorsorge besser wird - "mehr Ärzte".

Sie sprechen sich deutlich gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 km/h auf Landstraßen aus, wollen mehr Plebiszite, eine stärkere Gewichtung der Verhältniswahlrechts bei der Besetzung des Parlaments, den Abbau von Bürokratie, mehr Nähe der höheren Beamtenschaft zur Bevölkerung und sie sind von der Dringlichkeit ökologischer Politik überzeugt - die aber nicht über Steuererhöhungen geschehen darf.

Wie, das ist alles, nach drei Monaten großer Debatte mit geschätzt 1,5 Millionen Teilnehmern? Nein, es ist nur das Hors d' oeuvre, die Vorspeise, wörtlich: "außerhalb des Werkes". Alle warten auf Maître Macron, der Mitte April die Hauptsache beibringen soll. Manche Zeitungen ignorierten gänzlich, was der Premierminister heute als Auftakt zu einer ganzen Reihe von geplanten Präsentationen lieferte. Haften bleiben werden ein paar Aussagen, wie die Ankündigung Philippes: "Wir müssen die Steuern senken und zwar ganz schnell."

Beim Tempolimit kündigte er eine gewisse Bereitwilligkeit an, trotz eigener Überzeugungen - "Die Geschwindigkeitsbegrenzung verhindert Tote" - den anders gelagerten Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung eventuell nachzukommen.

Zu beiden Punkten gibt es bereits kritische Gegenreaktionen. Auf Twitter mokiert man sich darüber, dass die Steuerkürzungen wahrscheinlich typischerweise den Reichen zugute kommen werden und die Scheu des Ministerpräsidenten vor einer definitiven Aussage zum Tempolimit erntet ebenfalls keine Beifallsstürme. Alle anderen Ausführungen Philippes sind ohnehin unverbindlich.

Eine neue Republik ...

Ins Auge fällt der Kontrast zwischen geweckten Erwartungen und dem, was dann "geliefert" wird und das könnte das nächste Problem für Macrons Präsidentschaft werden, sollte er seine Antwort auf das Gespräch mit der Nation, die für Mitte April angekündigt ist, ebenso niedrig hängen und wieder nur Wind machen.

Man muss sich vor Augen halten: Die Große Debatte soll eine große Antwort der Nation auf die Proteste der Gelben Westen geben. Die Gilet jaunes sind nicht das Volk, wir wollen die wahren Anliegen einer repräsentativen Bevölkerung zeigen, lautet die politische Wette Macrons. Die Gilet jaunes fordern eine neue Republik, einen Umbau des Systems.

Die Regierung antwortete darauf, indem sie die Bevölkerung aufforderte ihre Anliegen in Beschwerdeheften zu äußern, die in den Ratshäusern ausliegen, in einer unmissverständlichen Referenz an die französische Revolution von 1789, einem historischen Wendepunkt.

98 Prozent der Bevölkerung seien nur 20 Minuten Autofahrt von der nächsten Gesprächsrunde entfernt, versicherten die Organisatoren. Wissenschaftler sagten, dass das Aussagenmaterial, das über die Große Debatte an die Öffentlichkeit kommt, eine noch nie dagewesene immense Basis für Forschungen über den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft in Frankreich liefere.

Schön gedrittelt

Am Ende sollen sich etwa 1,5 Millionen Französinnen und Franzosen an Le Grand Débat beteiligt haben: 500.000 mit Beiträgen auf der Webseite, 500.000 sollen an etwa 10.000 lokalen Gesprächstreffen teilgenommen haben und die anderen 500.000 sollen Einträge bei den Beschwerdeheften (cahiers de doléances) gemacht haben oder Briefe verschickt haben.

Schon diese Ziffern lassen an den Vorrang des Konzeptionellen denken; sie versprühen nicht den Charme exakter Sachlichkeit, sondern die Absicht einer Idee. Spürt man dem nur ein bisschen und an der Oberfläche nach, so gerät man schon bei einer Randnotiz der doch eher beruhigend ausgelegten bürgerlichen Zeitung Le Monde ins Trudeln, wo von 2 Millionen Postings auf der Granddebat.fr-Webseite die Rede ist - und die lassen sich dann auf die genau passende 500.000 Chiffre herunterrechnen?

Es gibt fundiertere Kritik. Sie kommt nicht nur von der früheren Vorsitzenden der französischen Datenschutzbehörde, die bemerkt, dass die Große Debatte nicht den Wert einer Umfrage habe, sondern auch von denen, die als Garanten für die Validität der Großen Debatte ausgewählt wurden: Sie bezweifeln die Neutralität der Großen Debatte.

In eigener Sache

Die Regierung habe mit großem Einfluss und Einmischungen auf die Debatte eingewirkt, die Fragen seien suggestiv gewesen und Macron habe die Gelegenheit zu einer Hyper-Mediatisierung genutzt. 12 Millionen soll die Große Debatte gekostet haben und manche halten sie für einen vom Staat bezahlten Wahlkampf Macrons in eigener Sache.

Selbst Politologen, die der Debatte prinzipiell positiv gegenüberstehen, weil damit die Partizipation Fortschritte gemacht habe, deuten auf wichtige Kritikpunkte, etwa dass sich die soziologische Zusammensetzung der Teilnehmer der Großen Debatte kaum mit den Gilet jaunes vergleichen lasse, weil sie älter sind, öfter höhere Schulabschlüsse haben und politisch besser integriert sind.

Die ersten Ergebnisse, die heute vorgestellt wurden, geben eine Fülle allgemeiner Prozentangaben wieder, die den Charakter nicht sehr verbindlicher Äußerungen haben, etwa dass 62 Prozent das Gefühl haben, dass ihr Leben vom Klimawandel berührt wird oder dass 86 Prozent davon überzeugt sind, dass jede(r) Einzelne dazu beitragen kann, die Umwelt zu schützen.