"Freveltat gegen das Allerheiligste"
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Das Ehrenamt: Der schöne menschliche Zug, anderen zu helfen, und wie er ausgenutzt wird für die Umgestaltung unserer Gesellschaft. Ein Gespräch mit Claudia Pinl
Über 20 Millionen Bürger engagieren sich in Deutschland in ihrer freien Zeit in Ehrenämtern, unbezahlt. Damit entlasten sie die Haushalte der Kommunen angesichts knapper Kassen. Die Journalistin Claudia Pinl hat sich in ihrem Buch Freiwillig zu Diensten? mit der Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit auseinandergesetzt. Telepolis sprach mit ihr über bürgerschaftliches Engagement und die Kehrseite des Einsatzes von Freiwilligen.
Die Presse überschlägt sich immer wieder gerne vor Lobeshymnen über die gigantische Bereitschaft der Deutschen, sich ehrenamtlich für die Mitmenschen und für die Gemeinschaft einzusetzen. 23 Millionen Deutsche, die älter sind als fünfzehn Jahre, betätigen sich kostenlos in Ehrenämtern. Ist doch wunderbar, oder?
Claudia Pinl: Ja, sicher ist das wunderbar. Das Problem ist nur, dass dieser schöne menschliche Zug, anderen zu helfen, ausgenutzt wird für die neoliberale Umgestaltung unserer Gesellschaft. Das bedeutet im Besonderen: die Ausdünnung der sozialen Netze, die steuerliche Umgestaltung zugunsten der Reichen, die Verarmung des Staates - all das führt dazu, dass der Staat viele früher als selbstverständlich erachtete Leistungen nicht mehr erbringen kann. Da sollen nun die neuen Ehrenamtlichen Dinge tun, die früher vom Staat oder von den Kommunen bezahlt wurden.
Können Sie sagen, wie viele formelle Arbeitsplätze durch Gratisarbeit ersetzt worden sind an Schulen und Krankenhäusern?
Claudia Pinl: Eine exakte Zahl kann ich da jetzt nicht nennen. Aber zu den 23 Millionen Ehrenamtlichen zählen natürlich auch die klassischen Tätigkeiten wie Feuerwehr, Schöffen oder Kommunalpolitiker. Ich habe in meinem Buch den Ersatz von hauptamtlichen Mitarbeitern durch Ehrenamtliche in der Gemeinde Engelskirchen bei Köln unter die Lupe genommen.
Die Bücherei wird jetzt von einem Förderverein und ehrenamtlichen Kräften betrieben. Ebenso das Schwimmbad. Der Grünschnitt in den Parks wird von Ehrenamtlichen gemacht. Neuerdings wird auch die Pflege des Friedhofs von Ehrenamtlichen durchgeführt. Gerade auf kommunaler Ebene werden immer mehr Tätigkeiten auf das Ehrenamt verlagert.
Welche Folgen kann das haben, wenn Amateure oder Semiprofis Arbeiten verrichten, die früher ausgebildete Fachkräfte ausgeführt haben?
Claudia Pinl: Ich würde gar nicht mal sagen, dass die Ehrenamtlichen jetzt Dinge machen, die sie gar nicht können. Es entlastet gewiss die hauptamtlichen Mitarbeiter im Krankenhaus, wenn ihnen ehrenamtliche Helfer einfache Tätigkeiten wie Fiebermessen, Patienten auf die Station begleiten und ähnliche Arbeiten abnehmen. Gleichzeitig werden die professionellen Krankenschwestern reduziert auf rein technische Arbeiten und darauf, immer wieder Berichte zu schreiben. Für den Kontakt mit den Patienten bleibt kaum noch Zeit übrig. Das bleibt den Ehrenamtlichen vorbehalten.
Die "Goodwill-Industrie"
Kann Gratisarbeit auch in Zwangsarbeit übergehen?
Claudia Pinl: Das wird wohl von einigen Seiten befürchtet. Es kommt vor, dass Arbeitsagenturen Arbeitslosen nahelegen, sich doch einmal um eine ehrenamtliche Tätigkeit zu bemühen. Dann gibt es die "Bürgerarbeit". Da geht es darum, Langzeitarbeitslose für einen Lohn von 900 Euro im Monat für bestimmte Bereiche zu qualifizieren, wo sie Arbeiten verrichten, die sonst wohl nicht getan werden. Es gibt diese Übergangszone von Hartz IV zum mehr oder minder ausgeübten Druck: 'Nun sucht Euch doch mal etwas!' auf dieser wirtschaftlich sehr prekären Ebene.
Wer organisiert diese Heerscharen von Gratisarbeitern?
Claudia Pinl: Da gibt es inzwischen ein ganz weit verzweigtes Netzwerk einer von mir so genannten 'Goodwill-Industrie'. Die haben sich neuartige Erwerbsnischen in diesem Segment erschlossen. Kommunikationsagenturen, Projektbüros oder die Freiwilligenagenturen, die es mittlerweile in fast jeder deutschen Stadt gibt. Stiftungen betätigen sich hier. Oder Universitäten mit ganzen Forschungsabteilungen zur Freiwilligenarbeit. Und wenn man die Verlautbarungen der Bundesregierung und der Landesregierungen betrachtet, zeigt sich die Tendenz, das noch stark auszuweiten.
Stichwort Corporate Social Responsibility: ganze Firmenabteilungen nehmen Auszeit und streichen in den Ferien Schulgebäude. Manager kochen Mittagessen für Obdachlose. Der klassische Fall einer "Win-Win-Situation"?
Claudia Pinl: Die Unternehmen sind in den letzten 15 Jahren steuerlich stark entlastet worden, und nun geben sie zurück - auf ihre Weise. Dahinter steckt aber vielmehr eine Aufpolierung des Firmenimages. Darunter befinden sich auch ein paar Firmen, die haben es echt nötig. Wenn der Ölkonzern British Petrol wohltätig auftritt in Bereichen, die anscheinend gar nichts mit dem Ölgeschäft zu tun haben, dann kann man vielleicht von der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko ein bisschen ablenken.
Das ist eine Sache, die uns von Amerika aus beschert worden ist. In den USA hat Corporate Social Responsibility eine lange Tradition, die sich weltweit ausbreitet; inzwischen kann sich keine Firma mehr leisten, so etwas nicht zu machen.
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