Frankreichs Intellektuelle: "Es fehlt an kritischem Geist"

Seite 2: Mit aller Kraft nach kämpferischen Linksintellektuellen suchen

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Das sozialliberale Wochenmagazin L’Obs (früher Le Nouvel Observateur) wiederum kritisiert dieses Vorgehen und kopiert es dennoch: "Wer sind die neuen Intellektuellen auf der Linken?", fragt die Titelseite und garantiert, in der Ausgabe fänden sich "null Prozent Finkielkraut, Zemmour und andere".

Aber dafür fand sich ein ähnlich gemischtes Panoptikum wie bei der Libération. Man trifft beispielsweise auf den keynesianischen Wirtschaftswissenschaftler und Bestseller-Autor Thomas Piketty (»Das Kapital im 21. Jahrhundert«), der gegen allzu große soziale Ungleichheit anschreibt, aber vor allem den Kapitalismus retten will, auch vor sich selbst; den durch geschwollene Revolutionsromantik bekannt gewordenen Philosophiedoktoranden Julien Coupat, aber auch auf den für fundierte Analysen zur Ethnisierung sozialer Verhältnisse und Urbanismus bekannten Soziologen Eric Fassin. L’Obs hält jedoch zugleich die Methode der Kollegen von Libération für ungeeignet:

Nach Jahren, in denen man engagiertes Denken kritisierte (…), sucht man nun mit aller Kraft nach kämpferischen Linksintellektuellen. (…) Der Linksintellektuelle wurde auf einmal zur geschützten Spezies. Man versucht, ihm ein Biotop einzurichten, man verwöhnt ihn. Man kann jedoch schwerlich ignorieren, dass man auf diese Weise nicht Löwen züchtet, die einen ideologischen Guerillakrieg gegen die Lautsprecher der gefährdeten französischen Identität oder die kulturelle Verunsicherung führen (Anm. d. A. : Mit erstem ist Zemmour gemeint, letzteres bezieht sich auf Finkielkraut), sondern nur gefügige Zuchtschafe.

Allen gemeinsam ist die mal als pointierte geistige Kampfaufforderung, mal mit viel Larmoyanz und Katzenjammer vorgetragene Feststellung, dass es die großen, fachlich anerkannten und zugleich politisch oder sozial engagierten Intellektuellen vom Format eines Jean-Paul Sartre, Michel Foucault oder auch Pierre Bourdieu nicht mehr gebe.

Auf der Linken herrsche, gemessen an jenen Geistesgrößen verflossener Zeiten, ein geistiges Vakuum. Gefüllt werde es von rechten, konservativen, reaktionären und populistischen Gestalten. Oder von solchen, die von links nach rechts herüberwanderten wie der nunmehrige Anhänger eines republikanischen starken Staates Régis Debray.

Der Rechtsruck: Onfray driftet

Die Feststellung eines Rechtsrucks bei einem Teil der französischen Intellektuellen machte sich in den letzten Wochen aber vor allem an Michel Onfray fest. Er bildet in der jüngsten Zeit einen der am stärksten in den Medien präsenten Intellektuellen.

Onfray stammt aus ärmlichen Verhältnissen und baute seit 2002 die Université populaire im normannischen Caen auf, eine Art Volkshochschule mit gesellschaftspolitischen Inhalten, die der Verbreitung von Konzepten und Ideen dient. In jüngster Zeit erwies er sich zunehmend als fernsehkompatibel und der Vulgarisierung von Inhalten nicht abgeneigt. Onfray kommt ursprünglich aus der libertären Linken, noch 2007 rief er zur Wahl des linken Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot auf.

Seit kurzem betont er aber, nicht länger an einen Umsturz des Kapitalismus zu glauben. Neben ursprünglich stark im Vordergrund stehenden antiautoritären, teilweise individualistischen Ansätzen bilden der Atheismus und das Zurückweisen jeglicher Suche nach Transzendenz zentrale Elemente seines Denkens - auch wenn diese Positionen in Widerspruch zu gerieten schienen, als er im Frühherbst dieses Jahres ein Lob auf »laizistische Diktatoren im Nahen und Mittleren Osten« anstimmte.

Als dezidierter Gegner westlicher Militäreinsätze behauptete Onfray dabei, gegenüber der Barbarei solcher Interventionen und jener der Dschihadisten seien manche Regimes - unausgesprochen waren wohl das vormalige libysche und das amtierende syrische Folterregime gemeint - das kleinere Übel.

In einem Interview mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro vom 11. September hatte er unter anderem einen Gegensatz aufgemacht zwischen "dem französischen Volk, meinem Volk", das durch die politische Klasse zugunsten einer proeuropäischen Orientierung und des Wirtschaftsliberalismus "im Stich gelassen, aufgegeben" werde - und der angeblichen privilegierten Behandlung von Neuzuwanderern.

Und was tut man für mich?

Manche Passagen erinnern etwa an den deutschen Rechtspropagandisten Jürgen Elsässer , als dieser mit seiner Behauptung, Randgruppen würden privilegiert, vor nunmehr zehn Jahren politisch abzudriften begann. Bei Onfray heißt es:

Das französische Volk wird missachtet, seitdem François Mitterrand im Jahr 1983 den Sozialismus auf den Kurs des wirtschaftsliberalen Europas brachte. Dieses Volk, unser Volk, mein Volk wird zugunsten von Ersatz-Mikrovölkern vergessen, zugunsten der Ränder, die das Postachtundsechzigerdenken feierte - die Palästinenser und die Schizophrenen von Deleuze, die Homosexuellen, die Verrückten und die Gefangenen bei Foucault, die Mischlinge bei Hocquenghem und die Ausländer bei Schérer, die illegalisierten Migranten (sans papiers) bei Badiou.

Indirekt rechtfertigt Onfray an derselben Stelle auch den Teil der französischen Bevölkerung, der für Marine Le Pen stimmt, oder rationalisiert jedenfalls dessen Verhalten, das allein auf wirtschaftliche Not zurückgeführt wird:

Dass ein bankrotter Landwirt, ein Langzeitarbeitsloser, ein junger Hochschulabgänger ohne Stelle, eine alleinerziehende Mutter, eine Kassiererin mit Mindestlohn, ein Älterer mit geringer Rente, ein Handwerker kurz vor der Pleite sagen: "Und was tut man für mich, während man die Verbrüderung mit der aufgenommenen ausländischen Bevölkerung in den Abendnachrichten des Fernsehens feiert" - ich sehe darin nichts Obszönes. Auch keine Fremdenfeindlichkeit. Nur ein Leiden. Die Republik darf nicht taub für die Leiden ihrer eigenen Leute sein.

Vier Tage später erschien in Libération eine mehrseitige Entgegnung von Laurent Joffrin, dem Herausgeber der Zeitung. Er argumentierte für die Anerkennung und Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten und wandte sich gegen die Vorstellung, es gebe zwischen ihrem geringen Erfolg und angeblichen Großzügigkeiten gegenüber Ausländern eine Verbindungslinie. Der Artikel wiederum führte bei der sich als antikonformistisch verstehenden, oft schwülstig-patriotischen Wochenzeitschaft Marianne zu einem wütenden Aufschrei.

Kann man in Frankreich noch debattieren?

Eine Zensur durch die politischen Korrekten sei am Werk, man dürfe auch gar nichts mehr sagen, tönte es von dort, weinerlich und zornig zugleich. Und flugs organisierte die Chefredaktion, unter Leitung des Zeitungsgründers Jean-François Kahn, für den 20. Oktober 2015 eine Diskussionsveranstaltung. Unter dem Titel "Kann man in Frankreich noch debattieren?" wurde in den 1 500 Menschen fassenden Mutalité-Saal geladen.

Die Veranstaltung - der Verfasser dieser Zeilen verschwendete einen vollen Abend auf sie - geriet zum oberpeinlichen Megaflopp. Eigentlich hatte sie dazu dienen sollen, die angeblich durch die Gutmenschen verriegelten Fenster zu öffnen und den frischen Wind offener Diskussionen ins Land wehen zu lassen. Tatsächlich aber trugen zehn ausgewählte Persönlichkeiten viertelstündige Besinnungsaufsätze vor, die sich in keiner Weise aufeinander bezogen und die man ohne inhaltlichen Verlust auf ein oder zwei Sätze hätte zusammenkürzen können.

Der liberale Journalist Jacques Julliard etwa behauptete in seiner langatmigen Rede, in Frankreich arte eine Debatte immer gleich in einen geistigen Bürgerkrieg aus - so wie die Revolution von 1789 direkt eine Konterrevolution hervorrief. Stattdessen müsse man doch mal über alles in Ruhe reden können. Onfray, dem angeboten worden war, teilzunehmen und auf den Artikel in der Libération zu antworten, erschien nicht; mit der Begründung, Artikel über sich lese er grundsätzlich nicht.

Gegen 23 Uhr wurden die Saalmikrophone gereicht, "für ein paar Fragen, aber bitte kurz, denn in zehn Minuten muss der Saal freigegeben sein". Zahlreiche Medien berichteten im Anschluss über die empörten Wutschreie des Publikums.

Angesichts der acht kurzen Beiträge aus dem Publikum lässt sich jedoch vermuten, dass einem so eher etwas erspart geblieben ist. Fast ausschließlich Verschwörungstheoretiker, radikale Europagegner und Antisemiten, Fans von Alain Soral und Dieudonné M’bala M’bala meldeten sich zu Wort. Letztere waren offensichtlich zuhauf vom Thema angezogen worden.

Michel Onfray, einmal als »politisch unkorrekt« etikettiert, legte unterdessen nach und ist auf dem Ende Oktober 2015 erschienenen Titelbild von Eléments zu sehen, einer von rechtsextremen Intellektuellen unter Führung von Alain de Benoist herausgegeben Zeitschrift. In dem siebenseitigen Gespräch schlägt er zwar einige Orientierungs- und Formulierungsangebote der Interviewer aus. Sein hier ausgebreitetes Geschichtsbild dürfte den Rechtsintellektuellen dennoch gefallen.

Onfray verwirft das auf "linearen Fortschritt" - im Sinne einer Höherentwicklung der Menschheit - aufbauende Geschichtsbild, das ihm zufolge Christentum und Marxismus gemeinsam sei. Stattdessen bemüht er Oswald Spengler und Ernst Jünger, denen zufolge die Geschichte in Zyklen verlaufe, Zivilisationen auf- und verblühten. Gegenwärtig stehe der Westen vor dem Abgrund - und "Jünger hatte recht damit, aus der Titanic ein Sinnbild dieser Zivilisation zu machen".

Wenig zukunftsoptimistische Aussichten also. Auch wenn die derzeitige Position tatsächlich auch nicht zu rosigen Sichtweisen einlädt.