Freie und Polizeistadt Hamburg
Seite 2: Hat es den Angriff auf die Davidwache überhaupt gegeben? Die Polizei rudert zurück
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Noch während die unbescholtenen Bürger sich vor Mitgefühl mit den bedrohten Gesetzeshütern überschlugen, kam dann die große Überraschung: Den Angriff auf die Davidwache am 28.12.2014, der letztendlich zur Errichtung des Gefahrengebietes führte, hat es gar nicht gegeben. Zumindest spricht laut dem Hamburger Strafverteidiger Andreas Beuth vieles dafür, dass es ihn nicht in der von der Polizei kolportierten Darstellung gegeben hat. Vielleicht hat es ihn aber auch gar nicht gegeben.
"Wir haben hingegen nach den uns vorliegenden Informationen Grund zu der Annahme und hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass diese polizeiliche Darstellung falsch ist", teile Beuth am Wochenende im Namen des Anwaltsbüros am Schulterblatt in einer Presseerklärung mit. Beuth zufolge gab es die Gruppe von Randalierern vor der Wache gar nicht, auch keine Steinwürfe und sonstigen Angriffe.
Auch wenn Beuths Argumentation ihrerseits viele Fragen aufwirft und er sich selbstredend weigert, die Namen seiner Mandanten zu nennen, die sich an ihn aus Angst vor Strafverfolgung gewandt hätten, wie er sagt, so deckt sich Beuths PM mit einem Augenzeugenbericht und führte schlussendlich dazu, dass die Polizei-Pressestelle zurückruderte. Der Augenzeuge schilderte, dass nicht eine Gruppe "vermummter Personen" die Wache angegriffen, sondern die Beamten der Wache ihrerseits eine Gruppe Fußballfans behelligt hätten. Was zu einer Auseinandersetzung geführt hätte.
Die Polizei-Pressestelle korrigierte flugs die ursprüngliche Darstellung. Demnach wurde der Beamte nicht direkt vor der Wache, sondern einige hundert Meter entfernt angegriffen. Das sei aber keine Lüge gewesen, so Pressesprecher Mirko Streiber, sondern das hätten die Ermittlungen erst jetzt ergeben. Laut dem Radiosender Freies Senderkombinat (FSK) gab Neumann zu, es könnten auch schlicht und ergreifend Kiez-Touristen in den Vorfall verwickelt gewesen sein.
Kritische Polizisten: "Die Hamburger Polizei führt sich auf wie eine Ordnungsmacht des finsteren Mittelalters"
Das Ganze wird immer dubioser. Aber Fakt ist, der Beamte ist schwer verletzt. Die Frage ist allerdings, ob die Errichtung des Gefahrengebiets die richtige Antwort ist. Von Rachegelüsten der Polizei ist hier und da die Rede. Andere hingegen sehen die Polizei nicht auf einem Rachefeldzug, sondern im tiefen Tal des Selbstmitleids. Die Polizei jammere zu viel, äußerte der Kriminologe Rafael Behr, Professor an der Hochschule der Polizei in Hamburg in einem Interview im Springer-Abendblatt schon 2011. Im Grunde ginge es den Beamten nicht schlecht, und schließlich wüssten sie, worauf sie sich einließen. Aber mit dem Gejammere buhlten die beiden konkurrierenden Lobbyverbände Gewerkschaft der Polizei (GdP) und Deutsche Polizeigewerkschaft (DPG) um Mitglieder und wollten zudem weitere technische Ausrüstung durchsetzen. Das Interview hatte einen empörten Aufschrei beider Verbände zur Folge, bis hin, dass die sofortige Entlassung Behrs als Professor an der Polizeihochschule gefordert wurde.
"Die Hamburger Polizei führt sich auf wie eine Ordnungsmacht des finsteren Mittelalters. Die Hamburger Politik lässt sich wie hilflos von 'ihrer' Polizei vorführen. Die Rolle von Exekutive und Legislative scheint verkehrt worden zu sein", attestiert der ehemalige Kriminalbeamte und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten in einer Pressemitteilung Polizei und Politik in Hamburg. In dem 12-Seiten-Papier spricht Wüppesahl der Polizei eine erfolgreiche Taktik ab und kommt auf die Entwicklung seit dem berühmt-berüchtigten Hamburger Kessel am 8. Juni 1986 zu sprechen. Dieser wurde später für rechtswidrig erklärt und allen der mehr als "700 eingeschlossenen DemonstrantInnen von dem Hamburger Verwaltungsgericht ein symbolisches Schmerzensgeld zuerkannt". "Drei verantwortliche Polizeiführer" erhielten "eine symbolische strafrechtliche Sanktion". Der Hamburger Kessel führte seinerzeit zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten. Wüppesahl erhebt schwerwiegende Vorwürfe gegen die Hamburger Polizei:
Das was wir am 21.12.2013 erlebten, übertrifft den Gründungsanlass von uns Kritischen in seiner Disqualität, Skrupellosigkeit und Quantität um den Faktor 3. Der weit überwiegende Teil des angetretenen Demonstrationsmarsches war nachweislich friedlich und wurde durch die polizeiliche Eskalationsstrategie daran gehindert, sein Versammlungsrecht auszuüben.
Wüpesahl fordert zudem, offen zu legen, "wie viele V-Leute, Verdeckte Ermittler, Zivilfahnder und ausländische Polizei-SöldnerInnen" vor Ort waren. Damit wirft er eine interessante Frage auf. Am Stammtisch ist vielfach davon die Rede, dass z.B. die 300 Personen, die am 21.12.2013 vor den Esso-Häusern eingekesselt waren, im Laufe der Zeit immer weniger wurden. Ihre Zahl habe sich von ca. 300 auf ca. 200 dezimiert, wollen einige beobachtet haben. Auch wenn es keine 100 waren, so bedeutet das doch, dass sich in dem Kessel in hohem Maße Personen befanden, die das Codewort kannten …
"Mein Leben im Gefahrgebiet"
Unterdessen mutiert die Gefahrenzone zum (Medien)Spektakel. Eine Klobürste hat es als Zeichen des Widerstandes bis in die Tagesschau geschafft, Tagebücher à la "Mein Leben im Gefahrengebiet" werden im Internet gepostet, Rundgänge durch das Gefahrengebiet als Touristenattraktion der besonderen Art angeboten.
Kleinere und größere Grüppchen versuchen nach Kräften, die Beamten zu foppen und auf Trab zu halten. Die sorgen indes selbst dafür, dass sie in Bewegung bleiben. So sind Gruppen Uniformierter zu beobachten, die scheinbar grund- und ziellos mal in die eine, mal die andere Richtung losrennen. An Plätzen, wo außer den Uniformierten kein Mensch zu sehen ist. Wie gesagt, das Nachtleben in der Schanze ist unter der Woche reichlich unaufregend.
Trotzdem wurden bereits hunderte Menschen kontrolliert, Dutzende erhielten einen Platzverweis. Schreie nach mehr und gefährlicherer Ausrüstung wie z.B. Taser wurden laut, und angedroht, dass künftig auch mal scharf geschossen werden könne.
Sowohl die öffentlichen Konditionsübungen der Uniformierten als auch nächtliche Spaziergänge mit lauter Musik aus dem Ghettoblaster sind nur bedingt unterhaltsam, auf die Dauer ehrlich gesagt eher ermüdend. Der Check, ob der Personalausweis auch eingesteckt wurde, als unerlässliches Ritual vor dem Besuch des Kinos drei Straßen weiter, weil ansonsten die eigene Straße beim Rückweg eventuell versperrt sein und somit der Heimweg unmöglich sein könnte, eine Perspektive, die wenig Freude aufkommen lässt.
Wenig Freude lässt auch die Vorstellung aufkommen, die Hamburger Polizei könnte die Eskalation vorsätzlich herbeigeführt und Bedrohungs-Szenarien schlicht erfunden haben, um in Polizeistaatmanier ein von zehntausenden Menschen bewohntes Stadtgebiet kontrollieren zu können. Der Senat wäre gut beraten, dem Spuk alsbald ein Ende zu setzen, das Gefahrengebiet aufzuheben, die Vorfälle lückenlos aufzuklären und sich mit den sozialen Problemen nicht nur in St. Pauli konstruktiv auseinanderzusetzen, statt ständig neue zu schaffen.