Franz Beckenbauer: Nur einer kann der Kaiser sein

Jubel über den WM-Titel, 1974. Links Gerd Müller, rechts der damalige Bundestrainer Helmut Schön. FotoNationaal Archief, Niederlande

Der Libero: Franz Beckenbauers Dasein auf Erden war ein Triumph aus Freiheit und Leichtigkeit – ein Nachruf.

Fußball ist und bleibt ein Spiel, und das wird von den meisten oft übersehen.

Franz Beckenbauer

Nie hätte ich mir vorstellen können, dass Du sterblich bist. Ich war Dein Ghostwriter. Du hast erzählt und ich habe niedergeschrieben. Mit Franz Beckenbauer stirbt auch mein Leben. Ich bin aufgewachsen mit ihm. Mit seinen angeschnittenen Bällen.
Arzt wollte er nach seiner Karriere werden. Sogar eine Frau wollte er werden, um die Menschen besser zu verstehen. Franz hat an die Wiedergeburt geglaubt.
Die Nachrichten sagen, dass Du tot bist. Ich glaube es nicht. Du lebst für mich immer.

Franz Josef Wagner, Bild, 09.01.2024

Die einzige Macht, die ich hatte, war eine ausgeprägte Macht über den Ball.

Franz Beckenbauer

Er war älter als die Bundesrepublik. Und er prägte und repräsentierte dieses Land, insbesondere das liberale Westdeutschland bis 1990 wie wenige öffentliche Persönlichkeiten – über alle Klassen- und Parteigrenzen, über Erfahrungs- und Lebenswelten hinweg.

Er begleitete nicht wenige Menschen durch ihr ganzes bewusstes Leben und prägte mehr von ihnen, als es vielen bewusst ist.

Er tat dies nicht obwohl, sondern weil er ein Außenseiter war.

Aus einem anderen Orbit

Ich würde mich als Gelegenheitsarbeiter bezeichnen.

FB, auf die Frage nach seiner genauen Berufsbezeichnung

Weniger als Günter Netzer, der "Rebell am Ball" oder als Paul Breitner, der Mao-Leser, Vorstadt-Revoluzzer und vor allem Provokateur der leicht provozierbaren "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky), zwei Fußballer die bewundert wurden, die aber den braven Bürgern auch immer etwas "unseriös" und darum verdächtig vorkamen, verkörperte Franz Beckenbauer die 1970er-Jahre. Beckenbauer war nie Zeitgeist; sondern er stand über den Zeiten.

Beckenbauer kam nicht nur aus einer ganz anderen Zeit, sondern aus einem anderen Orbit. Er schwebte über den Rasen und über den Verhältnissen. Nur einer kann der Kaiser sein. Beckenbauers Macht über den Ball wie die noch wichtigere über die Medien und die Öffentlichkeit verliehen ihm lebenslange Allmacht.

Beckenbauer war auch nie volkstümlich. Er war kein Sepp Maier, kein Schwarzenbeck, kein Arbeiter mit proletarischem Schalk. Er war auch kein Bundesberti Vogts, kein Höttges, kein Dietz – in diesem rackernden und ackernden, nach Stadionwurst riechenden verschwitzten Ballkämpfern lag ein Schatten der Weltkriegslandser, man ahnte in ihren Gesichtern die verklärte Durchschnittlichkeit der Wochenschauhelden aus dem Ostfrontschlamm.

Er war auch kein "Bomber" Müller, kein Jupp Heynckes, kein Klaus Fischer. Er war nicht wie all diese anderen ein "Mängelwesen Mensch" (Arnold Gehlen), sondern eine "Institution in einem Fall" (ebenfalls Arnold Gehlen).

Er wollte Fußball spielen, nicht kämpfen.

"Gentleman am Ball"

Wenn man selbst mit Freude bei der Sache ist, spürt man nicht die Anstrengungen, die dahinterstecken.

FB

Beckenbauer war, definitiv, nicht wie die anderen. Gleichzeitig wünschten fast alle anderen, ein bisschen so zu sein wie er. Er hatte alles, was der Republik fehlte: Sein Schweben auf dem Platz, das jetzt oft beschrieben wird, die Leichtigkeit und Anstrengungslosigkeit eines "Gentleman am Ball."

Er war so, wie das Land sein wollte. Genau daher rührt das große, ja universale Einverständnis mit Franz Beckenbauer.

Beckenbauer personifizierte die These des Philosophen Hans Blumenberg, dass die Geschichte nicht kontinuierlich vom Mythos zum Logos voranschreitet, und er verkörperte die Kinderphantasie der Moderne, nach der auch die Gegenwart einer "Neuen Mythologie" (Hegel) bedarf, und auch die Leidenschaft der Vernunft von mythischen Energien getragen wird, die ihr selbst nicht zugänglich sind.

Später wurde er selbst zum Leser der Philosophen. Oder in den eigenen Worten des Kaisers: "Von Jerry Cotton zu Konfuzius".

Er ließ auch die Welt an seinen Lesefrüchten teilhaben:

Ich habe gerade "Sofies Welt" gelesen, diesen dicken philosophischen Schinken. Sokrates, Aristoteles, Platon und diese Leute haben sich vor 2000 Jahren Gedanken gemacht, da sind wir noch auf den Bäumen gesessen und haben uns vor den Wildschweinen gefürchtet. Seither haben sich nur ganz wenige weiterentwickelt.

Franz Beckenbauer

Der Stenz aus Giesing

Wenn du freundlich bist, kostet dich das nix. Ich habe keine Feinde, weil ich allen Menschen erst mal positiv begegne.

FB

Er war für die Deutschen "der Kaiser", aber er war nie ein Mann des "Kaiser oder nichts", "Aut Caesar, aut nihil" des Entweder-oder, der harten Entscheidungen. Sondern er repräsentierte das entschlossene Sowohl-als-Auch, die Liberalitas des Leben-und-leben-lassen. Eine humane Alltagsphilosophie.

"Schaun mer mal", "A bisserl was geht immer". Dieser Monaco Franze kam aus Giesing. Und mehr als ihm gern nachgesagt wurde, war er ein Repräsentant des Bürgerlichen, des olympisch-lächelnden Einverständnisses mit der Welt. Ein Beamtensohn, ehrgeizig aber nicht fanatisch.

Mit Beckenbauer begann der Imagewandel und der kulturelle Aufstieg des lange als Proletensport abgewerteten Fußballs. Er war der Markenbotschafter, der den Wandel personifizierte.

Auf der Auswechselbank trug der Kaiser gelegentlich Pelz - wie ein Immobilienkönig. Er besuchte die Bayreuther Festspiele. Er war kein "Bundestrainer", sondern "der Teamchef".

Er war der perfekte Werbeträger. Nicht nur für Beckenbauertrikots mit der Nummer 5. Sondern Beckenbauer-Actionfiguren, Mobilfunk-Spots ("Ja is denn heut' scho' Weihnachten"), Fix-und-Foxi-Hefte, für Deutschland und die WM.

Ein Märchenprinz, der eine ganze Nation inspiriert hat, wie jetzt der Guardian resümiert, der ihr Träume geschenkt hat, weil sein Leben selbst wie ein Traum war. Denn lieber Träumen als Grübeln, das Leben da draußen ist kompliziert genug. Fußball lieben bedeutet auch: ein Kind zu sein.

Dirigent im Mittelfeld

So einen Spieler wie den Johan, den hatten wir gar nicht.

FB

Als Fußballer hat er alles gewonnen: Sechsmal Deutscher Meister, einmal als Trainer, fünfmal als Spieler (viermal mit dem FC Bayern München, einmal mit dem Hamburger SV); dreimal Sieger im Europacup der Landesmeister, heute Champions League; viermal DFB-Pokalsieger; dreimal USA-Meister; einmal Supercupsieger; einmal Gewinner des Europapokals der Pokalsieger; einmal Europameister; zweimal Weltmeister, davon einmal als Trainer; einmal UEFA-Pokal-Sieger (als Trainer).

Für diese Karriere ist die Zeit in Hamburg ist nicht zu unterschätzen. Nicht wegen der 28 Bundesligaspiele, die Beckenbauer dort in den zwei Jahren 1980-1982 machte, auch nicht, weil er mit dem HSV noch ein fünftes Mal Deutscher Meister wurde, sondern wegen seines dritten Hamburger Trainers, dem genialen Österreicher Ernst Happel. Von Happel hatte Beckenbauer mehr gelernt, als von all seinen Trainern außer Udo Lattek.

Und so ist die Wertschätzung für ihn jetzt global: "Einer der größten Fußballer", nicht so genial wie Johan Cruyff ("Johan war der bessere Spieler, aber ich bin Weltmeister."), aber dafür kompletter und anstrengungsloser.

Beckenbauer und Cruyff im WM-Finale 1974. Bild: El Gráfico

"Einer der größten Fußballspieler aller Zeiten", der sowohl den Angriff als auch die Verteidigung seiner Mannschaft bestimmte, egal ob es sich um den FC Bayern oder die deutsche Nationalmannschaft handelte, der Technik und Kraft verband, einer "der meistbewunderten Spieler aller Zeiten."

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