Fremde DNA an Amris Pistole
Die Spur führt ins persönliche Umfeld des angeblichen Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz. Die zentralen Anschlagsermittlungen werfen immer mehr Fragen auf
Wer waren die Beteiligten am Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin? Ein Spurenfund wirft die nächste Frage auf, die von der offiziellen Version des Alleintäters Amri abweicht.
An der Pistole, die Anis Amri, der angebliche Attentäter vom Breitscheidplatz, in Italien dabei hatte, als er ums Leben kam, sicherten Kriminaltechniker die DNA-Spur eines Mannes, bei dem Amri bis zum Anschlagstag vom 19. Dezember 2016 gewohnt hatte. Das Bundeskriminalamt (BKA) weiß das seit über zwei Jahren. Gegenüber den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen wurde das Ergebnis bisher nicht entsprechend kommuniziert.
Mit der Pistole der Marke Erma war in Berlin auch der polnische Speditionsfahrer Lukasz Urban erschossen worden. Seine DNA wurde ebenfalls auf der Waffe gefunden. In welcher Form ist unklar, möglicherweise als Blutspritzer. Ein ballistischer Vergleich der Geschosshülsen belegt ebenfalls die Identität der Pistole, mit der Amri am 23. Dezember in Italien auf Polizisten feuerte und dabei selber erschossen wurde.
Die bisher unbekannte DNA an der Erma-Pistole gehört Kamel A., einem 50-jährigen Tunesier, der seit knapp 30 Jahren in Deutschland lebt. Amri wohnte bei ihm ab Anfang November 2016 bis zum Tattag am 19. Dezember 2016. In der Wohnung in Berlin-Wedding lebten außerdem der Tunesier Khaled A. und der libysche Polizeioffizier Salah A. In welcher Form Kamel A.s DNA an der Pistole gesichert wurde, ist nicht bekannt. Ebenso, wie die zentralen Ermittler des BKA die Spur weiterverfolgten.
Kamel A. ist in der nominellen Islamistenszene kein Unbekannter. Von Polizeimaßnahmen erfasst wurde er spätestens im November 2015. Als jemand, der immer wieder von Berlin nach Tunesien fuhr, betätigte er sich als Kurier diverser Lieferungen. Im November 2015 brachte er im Auftrag des Vaters von Bilel Ben Ammar einen Koffer nach Berlin. Ben Ammar war ein enger Freund Amris und galt nach dem Anschlag als zweiter Hauptverdächtiger. Obwohl gegen ihn ermittelt wurde und er in Untersuchungshaft saß, wurde er auf Betreiben des BKA und unter der staatlichen Patronage von Bundesinnen- und Bundesjustizministerium nach Tunesien abgeschoben.
Eine gescheiterte Aktion hinterlässt Fragen
Im November 2015 ermittelten die Generalstaatsanwaltschaft von Berlin und das Landeskriminalamt (LKA) gegen Ben Ammar. Weil sie die Information erhalten hatten, es werde Sprengstoff an ihn nach Berlin geliefert, wurden Ende November 2015 umfangreiche Razzien durchgeführt - in einer Moschee, in Wohnungen und Fahrzeugen.
Ben Ammar wurde festgenommen, ebenso Kamel A., der Kurier. Die Lieferung entpuppte sich dann aber nicht als Sprengstoff, sondern als Lebensmittel und Drogerieartikel (Datteln, Oliven, Rosenwasser). Die Festgenommenen wurden wieder freigelassen.
Die gescheiterte Aktion hat wiederholt die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sowohl im Abgeordnetenhaus von Berlin als auch im Bundestag beschäftigt. Eine schlüssige Erklärung haben sie bisher nicht. War der Staatsschutz nur falsch informiert worden oder verbarg sich etwas anderes dahinter?
Die Information über die angebliche Sprengstofflieferung war vom BKA gekommen. Anzunehmen ist, dass die Ursprungsquelle eine V-Person war. Wurde die Polizei von der Szene in die Irre geführt, eine Art Test, ob man überwacht werde? Oder handelte es sich umgekehrt um ein amtliches Ablenkungsmanöver, eine Inszenierung, die scheitern sollte, um bestimmte Personen in der Szene zu schützen? Jedenfalls wurde in der Folge das Verfahren gegen Ben Ammar eingestellt. Auch Kamel A. blieb unbehelligt.
Durch die Polizeiaktion war zugleich die gesamte Szene alarmiert. Kurz danach durchgeführte Maßnahmen gegen eine andere angebliche Terrorgruppe von drei Tunesiern um den Ex-Polizeioffizier Sabou Saidani (sogenannte "Eisbär"-Gruppe), die vom BKA beobachtet wurde, schlug ebenfalls fehl. In der Gruppe fungierte Ben Ammar als "Nachrichtenmittler", und allein das BKA hatte zwei V-Personen dort platziert. Um wen es sich handelte, weiß man bisher nicht. Auch das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Berlin war mit mindestens einer Quelle (Emanuel P.) in der Gruppierung vertreten.
Geschichten von Kamel A.
In diesem Umfeld bewegte sich also auch Kamel A., dessen DNA an der Tatpistole im Breitscheidplatz-Komplex gefunden wurde. Anfang November 2016 zog Amri zu ihm, wo er sich mit Khaled A. ein Zimmer teilte. Beide kannten sich aus Italien, von wo aus sie später nach Deutschland kamen. Der libysche Polizeioffizier Salah A. war schon ein Jahr zuvor, im Dezember 2015, bei Kamel A. eingezogen
Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz legte Kamel A. ein äußerst merkwürdiges Verhalten an den Tag. Zwei Tage danach, am 21. Dezember 2016, meldete er sich von sich aus bei der Polizei, um Angaben über Amri zu machen, dessen Foto als angeblicher Attentäter vom Breitscheidplatz in den Medien kursierte. Er verschwieg, dass Amri bis zum Tattag bei ihm gewohnt hat. Er wollte ihn lediglich in der Moschee gesehen haben. Zugleich zeichnete Kamel A. von Amri ein Bild als Einzelgänger, der "immer alleine" gewesen sei und mit "niemandem Kontakt" gehabt habe.
In der Nacht nahm die Polizei Kamel A.s Untermieter Salah A. fest und erfuhr durch ihn, dass Amri ebenfalls in der Wohnung wohnte. Am 22. Dezember 2016 vernahm das LKA Berlin Kamel A. erneut. Er räumte ein, dass Amri sein Mitbewohner war, habe das aber verschwiegen, weil er Angst gehabt habe, als Helfer eines Terroristen da zustehen. Dass Khaled A. und Salah A. ebenfalls bei ihm wohnten, verschwieg Kamel A. aber weiterhin - solange, bis ihn die Ermittler mit der Aussage von Salah A. Stunden zuvor konfrontierten.
Nun sagte Kamel A. aus, Amri habe nach der Tat, etwa um 21 Uhr seine Klamotten und seinen Rucksack geholt. Auf Nachfrage antwortet er, er sei nicht verletzt gewesen, habe keine Blutspuren oder Glassplitter an sich gehabt.
Wenige Tage nach dem Anschlag übernahm das BKA die Ermittlungen und befragte Kamel A. zwei Tage später, am 24. Dezember 2016, ein drittes Mal. Der gab nun eine wieder andere Version zu Protokoll. Amri sei nach dem Anschlag nicht um 21 Uhr gekommen, um seine Sachen zu holen, sondern schon zwischen 18 und 19 Uhr, also vor dem Anschlag. Er habe seinen Rucksack dabei gehabt und nach Neukölln zu einem "Bruder" gewollt.
Die Zeitangabe "zwischen 18 und 19 Uhr" hatte allerdings einen kleinen Haken. Nach offizieller Version soll sich Amri in diesem Zeitraum in der Nähe des LKW-Parkplatzes am Friedrich-Krause-Ufer sowie in der Fussilet-Moschee aufgehalten haben. Etwa um 18:30 Uhr habe Amri die Moscheeräume in der Perleberger Straße betreten und nach 19 Uhr wieder verlassen. Um 19:30 Uhr soll er dann den LKW gekapert haben.
Irgendwie schienen die Ermittler mit dem Zeugen Kamel A. noch nicht zufrieden zu sein, denn am 16. Februar 2017 kam es zu einer vierten Vernehmung mit ihm durch das BKA. Nun verlegte der Befragte den Zeitpunkt, an dem Amri ein letztes Mal bei ihm aufgetaucht sein soll, erneut zurück. Das sei etwa um 16 Uhr gewesen, so Kamel A. Es sei noch hell gewesen.
Allerdings wirft auch dieser Zeitpunkt Fragen auf. Denn laut offizieller Version soll Amri zwischen 15:30 und 16:30 Uhr mit zwei Bekannten in einem Imbiss im Wedding gewesen sein. Viele Täterspuren führen also nicht zu Amri, sondern weg von ihm.
Am fraglichsten ist aber, dass diese vierte Vernehmung von Kamel A. im Februar 2017 nicht im zusammenfassenden Vermerk des BKA von Ende März 2017 über Amris Flucht auftaucht.
Doch dann kam es ein Jahr später, am 15. Januar 2018, sogar noch zu einer fünften Vernehmung mit Kamel A. Dabei wurde ihm offenbart, dass die Kriminaltechniker an der Tatwaffe, der Erma-Pistole, seine DNA gefunden haben. Die Vernehmer wollten wissen, wie er sich das erkläre. Kamel A. antwortete, er habe die Waffe noch nie gesehen, er habe auch keine Waffe in seiner Wohnung gesehen, er habe alles erzählt, was er über Amri wisse.
Das war's. Die Vernehmung wurde an der Stelle beendet, die Kommissare fragten nicht mehr weiter. In welcher Weise und ob überhaupt das BKA die DNA-Spur weiter verfolgt hat, ist unklar. Als Beschuldigter wurde Kamel A. aber offensichtlich nicht geführt.
Eine ganze Reihe der Beteiligten wurden abgeschoben: Bilel Ben Ammar am 1. Februar 2017, Khaled A., der Zimmernachbar, am 22. Februar 2017, ebenso der libysche Polizist Salah A. sowie mindestens zwei seiner Drogenkomplizen. Nicht aber Kamel A. Er wohnt bis heute in Berlin.
Merkwürdigkeiten bei Fingerabdrücken, DNA- oder Faserspuren
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages will auf seiner nächsten Sitzung Anfang Mai Vertreter des BKA zu den Ermittlungen befragen. Dabei müsste auch der DNA-Fund von Kamel A. zur Sprache kommen.
Zum zweiten Mal hat der Bundestag wegen Corona eine Sitzungswoche verkürzt und U-Ausschusssitzungen abgesagt. Mit Gesundheitsgefahren ist das nur noch schwer zu begründen, wie die Lösung im Abgeordnetenhaus von Berlin zeigt. Dort trat der Breitscheidplatz-Ausschuss jetzt Ende April nach mehrwöchiger Pause wieder zusammen. Abgeordnete und Presse war räumlich getrennt, die Sitzung wurde für die Journalisten in einen anderen Raum übertragen. Allerdings waren nur Medienvertreter zugelassen, kein Publikum und also auch nicht ein Breitscheidplatz-Opfer, das sich dafür angemeldet hatte. Platz hätte es mehr als genug gegeben.
Als Zeugen geladen waren zwei Mordkommissare der Tatort-Gruppe, die vor allem die Zugmaschine des LKW untersucht hatte. Leiter der Gruppe war Thomas Bordasch, Chef der 7. Mordkommission beim LKA Berlin. Er war schon Anfang März im Bundestag als Zeuge gehört worden und hatte dabei Aufsehen erregende Aussagen gemacht.
Im Abgeordnetenhaus wiederholte er diese Aussage. Alle aufgenommenen Fingerabdrücke, DNA- oder Faserspuren haben sie in "ellenlangen Berichten" aufgelistet und an den Staatsschutz gegeben. Was aus den ganzen Spuren geworden ist, "ob sie ausgewertet wurden", wisse er nicht. Resultate der Auswertung oder eines Abgleichs seien nicht zurückgemeldet worden. Mit einer Ausnahme: Einzig bei zwei Finger- und Handflächenspuren außen an der Fahrerseite des LKW wurde mitgeteilt, dass sie von Amri stammten. Bordaschs Bezeugung wurde von seinem Kollegen Matthias O. gestützt.
Der Auswertebericht müsste umgehend den Untersuchungsausschüssen vorgelegt werden.
Auch bezüglich des äußerst seltsamen Fundortes des HTC-Handys von Amri wiederholten die Mordermittler das, was Bordasch bereits im Bundestag geschildert hatte. Das Gerät, mit dem Amri mit einem sogenannten IS-Mentor kommuniziert haben soll, fand sich in einem Karosserieloch hinter anderen Gegenständen. Rein "technisch" durch das Unfallgeschehen habe es nicht da hineingelangt sein können, so Bordasch, er wüsste nicht wie. Die einzige Erklärung sei, dass es von jemandem da hineingelegt wurde.
Er selber vermutet, das Gerät könnte aus dem Fahrerhaus herausgefallen sein, als der tote Speditionsfahrer von Rettungskräften herausgezogen wurde. Danach könnte irgendjemand es dann an die Stelle gelegt haben, wo es gefunden wurde. Überzeugend ist das aber auch nicht, denn auf dem Boden des Breitscheidplatzes lagen zahllose Gegenstände, ohne dass die jemand irgendwohin abgelegt hätte.
Beide Ermittler berichteten noch ein paar weitere Einzelheiten vom Tatort LKW. So, dass auf der Beifahrerseite im LKW viel Blut festgestellt wurde. Dort wurde Lukasz Urban, der tote polnische Speditionsfahrer, auf dem Sitz kauernd aufgefunden. Das widerspricht der Theorie der Bundesanwaltschaft, Urban habe sich in seiner Liege hinter den Sitzen aufgehalten, als er am Parkplatz des LKWs erschossen wurde und passt eher zu der Annahme, dass er erst auf dem Breitscheidplatz getötet wurde.
Bordasch und O. erwähnten, dass mehrere Tatortzeugen davon gesprochen haben, es sei geschossen worden. Patronenhülsen oder andere Spuren fanden die Ermittler aber nicht.
Auch ein Mantrailereinsatz blieb erfolglos. Obwohl Amri nachgewiesenermaßen wenige Minuten nach dem Anschlag in der Nähe am Bahnhof Zoo war, nahm der Personenspürhund nicht den Weg dorthin, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Hatte der Hund nicht Amris Geruch im LKW-Cockpit aufgenommen, sondern von einem anderen Menschen?
Unklar ist, was es mit einer Jacke auf sich hatte, die in der Nähe des Tatorts gefunden wurde und in der zwei blutige Handys sowie ein libanesischer Pass samt Meldebestätigung steckten. Wem die Gegenstände gehörten und wie damit kriminalistisch umgegangen wurde, weiß Mordermittler Bordasch ebenfalls nicht.
Die 7. Mordkommission, die unter der Leitung von Thomas Bordasch die wesentliche Tatortarbeit vornahm, wurde danach übrigens aufgelöst. Ihre Mitglieder kamen zur Staatsschutzabteilung des LKA. Warum es seine Gruppe traf, wisse er nicht, so Bordasch.
Vielleicht war es eine zufällige Auswahl, vielleicht war aber auch eine Absicht damit verbunden: Denn, wenn es keine Kommission der zentralen Tatortermittler mehr gibt, kann es von dort aus auch keine Nachfragen an die Auswerter im Staatsschutz oder das BKA mehr geben.