Für eine neue Boden-Ethik
Jeden Tag werden in Deutschland mehr als 100 Fußballfelder Bodenfläche zubetoniert. In den letzten 30 Jahren haben wir hierzulande bereits ein Viertel aller Böden verloren. Ein Kommentar
Weltweit gehen jedes Jahr etwa zehn Millionen Hektar Ackerfläche verloren. Der Prozess läuft zurzeit so: Immer mehr Menschen, aber immer weniger fruchtbare Böden. Auch deshalb das dramatische Artensterben. Und schon heute hungern 800 Millionen Menschen. In 50 Jahren werden wir circa 11 Milliarden Menschen sein gegenüber 7,7 Milliarden heute. Wie wollen wir mit immer weniger Böden immer mehr Menschen ernähren?
Parkplätze und Häuser, Straßen und Fabriken haben Vorrang gegenüber Land- und Forstwirtschaftsflächen. In vielen deutschen Städten wird derzeit über die Bodenfrage gestritten. Die Ansprüche an die Böden wachsen, doch der Boden wächst nicht. Böden produzieren zwar nachwachsende Rohstoffe, doch Böden sind keine nachwachsenden Rohstoffe.
Neu bauen oder renovieren und restaurieren?
Um Wohnraum oder Natur wird gestritten in Hamburg und München, in Berlin und Düsseldorf, in Frankfurt und Freiburg. Die Bodenpreise wachsen noch schneller als die Mietpreise. Am 24. Februar 2019 wird in Freiburg über die eventuell größte Stadterweiterung seiner Geschichte abgestimmt - darüber, ob im Stadtteil "Dietenbach" 6.500 neue Wohnungen für 15.000 Menschen gebaut werden sollen oder ob die Wohnungen durch Aufstocken und Verdichten der vorhandenen Gebäude entstehen können. Neu bauen oder renovieren und restaurieren? Höher bauen im Bestand oder noch mehr Boden versiegeln? Kann Freiburg, können unsere Städte ewig wachsen?
Als die Bundesregierung vor 25 Jahren von Bonn nach Berlin umgezogen ist, hat Bauminister Töpfer die Parole ausgegeben: "Ökologisches Bauen heißt primär nicht bauen, sondern renovieren und restaurieren". In Berlin wurde kein einziges Ministerium neu gebaut. Beim Umzug einer ganzen Regierung wurde verdichtet, renoviert und restauriert. Einzig das Kanzleramt wurde neu gebaut. Ein Vorbild für die heutigen Streitfragen in vielen Städten.
Gibt es Alternativen zum Neu-Bauen?
Es gibt immer Alternativen. Nichts Materielles wächst ewig - außer dem Krebs. Und der wächst auch nur bis zum Tod. Die Wachstums-Ökonomie ist eine Todes-Ökonomie. Ewiges Wachstum gibt es allein im geistigen, im spirituellen, vielleicht im kulturellen und religiösen Bereich. In allen materiellen Bereichen steht nach der anfänglichen Wachstumsphase die Phase des Reifens an. Wie beim Menschen, wenn er 18 oder 20 Jahre alt ist. Kein Mensch wächst äußerlich bis ins Alter. Statt Wachstum ist nach der Adoleszenz Reife gefragt - wie beim Menschen so auch in der Ökonomie.
Die Postwachstumsphase ist die Phase gesunden Reifens einer Ökonomie. Es stellt sich die Frage: Was wollen wir? Weiteres Krebs-Wachstum oder gesundes Reifen? Immer mehr Wachstum oder ein gutes Leben? Dabei spielen die Böden eine zentrale Rolle.
Alles Leben lebt von einer circa 30 Zentimeter dünnen Bodenschicht unter unseren Füßen. Ohne fruchtbare Böden gibt es keine Zivilisation: keinen köstlichen Wein und kein sauberes Wasser, kein Brot und keine Butter, kein Mehl und kein Mahl, kein Rasen und keine Rose, keine Flora und keine Fauna.
Die Bodenkrise ist die am meisten unterschätzte Krise unserer Zeit. Der Boden ist das vergessene Medium - auch in der Umweltpolitik und oft auch in der Umweltbewegung. Wer weiß schon, dass in einer Handvoll Boden mehr Lebewesen existieren als Menschen auf der Erde leben? Wer bedenkt schon, dass der kleine Regenwurm der "biologische Superstar" (Christiane Grefe) im Untergrund ist?
Der Boden ist ein Tausendsassa
Er speichert Treibhausgase, ist ein Wasserreservoir, ernährt uns und bietet Lebensraum für Pflanzen und Tiere, baut Schadstoffe ab, produziert Biomasse, ist Lagerstätte für Rohstoffe und beinhaltet das Archiv der Natur- und Kulturgeschichte. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte unserer Böden. Doch jetzt zeigt uns vor allem der Boden die Grenzen des Wachstums.
Wenn wir bleiben wollen, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker, müssen wir vieles ändern, vor allem unsere bisherige Bodenpolitik. Bis vor 200 Jahren waren wir noch unter einer Milliarde Menschen auf unserem Planeten. Heute sind wir über sieben Milliarden und bald bis zu elf Milliarden. In der alten "leeren Welt" waren die Grenzen des Wachstums natürlich nicht so deutlich zu erkennen wie heute in einer "vollen Welt".
Das Leben verlangt jetzt nach einer neuen Boden-Ethik, nach einer neuen Achtsamkeit gegenüber dem Boden. Wir müssen wieder lernen, Boden gut zu machen. Das geht natürlich nicht, wenn wir immer mehr Böden versiegeln. Global denken und lokal handeln heißt: Endlich die Grenzen des Wachstums verstehen. Wir leben von der Erde und werden wieder zu Erde, hören wir bei jeder christlichen Beerdigung. Der Boden unter unseren Füßen ist die Asche unserer Großeltern.
Ohne Böden kein Leben
Schon Leonardo da Vinci erkannte: "Wir wissen mehr über die Bewegung der Himmelskörper als über den Boden unter unseren Füßen." Es ist hohe Zeit, im Boden mehr zu sehen als wie bisher den "letzten Dreck".
Der Boden ist die Basis allen Lebens, er führt alles Tote ins Leben zurück. Jede Wiederauferstehung ist das Werk von Milliarden und Abermilliarden rastloser kleinster Lebewesen im Boden: von Larven und Spinnen, von Mäusen und Mikroben, von Pilzen und Termiten.