Frauen können rechnen

Ein Neurobiologe, der als Frau geboren wurde, rechnet mit Vorurteilen gegen das angeblich schwache Geschlecht ab

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Es passiert immer noch jeden Tag, dass einer Mutter erklärt wird, das abstrakte Denkvermögen habe ihr Sohn wohl vom Vater geerbt, oder dass der Lehrer in der Schule ein Mädchen entmutigt, dass sich stark für Physik interessiert. Die Geschlechter-Stereotype sind immer nicht ausgestorben – ganz im Gegenteil. In den letzten Jahren erfährt die Vorstellung, dass Geschlechterrollen angeboren seien, eine echte Renaissance. Das biologische Schicksal lautet: Frauen sind die Gefühls- und Männer die Vernunftwesen.

Die Tatsache, dass so wenige Frauen in den Wissenschaften, speziell in den Naturwissenschaften, in Spitzenstellungen aufsteigen, wird mit Unterschieden begründet, die in den Genen zu finden sind. Angeblich zählt dabei nur die reale Leistung des Individuums und existierende Diskriminierungen werden schlicht ausgeblendet.

In Deutschland stellen Frauen inzwischen einen Anteil von mehr als 50 Prozent der Studierenden. Allerdings tendieren sie in ihrer Studienfachwahl stark zu den Geistes- und Sozialwissenschaften und meiden die Natur- und Ingenieurwissenschaften eher. Und obwohl ihre Studienleistungen gleich gut sind, promovieren sie sehr viel seltener als ihre männlichen Kommilitonen (Frauen im Studium).

Die Schere geht noch weiter auseinander, wenn man sich den weiteren Karriereweg in der Wissenschaft ansieht. Unter den Beschäftigten an den Hochschulen sind mehr als die Hälfte weiblich, aber die Frauen arbeiten überwiegend in nichtwissenschaftlichen Tätigkeiten. Unter dem wissenschaftlichen und künstlerischen Personal beträgt der Frauenanteil nur 31 Prozent.

Ende 2004 lehrten und forschten 38.200 Professoren und Professorinnen an deutschen Hochschulen. Seit 1994 waren darunter immer mehr Lehrstuhlinhaberinnen, ihr Anteil stieg in diesem Zeitraum von 8 Prozent auf 14 Prozent (oder in absoluten Zahlen: 5.200 Professorinnen) (Statisches Bundesamt: Personal- und Stellenstatistik).

Der Girls Day bietet Mädchen die Möglichkeit, alljährlich Einblicke auch in wissenschaftliche Arbeitsbedingungen zu bekommen – hier am Fraunhofer Institut (Bild: Fraunhofer-Institut)

Aber woran liegt es, dass auch in der Wissenschaft die Luft immer dünner wird, je höher die Sprossen der Karriereleiter liegen? In Zeiten wo inhaltlich marginale, aber dafür ums mehr auf die angeborenen Unterschiede abhebende Bücher wie Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken auf den Bestsellerlisten landen und selbst eine Tagesschausprecherin die Rückkehr der Frauen an Heim und Herd als natürlichen Schicksalsvollzug fordert (Evas antifeministisches Manifest und Satire oder Stimme aus der Steinzeit?), feiert die Behauptung, die Geschlechterrollen von Frau und Mann seien evolutionsbiologische und genetisch bedingte Gegebenheiten, neue Triumphe. Und das obwohl eine ganze Weile die Idee des physiologischen Schwachsinn des Weibes als pseudo-wissenschaftlicher Schwachsinn enttarnt schien (Über den weiblichen Schwachsinn).

XX = wissenschaftlich mangelhaft?

Zum Skandal wurde vergangenes Jahr eine Rede des (inzwischen abgelösten) Harvard-Präsidenten Lawrence Summers, in der er unterstellte, Frauen seinen angeboren weniger begabt für die Naturwissenschaften und blieben deswegen auf der Karrierestrecke (Responses to Lawrence Summers on Women in Science und Sexismus wird zum Bumerang).

Als er mit dieser These heftige Proteste erntete, ruderte er zurück, entschuldigte sich und versuchte zu beschwichtigten. Aber andere Wissenschaftler, wie Steven Pinker von der Harvard University (The Science og gender and science, Pinker vs. Spelke, a debate) oder Peter A. Lawrence von der Cambridge University (Men, Women, and Ghosts in Science) legten mit ähnlichen Argumenten nach. Und wieder steht die alte Frage im Raum: Sind Frauen tatsächlich durch ihr Erbgut bedingt viel gefühlsbetonter und stärker anteilnehmend, konkurrieren sie weniger gern und können sie schlechter abstrakt denken?

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature rechnet Ben Barres, ein Neurobiologe von der Stanford University, mit diesen Vorurteilen ab und zeigt auf, dass sie sowohl wissenschaftlich unhaltbar als auch unfair sind. Der Neurobiologe kennt beide Seiten der Medaille, denn er wurde als Mädchen geboren und änderte sein Geschlecht am Ende seiner Studienzeit. Er schreibt:

Als eine Transgender-Person kann niemand besser als ich verstehen, dass es angeborene Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Ich vermute, dass meine Transgender-Identität durch die Einwirkung hoher Dosen eines Testosteron-ähnlichen Wirkstoffs während der fötalen Phase entstanden ist.

Aber es gibt keinen Beweis, dass ein geschlechtlich dimorpher Schaltplan des Hirns von irgendeiner Relevanz für die Fähigkeiten ist, die nötig sind, um erfolgreich eine akademische Karriere zu absolvieren. Ich unterzog mich intensiven kognitiven Tests bevor und nachdem ich mein Testosteron-Programm vor zehn Jahren startete, und es zeigte sich, dass meine Fähigkeiten zur Raumwahrnehmung sich steigerten. Aber, ach, es war kein großer Gewinn, denn ich verirre mich immer noch ständig beim Autofahren (wenngleich ich auch nicht mehr gewillt bin, nach der Wegbeschreibung zu fragen). (…)

Aber mit Abstand der größte von mir bemerkte Unterschied ist, dass Leute, die nicht wissen, dass ich mein Geschlecht geändert habe, mich mit mehr Respekt behandeln. Ich kann sogar einen ganzen Satz zu Ende sprechen, ohne von einem Mann unterbrochen zu werden.

Ben Barres zeigt sich erstaunt darüber, wie sehr sowohl Männer als auch Frauen im Wissenschaftsbetrieb die ständige Diskriminierung des weiblichen Geschlechts in ihren eigenen Reihen ignorieren. Und er ist überzeugt, dass diese Benachteiligung der Grund für den Mangel an Professorinnen darstellt.

Jeder sollte argwöhnisch werden, wenn Privilegierte über Unterprivilegierte sprechen und erklären, deren schlechtere Stellung beruhe auf angeborenen Mankos. Es gibt keine einzige wissenschaftliche Studie, die beweisen würde, dass Frauen emotionaler (und damit unvernünftiger und unkontrollierter) sind als Männer. Im Gegenteil sind es Männer, die im Zweifelsfall die Kontrolle verlieren und gewalttätig werden, wenn sie sich ärgern – was sich aus jeder Kriminalstatistik ablesen lässt. Frauen meiden Konkurrenz auch nicht, weil sie ein weiteres X statt eines Y-Chromosoms haben, sondern weil es ihnen an Selbstbewusstsein fehlt. Ihr Ehrgeiz vermindert sich, wenn ihnen mehrfach mitgeteilt wurde, dass sie weniger gut als ihre männliche Kollegen seien, sie ziehen sich verunsichert zurück. Ein Fakt, der wissenschaftlich nachgewiesen wurde.

Die konstante Unterstellung von weiblicher Minderwertigkeit führt dazu, dass Frauen sich minderwertig fühlen. Sie werden von männlichen Kollegen und (akademischen) Lehrern als unterlegen wahrgenommen und Studien zeigten, dass sie in vielen Fällen ein Mehrfaches leisten müssen, um als ihren männlichen Konkurrenten gleichwertig akzeptiert zu werden. Unter anderem müssen sie nach einer schwedischen Studie (Nepotism and sexism in peer-review 2,5 fach produktiver als ihre männliche Pendants sein, um an ein Forschungsstipendium zu kommen.

Fairness und Respekt

Entsprechend wichtig wäre es, dass solche Ausschreibungen wirklich fair gehandhabt würden und bei den angelegten Kriterien wirklich Kompetenz und Leistung ausschlaggebend sein sollten. Diversität sollte keine hohle Parole politischer Korrektheit sein, sondern auch die Wahrnehmung verschiedener Lebensrealitäten beinhalten, die auch im akademischen Umfeld z.B. bedeuten, dass viele Frauen die Hauptverantwortung für Kinder tragen – nicht selten sogar allein. Tutorenprogramme sollten speziell Frauen ansprechen und ermutigen. Diskriminierung sollten nicht verschwiegen, sondern offen thematisiert werden, nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern.

Wesentlich wäre der Aufbau von mehr Selbstbewusstsein. Mädchen wird immer noch allzu oft von klein auf erklärt, sie seien für wissenschaftliche Auseinandersetzungen sowieso nicht begabt – und wenn sie mit Jungens in Konkurrenz treten würden, wäre die Folge, nicht mehr geliebt und einsam zu sein. Wenn Lehrer den Schülerinnen und Studentinnen viel zutrauen und sie entsprechend fordern, werden ihre Leistungen nachweislich besser. Und vor allem sollten sich Universitätspräsidenten oder andere Wissenschaftler genau überlegen, was es für angehende Forscherinnen bedeutet, wenn ihnen die Befähigung schon ab der Wiege abgesprochen wird. Ben Barres verlangt im Grunde nichts anderes als die Anerkennung der Menschenrechte, Respekt vor der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen:

Wenn die Angehörigen einer Fakultät ihren Studenten sagen, dass sie aufgrund ihrer Rasse, Religion, Geschlechts oder sexuellen Orientierung von Geburt an minderwertig seien, dann überschreiten sie meiner Meinung nach eine Grenze, die nicht überschritten werden sollte – die Grenze, die zwischen freier Meinungsäußerung und verbaler Gewalt verläuft – und das sollte nicht toleriert werden, weder in Harvard noch an einem anderen Ort. In einer Kultur, in der die Fähigkeiten von Frauen nicht respektiert werden, können Frauen nicht effektiv lernen, vorankommen oder Führungspositionen übernehmen…