"Fünfte Kolonne" 2022

Seite 2: "Unsere Werte"

Diese Entschlossenheit festigt die nationale Linie, im Ukrainekrieg einer gerechten Sache zu dienen, und gibt die den moralischen Imperativ vor, an dem sich das Volk zu orientieren hat: Russland böse, Ukraine gut, Deutschland muss helfen. Und ausgerechnet die Erben von Geißlers "fünfter Kolonne" der 1980er Jahre erweisen sich dabei als die glaubwürdigsten Vertreter.

Schon Ende der 1990er aktualisierte der damalige Außenminister Fischer seine Anti-Nato-Rede vom "atomaren Auschwitz" zugunsten dieses Bündnisses, dessen Luftkrieg gegen Serbien einen Holocaust im Kosovo verhindert habe. Amtsnachfolgerin Baerbock erklärt vor der Uno, dass "der Einsatz für nukleare Nichtverbreitung und nukleare Abschreckung in diesen Zeiten kein Widerspruch" sind.

Nach diesem Ja zur Atombombe erinnert sie amerikanische Studenten "an das Angebot des früheren Präsidenten George Bush" – das ist der, der mit der "Brutkastenlüge" die Bombardierung des Iraks rechtfertigte –, "dem wiedervereinigten Deutschland eine Partnership in Leadership in Aussicht zu stellen. Die Idee sei zu groß dimensioniert gewesen. … Jetzt aber müsse es zu der damals beabsichtigten Führungspartnerschaft kommen".

Mit solchen Reden machen Politiker wie Baerbock deshalb moralisch Furore, weil sie ihren Worten zu Oppositionszeiten, der Regierung fehle es an "wertebasiertem Handeln", als Regierungspolitiker nun Taten folgen lassen. Ethischer Rigorismus und deutscher Militarismus gehen so eine erfolgreiche Passung ein. Auch die neue Grünen-Chefin Ricarda Lang übt schon:

In diesem Moment sind es gerade unsere Werte, die uns dazu bringen, die Ukraine auch mit schweren Waffen zu unterstützen.

So platt und argumentlos, so apologetisch in der Sache, wie sie das dahinsagt, so sehr leuchtet dies der öffentlichen Kriegsmoral als hinreichender Grund der deutschen Einmischung ein.

Die Friedensbewegten erleben zwar, wie die höchsten Gewalten immer wieder ihre materiellen und menschlichen Ressourcen kriegerisch gegeneinander zum Einsatz bringen. Statt der Frage nach den Gründen stellen sie aber lieber die nach der Kriegsschuld, haben also schlechte Karten, wenn die zitierten Vorwürfe ihre Argumente und Gegenreden desavouieren und ihre Reihen weiter ausdünnen. Für sich genommen tragen die Vorhaltungen gegen sie die Züge von Verschwörungstheorien.

Allen Ernstes wird behauptet, wer gegen den Krieg eintrete, sei sein Förderer, weil er seinen selbstgerechten "Stuhlkreis-Prinzipien um den Preis des Lebens Dritter" folge (Sascha Lobo s.o.). Der Pazifismus wird gar nicht als eine politische Antwort auf den Krieg genommen, die er immerhin ist, sondern auf Charakterschwäche und Unmoral bis hin zum Landesverrat zurückgeführt.

Die Umkehrung, dass gerade die Waffenlieferungen mit dem Preis des Lebens Tausender bezahlt werden, weisen Anti-Pazifisten selbstredend zurück, weil sie den Anspruch der politischen und humanitären Verantwortung für ihren Militarismus reservieren.

Die noch vorhandenen Teile der bundesdeutschen Friedensbewegung lassen sich durch solche Anfeindungen in Erklärungsnöte und Widersprüche bringen, in denen sich ein Patriotismus bemerkbar macht, der schon in ihren Anfängen vorhanden war.

Etliche der Bewegten haben darüber gleich ihren Abschied genommen. Ehemalige Kriegsdienstverweigerer, gewesene Putin-Versteher in und außerhalb der Linkspartei, einstige Ankläger der "Supermacht USA" teilen die absurde Selbstkritik, ihre Haltungen wären tatsächlich eine Art Zuarbeit zum "russischen Imperialismus" gewesen und werden zu Zeloten ihrer Bekehrung.

Die Fridays for Future sind nicht alt genug für solche Übergänge und suspendieren ihren jugendlichen Pazifismus deshalb, weil sie einen Sieg über Putin schon wegen der Erderwärmung für nötig halten – wenngleich der Weg dorthin den CO2-Ausstoß anheizt.

Vergebliche Mühen

Auch die weiterhin Standhaften bekunden einvernehmlich:

Wir teilen das Urteil über die russische Aggression.

Offener Brief der "Еmma"

Wir verurteilen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg … auf das Schärfste!

Niemöller-Stiftung

Der Westen muss sich Russlands Aggression … geeint entgegenstellen.

Offener Brief von Richard D. Precht, Juli Zeh u.a.

Zur Eröffnung der Kritik erklärt man den Westen und die eigene Regierung in Sachen Russland vs. Ukraine also fraglos für zuständig und teilt die gültige Sprachregelung der Einmischung. Deren vermeintlich falscher Durchführung gelten dann die erhobenen Einwände, die ihrerseits unter Berufung auf eine Reihe nationaler Anliegen und Werte erfolgen.

Bei Markus Lanz liefert Precht gleich seine Headline zum Protest:

Wir müssen aufpassen, dass sich der Westen gesinnungsethisch nicht übernimmt und am Ende, in dem Versuch das Gute zu tun, Unheil anrichtet.

Sind immer mehr Haubitzen und Sanktionen denn die Folge "unserer" überbordenden Sittlichkeit? Ein Demo-Aufruf fordert "100 Milliarden für eine demokratische, zivile und soziale Zeitenwende statt für Aufrüstung". Besser wäre die Überlegung, warum es im Kapitalismus systemgemäß Zeiten gibt, in denen wirtschaftliche und zivile Opfer zugunsten der Staatsmacht anstehen.

Von der Nato-Osterweiterung habe sich "Russland zunehmend existenziell bedroht gefühlt", meint ein "Friedensratschlag" und lässt offen, ob dies dem Gefühl oder der Drohung geschuldet ist.

Deutsche Panzer gegen russische seien überdies ein "historischer Tabubruch, der nicht im Einklang mit dem Grundgesetz … steht". So sieht es jedenfalls diese idealistische Deutung von Geschichte und Verfassungsrecht. Realitätsbezogener klingt da der Einwand, "die ukrainischen Streitkräfte (würden) nach Ansicht der meisten hochrangigen Nato-Militärs und Experten auch mit neuen und effektiveren Waffen die russischen Truppen nicht zurückschlagen können". Konstruktiv mitgedacht!

Was aber, wenn das gar nicht das derzeitige Ziel des Abnutzungskrieges ist? Und was, wenn es das wäre? "Beim Aufrüstungspaket geht es nicht um Landesverteidigung, sondern um national eigenständige Kriegsbefähigung", kritisiert der Demo-Aufruf (s.o.). Statt hier einen politischen Fehltritt zu vermuten, sollte man sich lieber fragen, in welchem Land man lebt, wo militärische Verteidigung und Überlegenheit zusammenfallen.

Dass man das "militärisch übermächtige Russland (nicht) in eine Ecke drängen (darf), die es … möglicherweise zu nuklearen Eskalationsschritten verleiten könnte" (Niemöller-Stiftung), reflektieren die Nato-Staaten selbst. Nur spornt das ihren Rüstungseifer noch an, statt ihn zu stoppen. Wenn mit Sanktionen das Gleiche zu erreichen wäre wie mit den riskanten Waffenlieferungen, könnten die amtierenden Friedensordner den oppositionellen Vorschlägen (wie diesem) sogar etwas abgewinnen.

Die friedliche Idee, das Schießen durch den Wirtschaftskrieg zu ersetzen, widerspricht zwar der parallel geäußerten Besorgnis, "die Wirtschafts- und Finanzblockaden gegen Russland könnten für das westliche Europa zum Bumerang werden" (Friedensratschlag).

Das brauchen sich die achtsamen Wirtschafts- und Finanzminister einerseits nicht von unberufenen Friedensbewegten sagen zu lassen. Andererseits ist man dort eben bemüht, alle Argumente zu versammeln, die einen waffenkritischen Patriotismus der Bürger mobilisieren könnten. In der "Zeitenwende" 2022 ein ziemlich vergebliches Bemühen.