Frauen sind schön, Männer erhaben

Ein philosophischer Spaziergang durch die Gärten der Lüste - Teil 2

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Der erste Teil der Geschichte der Sex-Philosophie) endete mit Vignalis anatomischen Thesen, und auch der nun folgende Philosophie thematisiert die Anatomie: Montaigne ist eigentlich bekannt für seinen gut gelaunten Skeptizismus. Und den hat er auch gegenüber der eigenen Anatomie und deren Ausdehnungskapazitäten. Was die Philosophie angeht, sagt er: Zuviel Sex sei genauso ungesund wie zuviel Philosophie. Er selbst wählt einen goldenen Mittelweg, heiratet, zeugt sechs Kinder und philosophiert zum Ausgleich. Und dann wird er trotzdem krank. Also geht er auf Kur, besucht in Italien den Papst, und wenn er schon einmal in Rom ist, auch das dortige Rotlichtviertel. Das ist damals berühmt für sein Angebot. Und dieser Bildungsurlaub lohnt sich tatsächlich und als geistigen Ertrag bringt Montaigne eine Grunderkenntnis mit nach Hause, die lautet: Alle Bewegung der ganzen Welt läuft auf die Paarung hinaus. Das ist das nicht so ganz neu, und unter dem Strich das gleiche, was auch Descartes kurz darauf schreibt. Montaignes Erkenntnisse von auf dem Strich lesen sich aber vom Stil her ganz anders.

Was Decartes über Sex schreibt klingt sehr modern. Er beschreibt die Natur als einen selbsterhaltenden mechanischen Gesamtzusammenhang. Der sorgt im Interesse der Arterhaltung für leidenschaftliche Neigungen und für "merkwürdige Wirkungen". Descartes grundlegende These und damit der auch der Beginn des modernen Denkens besagt ja, dass man sich keiner Sache richtig sicher sein kann, nur seiner Zweifel. Also aber nicht seines Körpers. Da ist es kein Wunder, dass ihm da manche Sachen merkwürdig vorkommen. Dieser neue distanzierte Stil macht Schule. Wer ab da noch so über Sex schreibt, dass man ihm die Freude an der Sache anmerkt, hat höchstens als Literat gute Karten, als Philosoph aber ganz und gar nicht.

Das beste Beispiel dafür ist La Mettrie. Seine bekannteste Schrift heißt: "Der Mensch eine Maschine". Das wird bis heute gern so verstanden wie: Der Mensch ist bloß so etwas wie eine Maschine - während La Mettrie eher so etwas meinte, wie eine durch die Sinneslust erleuchtete Maschine. Anders sei der Alltag überhaupt nicht zu ertragen. Die These erläutert er so hingebungsvoll und poetisch, dass man ihm sicherheitshalber bei Tisch eine verdorbene Fasanenpastete vorsetzt, und schon ist wieder eine Philosophenstelle frei.

Seine Tischnachbarn und Kollegen veröffentlichen ihre einschlägigen Romane also sicherheitshalber lieber anonym. Allen voran Maupertuis und d'Argens. Die waren nämlich sogar Tischnachbarn von La Mettrie. Beide klauen bei La Mettrie wie die Raben, und beide schreiben über je eine Dame auf ihrem Weg zur philosophischen Weisheit. Bei Maupertius ist das ein Philosophiekurs für Fortgeschrittene, denn die Dame ist schon schwanger. Bei d'Argens entsteht so der wirkungsmächtigste Porno-Philosophie-Roman des 18. Jahrhunderts, die "Thérèse philosophe". Auf dem Cover ist zu lesen: "Wollust und Philosophie sind das Glück des sensiblen Menschen. Er umarmt die Wollust aus Geschmack, die Philosophie aus Vernunft."1

In dem Buch verwandelt sich die Titelheldin von der Unschuld vom Lande zur sexuell selbstbestimmten Frau, die bei Engpässen auch zum Mittel der Selbstbefriedigung greift. Das galt zu dieser Zeit als eine Krankheit, die im Irrsinn endet, von Begleitbeschwerden wie Sodbrennen und Nebenhöhlenproblemen ganz abgesehen. Wider Erwarten erlangt Therese auf diese Weise aber, man höre und staune, die Fähigkeit zum rationalen Denken. Man darf sich mit ihr freuen, wenn sie dann auf einmal den cartesianischen Dualismus von Geist und Körper begreift, als sie Zeugin einer Beichte wird, bei der mit schlagenden Argumenten Geist und Körper voneinander getrennt werden. Und das noch dazu mit einer Kordel vom Gewand des heiligen Franziskus. Solche Schilderungen sind typisch für die Frühe Neuzeit. Natürlich gab es schon vorher Geißelungen. Dass aber auch nichtreligiöse Geißelungen Bekehrungserlebnisse auslösen können, das ist neu. Und nicht selten. Auch Rousseau meint, dass die Prügelstrafe nicht für jeden eine Strafe ist, vor allem nicht für ihn.

Casanova geht es um die Lust der Frau, de Sade geht es immer um sich

Diese neue Mode braucht einen Namen, und damit führt dieser Spaziergang hin zu de Sade, dem Namensgeber des Sadismus. Der sieht sich selber ganz ausdrücklich als Philosoph. Er will Philosophie und Sex miteinander koppeln und dadurch eine ganz neue Lebensform entwickeln. Er setzt auf diese Kombination von Philosophie und Sex, weil seiner Meinung nach der Geist der Philosophie durch einschlägige Körpersäfte beflügelt wird, und zwar ausschließlich. Darum folgt in seinen Romanen auf jede Orgie eine philosophische Belehrung. In der wird immer wieder vorgeschlagen, die Seele durch den Körper zu ersetzen und Gott durch den Sex. So etwas wie Ethik stört dabei nur. Denn die größte Lust besteht bei de Sade im "größtmöglichen Unglück der größtmöglichen Zahl"2. Und darum wird vergewaltig und gemordet ohne Ende, am besten beides gleichzeitig, und das noch dazu mit dem Ziel von Kopulationsfrequenzen, die in der Realität nur bei Wüstenrennmäusen vorkommen. Wobei die, um im Bild zu bleiben, nicht ausgestattet sind wie Kleinpferde.

Und das ist noch lange nicht das Bizarrste, was da in Büchern wie der "Philosophie im Boudoir" steht. Es ist legitim, de Sade psychopathische Züge zu unterstellen. Kein Thema. Aber viele Philosophen loben de Sade. Zum Beispiel de Beauvoir oder Sontag feiern an de Sade die Zerstörung alter Denksysteme - und sie hinterfragen dabei nicht, warum diese Systeme vor allem in Form von Frauen zerstört werden müssen. Horkheimer und Adorno schreiben: "Die modernen Sportsriegen, deren Zusammenspiel genau geregelt ist,… findet in den sexuellen teams bei de Sade, bei denen kein Augenblick ungenützt, keine Körperöffnung vernachlässigt, keine Funktion untätig bleibt, ihr genaues Modell"3 Dabei ist anzumerken: Hier ist die Rede von Phantasien, in denen alles, was lebt, penetriert und gefoltert wird. Kinder werden nur dafür gezeugt und ihre Mütter so lange zerlegt, bis man in Fluten von Blut, Fleisch und Sperma schwimmen kann, und nach dem Ermorden der Frauen werden die anwesenden Männer mit glühenden Eisen zu Frauen gemacht, um dann in Folge auch nicht mehr lange leben zu dürfen. Und auch wenn Adorno und Horkheimer es anders sehen: So etwas ist nicht vergleichbar mit den sexuellen Belästigungen heutiger Sportvereine.

Auch stellt sich die Frage: Warum lesen so viele Philosophen de Sade, aber nicht Casanova? Der schreibt fast zeitgleich zu de Sade einen riesigen Roman über sein Leben, eines der interessantesten Bücher des ganzen Jahrhunderts, voller kulturgeschichtlicher und philosophischer Versatzstücke. Und Bettgeschichten. Denn laut Casanova lehrt der Instinkt der Frauen größere Geheimnisse als alle Philosophie und Wissenschaft.4 Für ihn hat Sex seinen Ursprung im Kopf. Alles andere empfindet er als tierisch. Wahre Philosophen aber dächten sich immer neue Lüste aus und versagten sich keiner, solange sie damit keinem anderen schaden. Das klingt vernünftig, und fast möchte man sagen: Da merkt man gleich, wer eine philosophische Ausbildung genossen hat.

Casanova ist Doktor beider Rechte und Autor philosophischer Traktate. De Sade war ursprünglich beim Militär. Auch in anderen Punkten sind die beiden grundverschieden. Casanova geht es um die Lust der Frau. De Sade geht es immer um sich. Casanova siegt auch nach Quantität. Er macht 120 Frauen glücklich plus sich selbst. De Sade tötet virtuell nur halb so viele. Aber Casanova macht einen entscheidenden Fehler. Er greift andere Philosophen an. Das macht de Sade zwar auch, aber nicht unter der Gürtellinie. Und genau da setzt Casanovas Kritik an. Er sagt nämlich, dass die meisten Philosophen Liebe und Sex nicht wirklich verstünden. Sie philosophierten seiner Meinung nach dann, wenn sie in Wirklichkeit von Leidenschaften umgetrieben würden. Für die Philosophie brauche man aber einen klaren Kopf. Sonst sei man überfordert, wenn die Frauen irgendwann loslegten wie ein "reißender Strom,, den kein Damm zurückhält." Dann interpretierten diese Philosophen diese Naturgewalten "als ein Spiel des Wahnsinns"5, und das sei schlichtweg ein Irrtum vom Amt. Casanova war also ein Nestbeschmutzer. Kein Wunder, dass seine Kollegen lieber de Sade lesen, oder, wenn schon, denn schon, dann gleich Kant.

Wechselseitige Bereitstellung der Geschlechtsorgane

Mit Kant schließt sich der Kreis vom Anfang dieses Unterpunkts bis zu seinem Ende, der Abschnitt von Descartes bis Kant. Dieser Unterpunkt hat begonnen mit einem unverheirateten Systematiker, und es endet mit einem solchen. Kant sagt nämlich selbst von sich, dass er zum Heiraten kein Geld hatte, als er eine Frau brauchte, und als er dann das Geld hatte, hat er keine Frau mehr gebraucht. Was ihm an sonstigen Genüssen bleibt, ist Essen, Kaffee und pro Tag eine Pfeife Tabak. Und Essen. Und Gesellschaft. Und Essen. Und natürlich die Philosophie.

Kant unterteilt zum Beispiel das ästhetische Empfinden des Menschen in Schönheit und Erhabenheit. Diese beiden sind für ihn so gegensätzlich wie Mann und Frau oder wie seine Lieblingsbegriffe Verstand und Vernunft. Denn Schönheit beruht auf Verstand, Erhabenheit auf Vernunft; Am Beispiel heißt das: Frauen sind schön. Männer erhaben. Männer sind also nicht schön, können dafür aber denken. Heiraten sollen Mann und Frau aber trotzdem oder gerade deswegen. Beide ergänzen sich. Aber warum das so funktioniert, bleibt geheimnisvoll. Denn die Frauen haben ein Geheimnis, so etwas wie eine geheime Zauberkraft zum Erwecken männlicher Leidenschaften, und dieses Geheimnis bewahren sie gut. Im Gegensatz zu allen anderen vertraulichen Informationen, versteht sich. Damit hat der Systematiker Kant dann natürlich ein systematisches Problem.

Aber das ist nicht das einzige Problem in dem Bereich. Das andere ist: Sex reduziert den Menschen zum Objekt, indem "der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgibt, indem er sich bloß zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe braucht", und sich folglich "zum ekelhaften Gegenstande macht, und so aller Achtung für sich selbst beraubt".6 Da macht der Mensch sich also selbst zur Sache und den anderen gleich mit. Da wird der Zweck zum Mittel. Und bei so etwas sträuben sich einem echten Philosophen die Haare. Auch wenn ja bekanntlich immer der Zweck die Mittel heiligt. Aber unter diesen Umständen ist für Kant Sex nur innerhalb der Ehe legitim. Denn die Ehe ist ein wechselseitiger Vertrag und der garantiert eine juristisch abgesicherte wechselseitige Bereitstellung der Geschlechtsorgane: "Denn da jeder von ihnen dem anderen seine membra sexualia gleichsam hingibt, und ihm das Eigenthum daran zusteht, so unterwirft sich keiner einem willkürlichen Gebrauch des anderen von seiner Substanz… Jeder besitzt sich aber dennoch selbst, ob er gleich sich dem andern als Sache hingiebt, da jeder die Freiheit behält, über das Eigenthum des andern als sein Eigenthum zu disponieren …und doch ist der Geschlechtstrieb sowohl Neigung der Menschen, als er auch unter dem Namen der Liebe Pflicht werden kann."7

Und wenn man das so sieht, wird verständlich, dass Kant scheinbar lieber doch nur mit seiner Arbeit verheiratet war. Er hat damit wohl recht gut gelebt, und er hat ganz nebenbei gesagt, die Philosophie sowieso als Selbstbefriedigung des Geistes bezeichnet. Mit Kants Philosophie sind dann für lange Zeit die Eckpfeiler aller philosophischen Sex-Thesen abgesteckt. Nach ihm kommt nun lange nichts Neues mehr, nur noch Variationen des bereits Gesagten und das auch immer weniger.

Eine Frau schadet dem Denken des Mannes

Denn das Thema wandert nun langsam ab, entweder in die Medizin oder in die Vergessenheit. Denn die Menschen haben von den Thesen über Sex erst einmal genug, weil sie Sex vorher meist als Exzesse eines barocken Führungspersonals erlebt haben. Diese Zeiten sind vorbei und nun hätte man es gerne ein wenig privater und indirekter. Da bleibt dann an Sex für die Philosophie nicht mehr viel übrig. Abgesehen von den leisen Klängen dieser Variationen, kleinen Fugen über die altbekannten Thesen. Da sind zum Beispiel die Kant-Variationen der Deutschen Idealisten. Die Idealisten sagen: Im Idealfall opfern sich schöne Frauen idealistisch für ihre erhabenen Gatten auf, sexuell, vor allem sexuell, aber auch im Haushalt.

Fichte schreibt: Die Liebe der Frau sei ihr Naturtrieb, ihren Mann zu befriedigen. Sollte sie dabei sexuelle Bedürfnisse haben, soll sie das besser sublimieren. Denn der Frau käme beim Geschlechtsverkehr eine so schmachvoll entwürdigende Position zu, dass sie sich besser innerlich von diesem Vorgang distanzieren sollte, um nicht jedes Selbstwertgefühl zu verlieren. Dieser Aufopferungsgedanke wird Fichte aber zum Verhängnis. Seine Frau opfert sich nämlich nicht nur für ihn, sondern auch für Kriegsverwundete mit Typhus auf. Sie steckt sich an, und ihren Mann gleich mit. Sie überlebt, er nicht.

Zu dieser Philosophie und dieser Geschichte sind die Philosophie und die Geschichte Schellings wie ein Kontrapunkt: Die Grundmelodie bleibt gleich, nämlich eine Naturphilosophie aus Gegensätzen, wie eben zum Beispiel Mann und Frau. Oder wie der Gegensatz von Herrn Schelling in seinem Arbeitszimmer und Frau Schelling vor der Tür. Sie wird immer aussperrt. Aber in dieser Geschichte stirbt zuerst die Frau und anders als Frau Fichte verkraftet Herr Schelling den Tod des Partners nicht gut. Und zeigt auf diese Weise, wie sympathisch wenig sein Leben zu seiner Philosophie passt.

Ähnlich ambivalent ist Hegel. Angeblich war er in der Praxis des Alltags Frauen gegenüber sehr charmant. In der Theorie nicht so sehr. Da definiert er Frauen als nur mäßig entwickelte und kindische Realien. Nur eben leider notwendig zur Fortpflanzung. Aber eine Frau schadet dem Denken des Mannes, von einer Familie ganz zu schweigen. Und da kennt sich Hegel aus, schließlich war er selber verheiratet. Seine nach der Heirat verfassten Schriften gelten als weitaus verständlicher als die vor der Heirat. Das ist aber insofern kein Widerspruch, als Hegel auch nicht die Realie geheiratet hat, mit der er ein uneheliches Kind hatte, sondern eine andere Frau.

Auch Schopenhauer misstraut Frauen und hält alle verheirateten Philosophen für hochgradig verdächtig. Was man ihm aber zugute halten muss ist, dass er die Thesen seiner Kollegen nicht nur wiederkäut, sondern sie empirisch solide überprüft, und zwar in Form vieler Affären. Und so kommt er am Ende dann doch auf eine ganz neue These: Er setzt das Missverhältnis zwischen der Kopulationsfähigkeit des Mannes und der Zeugungsfähigkeit der Frau im Bezug zu monogamen Ehe-Strukturen. Das Ergebnis lautet: Besser wäre das Verhältnis von zwei Männern zu einer Frau bis zu den Wechseljahren der Frau. Wenn die dann durch eine neue junge Frau ersetzt wird, müsse unter dem Strich doch wieder jeweils nur ein Mann für jeweils nur eine Frau aufkommen. Und das 150 Jahre bevor man in Deutschland um die Rentenkassen bangt.

Ähnlich innovative Einfälle hat auch der Geschichtsphilosoph Michelet. Der will das Christentum durch eine Naturreligion ersetzen, und Jesus durch die Frau. Denn, wenn auch nicht ans Kreuz geschlagen, so sei die Frau geschlagen mit Menstruation und Schwangerschaft und sie blute wie Jesus auch aus lauter Liebe. Das Abendmahl, also das Ritual der Fleischwerdung Christi, solle verlegt werden in Richtung Gebärmutter, die Zitat "aus reinem Hafer… den heiligen Kuchen8 backen kann. Natürlich nur unter der Anleitung eines Priesters, und wie der entsprechende Gottesdienst verläuft, ist auch klar - und diese pseudoreligiösen Denkkategorien ebenen dann den Weg hin zur Moderne und dem dritten Teil dieses Spaziergangs durch die Geschichte der Philosophie vom Sex...