Freie Bahn der Stadtluft
Abschottung und Verdrängung machen das Stadtklima unverträglich
Ein Bauer, der unzufrieden war mit dem wechselnden Wetter, das ihm mal gute, mal schlechte Ernten bescherte, erbat sich von Gott, das Wetter selbst machen zu können. Gott gewährte es ihm für ein Jahr. Der Bauer ließ im Wechsel die Sonne scheinen und den Regen niedergehen, so dass die Ähren prächtig gediehen. Als er sich an die Ernte machte, musste er feststellen, dass alle Ähren taub waren. Bestürzt wandte er sich an Gott. Antwort: Du hast den Wind vergessen.
Noch schlimmer als in der kleinen Parabel ist es in den Städten. Sie wachsen weltweit. Sie machen die Erdoberfläche immer rauer. Der Wind, den die Städte so dringend zur Belüftung brauchen, wird gestört. In unseren Breitengraden ist von "Nachverdichtung" die Rede. Baulücken werden geschlossen, Freiräume überbaut. Die vorauseilenden Projektbeschreibungen schreiben Klimaanpassung groß; Klimafunktionskarten werden erstellt. In den auf Hochglanz polierten Versprechungen wird alles besser als am Ende der boomenden 60er Jahre, als es hieß: "Urbanität durch Dichte". Oder werden die Stadtbewohner am Ende feststellen: Wir haben beim neuen Bauen den Wind vergessen?
In einem "Stadtentwicklungsplan Klima" macht sich die für Umwelt zuständige Berliner Senatsverwaltung an den Beweis, dass eine "Verdichtung ohne negative Klimaentwicklung" möglich ist. Untersucht werden verschiedene Gebäudetypologien. Am tauglichsten für eine Klimaanpassung bei intensiverer Dichte erweisen sich in Zeilenbauweise errichtete Siedlungen. "Zwischen den Zeilen" finden sich genügend Freiräume, zumal sie "nur in geringem Maß genutzt" werden. Breite, starke befahrene Straßen in und um jene Siedlungen durch Bauten abzuriegeln, würde zugleich dem Lärmschutz dienen. Liegt die Siedlung in einem stadtklimatisch belasteten Umfeld, empfehle es sich, zwecks Abschottung die Ränder zu verdichten.
Die schönen Umweltversprechungen sind in ihr dystopisches Gegenteil umgekippt. Der Urtyp dieser Zeilenbauweise sind die Siedlungen der Moderne, von denen sechs in Berlin zum UNESCO-Welterbe zählen, etwa die Hufeisensiedlung von Bruno Taut und Martin Wagner. Die Bauweise ist aufgelockert, der Versiegelungsgrad relativ gering. Was angeblich "gering genutzt" wird, ist wohnungsnahes Grün und sind Gärten, die möglichst zu jeder Wohnung gehören. Diese Siedlungen erweitern den Gartenstadt-Gedanken und übernehmen dessen Kern, die Forderung nach Licht, Luft und Sonne.
Der Rückfall der Nachverdichtungsparolen in den Planerjargon der autogerechten Stadt der 60/70er Jahre ist frappant. Der in jener Zeit in Form einer gebogenen Scheibe errichtete Mehrgeschosser am Berliner Kottbuser Tor, gelegen an der legendären U1 in Kreuzberg, wurde von den Verantwortlichen damit legitimiert, einen Lärmschutzriegel gegen die ganz in der Nähe geplante Stadtautobahn zu bilden. Wer das heute wieder vertritt, sollte einmal den Umweltatlas des Senats mit dem Sozialatlas abgleichen. Lärm- und Luftverschmutzung häufen sich, wen wundert's, entlang stark befahrener Straßen. Und genau dort ballt sich die Wohnbevölkerung mit geringerem Einkommen. Die Umweltfrage ist auf die "soziale Frage" zurückgeführt.
Die Diagnosen der Klimabelastung in urbanen Konglomeraten werden immer feiner, aber sie sind seit langem bekannt. Schon in den 50er Jahren wurde der Hitzeinsel- Effekt deutscher Städte beklagt. Die nächtlich wirksame Überwärmung der Städte ist dem größeren Bauvolumen und höheren Versiegelungsgrad als auf dem Land geschuldet. Inversionswetterlagen verstärken den Effekt. Die - schlechte - Luft bleibt über den Städten stehen (Wärmeglocken). Nach einem weltweiten Überschlag kann der Temperaturunterschied bis zu 10° betragen. Die gesundheitliche Beeinträchtigung trifft vor allem Ältere. Bevor nach städtebaulichen Therapien gesucht wird, sollte erst einmal die Binsenweisheit festgehalten werden: Die Bebauungsdichte und der Luftaustausch stehen in umgekehrt proportionaler Beziehung. Dasselbe gilt für die Luftfeuchte.
Der renommierte Landschaftsarchitekt Hermann Mattern empfahl schon 1964 "Landschaftsausläufer bis tief in die Ortskerne hinein", um den Luftaustausch anzuregen. In der heutigen Terminologie sind daraus "Kaltluftschneisen" oder "Luftleitbahnen" geworden, die dem Wind von "thermischen Ausgleichsflächen" zu "Wirkungsräumen" (Belastungsbereichen) den Weg bahnen. Offene Wasser- und Wiesenlandschaften sind für die Kühlung der beste Untergrund. Das (nicht nur) thermische Gefälle bewirkt den Luftzug.
Über Bäume streiten sich die Gelehrten. Für manche stehen sie dem Wind im Weg. Aber je nach der Breite der Luftleitbahnen kann auch eine Dämpfung der Windstärke geboten sein. Bäume kühlen ebenfalls durch Abmilderung der Sonneneinstrahlung oder Verschattung, und sie tragen zur Verdunstung bei. Wasserläufe sind optimale Klimaschneisen.
"Wir können den Wind nicht ändern, aber wir können die Segel anpassen"
Das Zitat von Aristoteles ist übertragbar: Der Wind kann nur schlecht der Stadt angepasst werden. Vielmehr hat sich der Städtebau nach dem Wind zu richten. Nur einige der Anforderungen seien aufgezählt, die sich jedoch nicht widerspruchsfrei umsetzen lassen: Der Wind gibt die Ausrichtung der Fluchtlinien vor. Häuser auf Stelzen, ebenfalls schon eine Idee der 20er Jahre, lassen den Wind und die Landschaft hindurchfließen. Variierende Haushöhen bei offener Bebauungstruktur sind optimal, wobei jedoch Turbulenzen, das heißt vertikale Windströme und Wirbel zu beachten und zu berechnen sind. Evident ist, dass der bauliche Bestand der Städte diese Bedingungen nur ausnahmsweise erfüllt. Entscheidend ist die Frage, ob es bei Neubauvorhaben Beachtung finden wird.
Viele Parameter sind ins Kalkül zu ziehen von der Rauigkeit des Stadtkörpers über Bodenmodellierungen bis zur Größe von Freiflächen - aber diese stehen ja gerade zur Disposition. Hanglagen entlasten im Talkessel liegende Städte, wenn die Straßen mit ausreichendem Durchmesser quer zum Kamm des Hanges angeordnet werden.
Kommen wasserwirtschaftliche Erwägungen hinzu, gibt ein neuer Begriff die Richtung vor, wie stadtökologische Verbesserungen innerhalb des Bestandes erzielt werden können: Schwammstadt. Durch Entsiegelung werden poröse Versickerungsflächen geschaffen, von denen das Wasser bei Trockenheit verdunsten kann. Transpirationskühle entsteht in solchen städtischen Feuchtgebieten. Starkregen wird zusätzlich in oberirdischen Bassins oder unterirdischen Kavernen zurückgehalten und antizyklisch wieder abgegeben.
Die Städte werden überflutungstauglich. Zwei Risiken sind damit verbunden: Erstens kann aus dem Rückhaltebeckenbau eine ewige Baustelle werden, wenn die Starkregenereignisse zunehmen. Wenn zweitens in älteren Städten die Becken mit der Mischwasserkanalisation verbunden sind, geht nach wie vor der "Überlauf", und das ist die Mischung aus Oberflächenwasser und häuslichem Abwasser, in die Flüsse und Kanäle.
Maßnahmen zum städtischen Mesoklima sind nur dann wirksam, wenn sie verbunden werden mit dem Mikroklima der Häuser und Wohnungen. Das Arsenal architektonischer und bauphysikalischer Werkzeuge ist groß und reicht von glatten, hell gestrichenen Oberflächen, die die Strahlung reflektieren über die Nutzung der Speicherungs- und Wärmeleitfähigkeit des Materials bis zu den Möglichkeiten einer natürlichen Belüftung, vorzugsweise Querlüftung. Vertikale Begrünungen sind im Kommen, und "blaugrüne Dächer" verbinden die Begrünung mit der Regenwassersammlung. Der Grund, weshalb so große Umsetzungsdefizite bei der stadtklimatischen Anpassung bestehen, dürfte gerade in der mangelnden Verknüpfung der verschiedenen Maßstabsebenen liegen.
Der Wind, das himmlische Kind, hält sich nicht an die Ressortgrenzen der Stadtplanung. Querschnittsaufgaben hatten es immer schon schwer. Luftige Zielvorgaben werden formuliert, und auf dem Weg dorthin verfängt sich das Element in einem Dickicht von Gesetzen und Verordnungen vom Immissionsschutzrecht über die Umweltverträglichkeitsprüfung bis zu Luftreinhalteplänen. Ob Klimagutachten in der Bauleitplanung berücksichtigt werden, ist Abwägungssache, sagen die Verantwortlichen des Umweltatlas Berlin.
Im liberalistischen Zeitalter mag es angebracht sein, sich mit Appellen und "freiwilliger Selbstverpflichtung" als Schritten zu Sollzuständen zu bescheiden. Ob das sinnvoll oder fadenscheinig ist, muss vor dem Hintergrund erörtert werden, dass Deutschland immer häufiger die Zielmargen zur Luftreinhaltung reißt.
Konkretere Festlegungen wie etwa die Festsetzung von Bebauungsgrenzen werden in den Bebauungsplänen getroffen. In diese Pläne, die eh nicht unverrückbar sind, gehen jedoch so viele auf den Einzelfall bezogene Sonderinteressen ein, dass Umweltschutzbelange immer abstrakter und faktisch nachrangig werden. Stadtweite Planwerke werden Makulatur. In der "Flächenkonkurrenz" setzen sich die zu bebauenden Räume gegen die Freiräume durch.
Appelle auf der einen und eine rein technische Behandlung auf der anderen Seite verfehlen das Klima-Thema. Eine antagonistische Setzung von Binnenklima in Wohnungen versus Außenklima im Freiraum geht jeweils auf Kosten der einen oder anderen Seite. Die Architektur des Industriezeitalters legte es darauf an, den Wohnungsraum ohne Rücksicht auf regionale Besonderheiten nach draußen abzuschotten und das Raumklima zu normieren. Das hat sich bis zum Styropor-Dämmwahn übersteigert.
Der Antagonismus kann erst gelöst werden, wenn ganz von vorne gedacht wird, von einem ganzheitlichen Ansatz her, der den dynamischen Zusammenhang von Mikro- und Makroklima bedenkt und starre Normsetzungen vermeidet. Stadtbelüftung, Quartiersbefüftung und Hausbelüftung kommen auf einer Ebene zusammen, wenn das Klima als Ganzes zum Bestandteil des Architekturraums wird. Dieser Raum ist beweglich. Der holistische Ansatz verträgt sich mit dem Programm der Moderne:
Die Werke der heutigen richtunggebenden Baumeister (zeigen) ein verändertes Raumempfinden, das die Bewegung, den Verkehr unserer Zeit in einer Auflockerung der Baukörper und Räume widerspiegelt und den Zusammenhang des Innenraums mit dem Allraum zu erhalten sucht, was die abschließende Wand verneint. (...) Das Gebäude scheint zu schweben und der Raum hindurchzuströmen. Ausschnitte des unendlichen Außenraums werden einbezogen in die architektonische Raumkomposition, die in die Umgebung hinausgreift. Der Raum selbst scheint sich zu bewegen.
Walter Gropius
Häuser und Städte, die atmen
Das Dogma, die Häuser und Wohnungen um jeden Preis vor der Außenluft zu schützen, stößt an das Paradox, dass eben jene Luft zur Erneuerung des Innenraumklimas benötigt wird. Durch elektrische betriebene Klimatisierungen geht dieser Austausch an den Bewohnern vorbei. Statt die Prozesse zu verdecken, sollte die Architektur es sich zur Aufgabe machen, die Menschen sinnlich näher ans Klima zu bringen.
Der doppelte Sinn des Wortes Atmosphäre scheint Bauherren und Architekten, die nur noch in die Höhe und Breite "metern", verloren gegangen zu sein. Atmosphäre beschreibt auch die Wirkung des Hauses auf die Nachbarschaft und in die Stadt hinein. So wie die Stadt idealiter perforiert ist, damit Luft und Landschaft in sie hineinfließen, sollte auch die Hülle des Hauses durchlässig sein. "Let air in, let air out",1 heißt es über das atmende Haus. Die Fassade ist ein soziales Instrument.
Die anthropologische Evolution kann als raumgreifender Prozess beschrieben werden. Im Zuge ihrer Expansion baut die Menschheit ihre Häute aus, Kleidung, Haus, auch Stadt. Die erste Klimahülle ist die menschliche Haut. Die (bio)klimatischen Einflüsse werden körperlich empfunden und verarbeitet, und das heißt, von jedem anders. Zwischen Faktoren wie Windstärke und Schweißverdunstung entwickelt sich die "gefühlte Temperatur."
Die Haut ist das Organ, durch welches die Subjekte mit der Umwelt überwiegend unbewusst und in Reminiszenz an die biologische Evolution kommunizieren. Die Mischung aus Schutz und Durchlässigkeit sollte bei der Planung aller weiteren Klimahüllen, sprich Häute, aufgegriffen werden. Mit dieser Doppelfunktion spielen Künstler-Architekten wie Buckminster Fuller und Haus Rucker Co. Den Gedanken einer atmenden Architektur greift auf der diesjährigen Architektur-Biennale der Nordische Pavillon mit einer Blasen-Installation auf.
Traditionelle Haustypen Südostasiens haben "luftdurchlässige und aufgeständerte Gebäudestrukturen mit vergleichsweise hohen Räumen und auskragenden Dachstrukturen."2 Die Architektengruppe WOHA aus Singapur überträgt eine Variante dieses Typs, die Kampongs, auf den Hochhausbau.
Diese Hoch-Verdichtung ist kompatibel mit Begrünung. Die Architekten ziehen die Landschaft und die Frischluft in den von Wohntürmen gebildeten Innenbereich und verdichten auch das Grün in der Vertikale. Zwischendecks dienen als begrünte, quasi dörfliche Gemeinschaftsflächen. Die natürliche Belüftung reicht aus, zumal bei den Apartments Querlüftung möglich ist. WOHA stemmt sich damit gegen eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, den "Air cooled Privatism". Maschinelle Klimatisierung verlangt geschlossene Räume und zerstört letzte Reste traditioneller Gemeinschaft.
Im Neubau eines Bürohochhauses im kolumbianischen Medellin soll die Abwärme der Nutzer und der Geräte in einen Kamin überführt werden, damit der thermische Auftrieb Frischluft durch die vorgehängte durchlässige Fassade ansaugt. Genutzt wird auch die Wärmespeicherfähigkeit der Betondecken. Allerdings schwanken die Durchschnittstemperaturen der Stadt nur gering.
In Mitteleuropa sind die Herausforderungen an die Klimaanpassung von Häusern ganz andere. Arno Brandlhuber hat eine ehemalige DDR-Fabrik bei Potsdam in eine "Antivilla" umgebaut, die im Sommer ihre Funktionskreise wie die "Häute" einer Zwiebel erweitert und im Winter auf einen warmen Kern rund um die Sauna reduziert wird. Zumindest war das der Plan, der durch die Bauvorschriften ausgebremst wurde.
Nachverdichtung setzt die Fehler der autogerechten, kahlgeschlagenen Stadt fort, wenn sie ohne Nachbegrünung auszukommen meint. Gerät schon wieder die Erfordernis in Vergessenheit, Parks, Restgrün und Brachen, kurz das ganze grüne städtische Patchwork zu Grünzügen zu vernetzen, deren lufthygienische Bedeutung die von Kaltluftentstehungsgebieten vor der Stadt ergänzt? Das ist keine Städtebau-Utopie, sondern eine Aufgabe des Hier und Jetzt. Was gar nicht (mehr) geht, ist der Vorschlag von Henri Bonaventure Monnier: "Man sollte die Städte auf dem Lande bauen, da ist die Luft besser."
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.