"Freveltat gegen das Allerheiligste"
Seite 2: Jetzt für lau das machen, wofür früher Erwerbstätige Gehälter bezogen haben
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Sie berichten auch von der scheinbar erfolgreichen Zusammenarbeit der Unternehmensberatungsfirma McKinsey mit den Tafeln.
Claudia Pinl: Nun, das war mal so, aber mittlerweile gehen die Tafeln auf Distanz zu McKinsey. Aber immer noch ganz groß dabei ist der Handelskonzern Rewe, der im Jahre 2010 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis für seine Lebensmittelspenden an die Tafeln erhielt. Nach Fertigstellung meines Buches habe ich in Köln einen Tag bei einer Ausgabestelle der Tafeln mitgearbeitet. Das war der Dienstag nach Ostern.
Ich habe viel Zeit damit zugebracht, verschimmelte Erdbeeren von Rewe in die Mülltonnen zu werfen. Rewe kauft Lebensmittel weit über Bedarf ein, und nur das schönste und appetitlichste kommt in die Läden. Der Rest muss entsorgt werden, was ja auch viel Geld kostet.
Die Tafeln holen mit den verwertbaren Lebensmitteln auch den Ausschuss auf eigene Kosten ab, und die Supermärkte haben dadurch weniger Entsorgungsprobleme. Da die Lebensmittelketten für gespendete Lebensmittel auch keine Mehrwertsteuer entrichten müssen, entlasten sich Rewe und andere Unternehmen auch noch finanziell.
Wer bestimmt aktuell die Richtlinien der Armutspolitik?
Claudia Pinl: Armenspeisung nach Tafel-Art und ähnliches Mildtätigenwesen sind letztlich von der Politik so gewollt, sind Folge der steuerlichen Entlastung für Reiche und für Unternehmen. Das wird aber mit scheindemokratischen Begründungen verschleiert.
Demnach gelten die neue Armenpflege und andere Sektoren ehrenamtlichen Engagements als Formen demokratischer Beteiligung. Nach dieser Philosophie sind der Staat und die Kommunen nicht mehr die alleinigen Akteure in Sachen Kommunalpolitik, Bildung oder Wohlfahrt, sondern Bürgerinnen und Bürger sind angeblich gleichberechtigte "Akteure", neben z. B. Stiftungen oder Nichtregierungsorganisationen.
Was mich an diesen "Governance"-Diskursen stört ist, dass eine basisdemokratische Rhetorik den banalen Tatbestand ummanteln soll, dass Bürger jetzt für lau das machen sollen, wofür früher Erwerbstätige Gehälter bezogen haben. Da wird von "empowerment", also Ermächtigung des Bürgers gesprochen.
Da wird dann der Sozialstaat als autoritär verteufelt, der alles bestimmt hat, und jetzt können die Bürger angeblich ein Stück weit mitbestimmen. In dem Moment, so will uns die Ideologie des Empowerment weismachen, in dem wir gratis ein Stück öffentliche Grünfläche pflegen, haben wir auch Anteil an den Entscheidungsprozessen im Gemeinwesen. Das ist aber leider nicht der Fall.
Man liest in diesem Zusammenhang viele wohlklingende Worte...
Claudia Pinl: Wenn man sich diese ganzen pseudophilosopischen Begriffe anhört wie: "der Bürger als Akteur in eigener Sache" oder: "Ko-Produzent von Wohlfahrt" oder: "soziales Kapital durch Freiwilligenarbeit"; dann stelle ich mir vor, wie wohl die so genannten "Wutbürger" da hineinpassen, die in Stuttgart gegen den Bau des neuen Bahnhofs kämpfen. Die sind bestimmt nicht gemeint, wenn es um die "Ko-Produzenten von Wohlfahrt" geht.
Das Perfide ist, finde ich, dass die Grenzen bewusst unklar gehalten werden zwischen der Nutzung der Ressource Gratisarbeit und dem bürgerschaftlichen Engagement auf politischer Ebene, wie es sich bei Stuttgart 21 gezeigt hat.
Der öffentliche Sektor braucht mehr Geld
Nimmt die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement an der Gemeinschaft eigentlich automatisch zu, je mehr Armut generiert wird?
Claudia Pinl: Da gibt es Untersuchungen, die zu einem genau entgegengesetzten Ergebnis kommen. In Gesellschaften, wo es wenig soziale Absicherung und Gerechtigkeit gibt, finden sich andere Strukturen wie z.B. Clanverbände, auf die man bauen muss, wenn es einem schlecht geht. Es ist die eindeutige Tendenz erkennbar: Je weniger Sozialstaatlichkeit in einer Gesellschaft vorhanden ist, um so mehr nimmt auch die Motivation ab, sich ehrenamtlich zu betätigen.
In den skandinavischen Ländern, in denen die Sozialstaatlichkeit in hohem Maße ausgeprägt ist, ist auch die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement noch größer als z.B. in Deutschland. Und in den USA, wo ja immer so viel von dem ehrenamtlichen Engagement gesprochen wird, liegt die Bereitschaft zu solchen Aktivitäten tatsächlich niedriger als bei uns.
Was sollte anders gemacht werden, und wie?
Claudia Pinl: Ich denke, dass die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft aufgehoben werden muss durch ein gerechteres Steuersystem. Die Reichen sollten wieder mehr Steuern zahlen, damit der öffentliche Sektor wieder mehr Geld zur Verfügung hat. Fast alle Kommunen sind in einem ganz desolaten finanziellen Zustand.
Laut OECD-Studie ist gerade in Deutschland der Bildungssektor im internationalen Vergleich unterversorgt. Daher muss auch in die Schulausbildung viel mehr Geld investiert werden. Die Tätigkeiten dürfen nicht von Ehrenamtlichen übernommen werden, sondern von Leuten, die aus öffentlichen Mitteln ordentlich bezahlt werden.
Wo soll das Geld herkommen?
Claudia Pinl: Unter dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl lag der Spitzensteuersatz noch bei 53 Prozent. Dahin sollten wir wohl mindestens wieder zurückkehren. Schließlich hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer nach der Währungsreform mit dem Lastenausgleichsgesetz eine gigantische, über dreißig Jahre gestreckte Umverteilung des Vermögens zugunsten der Kriegsopfer vorgenommen. In Bezug auf die gerechte Verteilung der Lasten auf alle Schultern war man also in der Vergangenheit wesentlich weiter als heute.
Dequalifizierung sozialer Aufgaben
Brauchen wir eine Professionalisierung der sozialen und kulturellen Dienste?
Claudia Pinl: Wir erleben ja aktuell eine De-Professionalisierung bzw. eine Dequalifizierung sozialer Aufgaben. Beispiel Altenbetreuung. Nach der Einführung der Pflegeversicherung sind die professionellen Pflegekräfte in der Hauptsache damit beschäftigt, Medikamente zu verteilen, Essen zu verteilen, Dokumentationen anzufertigen. Für alles andere werden Ehrenamtliche engagiert, damit die Bewohner überhaupt noch eine menschliche Ansprache haben.
Die beruflichen Pfleger können ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich die Zuwendung zu den Menschen, nicht mehr nachkommen. Das muss rückgängig gemacht werden! Diese meist weiblichen Tätigkeiten im "Care"-Bereich wurden ja ausgeübt, weil die Mitarbeiter Menschen helfen wollten, und nicht, um irgendwelche Pflege-Dokumentationen anzufertigen.
Ist das Potenzial an Menschen, die sich zu einem Ehrenamt bereiterklären, nicht irgendwann mal ausgeschöpft?
Claudia Pinl: Da gibt es die Generation der rüstigen Rentnerinnen und Rentner. Und die werden gerade jetzt sehr heftig umworben. Da gibt es schon Programme, bei denen Unternehmen ihren Mitarbeitern in deren letzten beiden Berufsjahren Kurse anbieten, wie sie dann nach der Verrentung in ehrenamtliche Bereiche überwechseln. Seit Frau Schröder das Familienministerium übernommen hat, haben sich die Aktivitäten in dieser Richtung deutlich gesteigert.
Was wollen Sie den Leuten mit auf den Weg geben?
Claudia Pinl: Ich möchte mit meinem Buch die Leute darauf hinweisen, für was für Aufgaben sie da eigentlich eingespannt werden: nämlich Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich öffentliche Aufgaben sind. Und dass sie in nicht unerheblichem Maße anderen Leuten ihre Arbeitsplätze wegnehmen.
Wie sind die Reaktionen auf Ihr Buch?
Claudia Pinl: Ich bin erstaunt, wie die ideologisch verbrämte Glorifizierung dieser Art von Ehrenamt quer durch fast alle Parteien übernommen wird. Da möchte ich mit meinem Buch ein bisschen gegen halten. Ich komme mir da aber manchmal vor, als wenn ich eine Freveltat gegen das Allerheiligste begehen würde. Ich stoße zum Teil auf ziemlich heftige Ablehnung.
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