Frankreichs Intellektuelle: "Es fehlt an kritischem Geist"
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Medien beklagen einerseits ein "geistiges Vakuum", anderseits einen Rechtsruck der Intelligenzija
Wo sind sie nur hin, all die kritischen Intellektuellen - in einem Land, in dem einstmals Geistesgrößen wie Jean-Paul Sartre, Albert Camus und andere aktiv in die gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit eingriffen?
Frankreich durchlebt eine schwere politische Krise. Seit Mitte November dieses Jahres, als die aus dem Algerienkrieg stammenden Notstandsgesetze - als vorgebliche Reaktion auf die mörderischen Attentate vom 13. November - in Kraft gesetzt wurden, nimmt das Land eine Sonderstellung innerhalb der entwickelten westlichen Demokratien ein.
Keine vergleichbare Demokratie in Europa wendet im Augenblick vergleichbare Regeln an, während Frankreich am 24. November 2015 den Europarat darüber informiert hat, dass es sich vorübergehend selbst von seinen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entbindet.
Die Regierung beruft sich dabei auf den Artikel 15 der EMRK, der einen solchen Rücktritt von ihren verbindlichen Regeln einem Staat im Kriegs- oder Katastrophenfall auf Zeit gestattet. Und dies in einem Land, in dem ohnehin eine fast beispiellose Machtkonzentration in wenigen Händen herrscht, aufgrund des seit 1958 bestehenden Präsidialsystems.
Ausnahmezustand: Kritik nur von einer gesellschaftlichen Minderheit
Die Kritik daran wächst (Frankreich: Ausnahmezustand mit "gefährlichen Elementen"), bleibt jedoch einer gesellschaftlichen Minderheit vorbehalten. Aus der Politik heraus rührt so gut wie niemand an den Entscheidungen, die auf Regierungsebene nach den Anschlägen getroffen wurden. Nur insgesamt sechs Abgeordnete auf der Linken votierten am 19. November gegen die Verhängung des Notstands mit seinen potenziell weitreichenden Folgen, wie der Grüne Noël Mamère und der junge Sozialist Pouria Amirshahi.
In weiten Kreisen der politischen Landschaft ist man der Auffassung, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt für Kritik - ja, später vielleicht - und überlässt die Formulierung von Dissens den vermeintlich dafür zuständigen Frauen und Männern an den Universitäten.
Unter Letzteren rührt sich tatsächlich etwas. Vor allem unter Juristinnen und Juristen, die quasi vom Fach her betroffen sind, mehren sich warnende und kritische Äußerungen über die Gesetzesbestimmungen. Und über die geplante Änderung an der Verfassung - die Vorlage dafür wurde am 23. Dezember im Kabinett vorgestellt -, mit welcher der Notstand noch über die bislang geltende zeitliche Obergrenze von drei Monaten hinaus wird ausgedehnt werden können.
Spartenintellektuelle, keine großen Namen mehr
Auch einzelne kritische Hochschullehrer wie der auf die Kolonialgeschichte und -verbrechen spezialisierte, sehr engagierte Politikwissenschaftler Olivier La Cour Grandmaison - er trat am 17. Dezember im Pariser Gewerkschaftshaus als Redner gegen den Ausnahmezustand auf - setzen sich sicht- und hörbar ein.
Doch diese Namen sind vor allem politisch engagierten Menschen und einem Spezialistenpublikum bekannt. Auch in der breiten Öffentlichkeit geläufige Vor- und Zunamen von Schriftstellern, Publizisten oder Philosophen sucht man hingegen eher vergeblich.
Entweder gibt es sie nicht, die "großen Namen", denn im Vergleich zur Ära eines Jean-Paul Sartre, Louis Althusser oder Michel Foucault treten viele Denkerinnen und Denker heute eher als Spartenintellektuellen in ihrem Fachbereich und/oder in einem politischen Segment der Öffentlichkeit in Erscheinung. Was natürlich auch und zuvörderst mit dem Medienbetrieb zu tun hat, in vorderster Linie mit dem Fernsehen, das nicht unbedingt die intelligentesten oder kritischsten Köpfe auch zu den bekanntesten macht.
Oder aber es gibt sie diese Intellektuellen, sie sind auch etwa über die TV-Bildschirme bekannt - und sind schlicht einverstanden mit dem, was geschieht. Bekannte Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy (den viele in Frankreich heute nicht nur aufgrund seines Finanzgebarens als Multimillionär, sondern auch wegen seines Exponierens im Libyenkrieg 2011 heute weitaus eher negativ denn positiv sehen) haben am Ausnahmezustand und dem regierungsoffiziellen "Krieg gegen den Terrorismus", mitsamt seinen konkreten Implikationen, nichts Grundsätzliches auszusetzen.
Dass es an kritischem Geist, an der Substanz bei vielen Intellektuellen fehlt - diese Feststellung trifft ein Teil der französischen Öffentlichkeit jedoch nicht erst vor dem Hintergrund der Mordattacken vom 13. November sowie der politischen Maßnahmen, die als angeblich notwendige Reaktionen auf dieselben ausgegeben wurden.
Der "Krieg der Ideen" zur Einwanderung und nationalen Identität
In den Herbstmonaten 2015 hatte sich das intellektuelle Klima zunächst deutlich aufgeheizt. Der Krieg der Ideen ist erklärt: " Antirassist, du verlierst die Beherrschung!", hieß es beispielsweise auf dem Titel der Novemberausgabe von Causeur (ungefähr: Schwätzer), einem aggressiv neokonservativen bis reaktionären, erklärtermaßen "politisch unkorrekten" Monatsmagazin.
Ein Krieg, den Elisabeth Lévy, die Herausgeberin des Magazins, in der Wochenendausgabe der Tageszeitung Le Figaro vom 07. November allerdings schon wieder für beendet erklärte. Mit folgendem Ausgang: "Die lynchwütige Linke hat verloren!" Die Titelseite der Ausgabe ziert eine Fotomontage: Ein junger Mann mit Taucherbrille versucht, mit dem Baseballschläger einen Fernsehbildschirm zu zertrümmern, auf dem der Journalist und Kommentator Eric Zemmour zu sehen ist.
Zemmours Tiraden zu Themen wie Einwanderung und nationaler Identität sind längst berüchtigt. Unter dem Bild heißt es: "Alain Finkielkraut antwortet auf die Hexenjagd" - gemeint ist jene, welche die sogenannten politisch Korrekten eröffnet hätten. In jüngster Vergangenheit sah der kulturkonservative und elitär-nostalgisch-larmoyante Philosoph Finkielkraut nicht nur das kulturelle Niveau durch den Einfluss von Massenkultur und neuen Kommunikationstechnologien bedroht, er äußerte sich auch betont negativ über Neuzuwanderung.
Bei der linksliberalen Tageszeitung Libération fühlte man sich plagiiert und verwies sogleich auf das Titelblatt einer Mitte Oktober des Jahres erschienenen Wochenend-Ausgabe. Abgebildet war der Rücken einer jungen Person, die einen Gegenstand auf einen TV-Bildschirm wirft, auf dem wiederum Eric Zemmour prangt. Die Überschrift dazu lautete: "Sie widerstehen den Réacs" - eine Kurzfassung für Reaktionäre. In dieser Ausgabe ging Libération auf die Suche nach Köpfen, die nicht dem konstatierten allgemeinen Rechtsruck der Intelligenzija im Lande anheimgefallen sind.
Das Ergebnis geriet zum Sammelsurium: Zehn ziemlich unterschiedliche Figuren wie der nationalismuskritische Historiker Nicolas Offenstadt, der Postkolonialismusexperte und Geschichtswissenschaftler Pap Ndiaye und der ansonsten eher als neokonservativ geltende Schriftsteller und Filmemacher Raphaël Glucksmann werden etwas unvermittelt nebeneinandergestellt.