Fußball-EM 2020: Das war das Festival des Nationalismus
Nur ein Spiel? Nein, denn wieder haben sich nicht einfach ein paar Fußballmannschaften gemessen, sondern Repräsentanten von Nationen. So gehören Sport und Politik zusammen. Ein Kommentar
"Die Hymne zu singen, das ist wunderschön", meint Bundestrainer Joachim Löw. "Wenn man ein Turnier gewinnen will, braucht man unglaublich viel Enthusiasmus. Man muss ein Feuer schüren."
Singen "unsere" Jungs auch wirklich alle mit bei der Nationalhymne? Schmettern nicht die Italiener und Franzosen viel inbrünstiger die Verse ihrer "National Anthems"? Und ist es da nicht verwunderlich, wenn "die" "uns" überlegen und erfolgreicher sind? An mangelnder Technik, fehlendem Talent, falscher Taktik oder einfach zu wenig Spielglück kann es allein nicht liegen.
Denn "wir" sind schließlich eines der erfolgreichsten Länder in Europa (eigentlich sogar das erfolgreichste). Deshalb verkörpern "unsere" Kicker auch "unseren" Anspruch, bei einer Europameisterschaft ganz vorn mit dabei zu sein. Wer also schon vor Beginn des Spiels nicht mit Herzblut Vertreter dieses Anspruchs ist, kann es ja wohl während der Begegnung auch nicht mehr werden!
Es geht um nichts weniger, als "Ehre" für die Nation einzulegen. Das gilt nicht nur für die 26 Kicker-Millionäre und den dazugehörigen Trainerstab der Deutschen. Jedes teilnehmende Team bei einem internationalen Turnier wie der Fußball-Europameisterschaft steht für das sie entsendende Land, vertritt dieser Nation zugeschriebene oder selbst behauptete herausragende Eigenschaften:
Kämpferische, aber leider meist unterlegene Schweizer (was sich dieses Mal änderte); disziplinierte, nie aufgebende Deutsche ("Panzer"!); stolze, elegante Franzosen; eigentlich zu Größerem fähige Portugiesen (waren vor einigen Jahrhunderten Weltkolonialmacht, den Verlust beweinen sie bis heute); beinharte Italiener, aber manchmal launisch und unattraktiv; filigrane Spanier, die sich an ihrer Kunst berauschen und das Wesentliche vergessen (i.e. Tore schießen); und natürlich die vielen Außenseiter-Nationen von Tschechien bis Nord-Mazedonien, die zwischen mannschaftlicher Geschlossenheit und rührender Einsatzfreude ihre ganz spezifischen National-Charaktere in die Waagschale werfen.
Ein logisches Unding wird todernst genommen
Wie aber können ein paar Berufsfußballer exemplarisch für die maßgeblichen Eigenschaften eines ganzen Volks stehen? Sind die einstimmig vom Volk gewählt worden oder haben ein Charakter-Casting gewonnen? Überhaupt: Wie könnten denn die herausragenden Merkmale "des Deutschen, Italieners, Franzosen usw." ermittelt werden?
Man merkt, so kann das nicht funktionieren. Und doch wird mit schöner Regelmäßigkeit vom Auftritt der Nationalmannschaft auf die sie repräsentierende Nation geschlossen. Im Guten, wenn sie gewinnen oder zumindest eine "bella figura" abgeben. Dann dürfen die Bürger mit dem gleichen Personalausweis stolz auf sie sein - und auf sich selbst, dass sie zu einer solchen tollen Truppe gehören, irgendwie. Oder im Schlechten, dann ergießt sich über die "Versager" ein Kübel von Beschimpfungen.
Die Feinsinnigeren unter den Enttäuschten kleiden ihre Wut in der Suche nach den Schuldigen und schon lange zuvor getroffene falsche Entscheidungen – die sie natürlich schon lange zuvor kritisiert hatten. Ein logisches Unding wird also todernst genommen.
Dann kann es sich auch nicht einfach nur um ein Spiel handeln, in dem 22 Männer (und Frauen selbstverständlich auch!) hinter einem Ball herrennen, um ihn in ein Tor zu schießen. Offenbar geht es um wesentlich mehr.
Wie 1918 - als "wir" die Deutschen besiegten
"Comme en 18" (Wie 18) überschrieb etwa die französische Sportzeitung L'Équipe ihren Bericht zum Auftaktsieg gegen die deutsche Auswahl. Der Bezug zur Jahreszahl war absichtlich doppelt: 2018 schied die DFB-Elf bekanntlich bei der Weltmeisterschaft bereits in der Vorrunde aus, und Frankreich holte den Titel. "Frankreich lässt wie vor drei Jahren dem Gegner nur Krümel und die Augen zum Weinen." (zit. nach Süddeutsche Zeitung, 17. Juni 2021)
Gemeint war aber auch eine andere deutsche Niederlage: 1918 verlor das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg, einer der Hauptgegner und Sieger war Frankreich. Die Tageszeitung Le Figaro formulierte entsprechend martialisch: "Die Bleus (so heißen die Stellvertreter für das selbstverständlich herausragende französische Volk - B.H.) haben keinen Hunger, sie haben Reißzähne (...) bereit, alles zu verschlingen.
In einer Partie hoher Intensität marschieren sie über das deutsche Team hinweg." (zit. nach SZ, ebenda) Wer denkt da nicht an eine Front, die von blauen Helden überrannt wird?
Der deutsche Botschafter in Paris verstand es sofort und twitterte eilfertig: "Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!" Zur Mahnung an vergangen geglaubte Zeiten der Erzfeindschaft heftete er die Titelseite von L'Équipe an. Denn seit Längerem bilden schließlich Berlin und Paris das Machtzentrum in der Europäischen Union, durch den Austritt der Briten sogar umso mehr. Da sollten solche Misstöne unterbleiben.
Ein Fußball-Sieg schmeckt süß, ändert aber nichts an der Hierarchie der Staaten
Nun fungieren die Medien nicht als unmittelbares Sprachrohr der Politik. Sie lauschen aber den Regierenden ihre Sorgen um den Erfolg der Nation ab und sind so frei, sich darauf ihren Reim zu machen, sprich sachdienliche Hinweise zu geben, wie es am besten laufen könnte.
Im Ressort Politik geht es dann um das Verhältnis der beiden führenden EU-Staaten. Kann Macron sich endlich mal mit seinen Vorschlägen für Europa durchsetzen oder lässt ihn Merkel weiter auflaufen? Wer von den beiden letztlich das Sagen hat, ist kein Geheimnis. Ebenfalls nicht, worauf diese Hierarchie basiert: auf dem ungleich größeren ökonomischen Erfolg der Deutschen.
Ein Sieg französischer Fußballer gegen die Auswahl des benachbarten Partners ändert daran natürlich nichts. Und doch - beziehungsweise gerade, weil dem so ist – schmeckt der sportliche Erfolg süß. Im Ressort Sport darf man sich diesem Gefühl hingeben: Die Deutschen sind nicht überall überlegen, "wir" haben es denen mal so richtig gezeigt!
Der Sieg in der ersten Partie bestätigte den für eine "Grande Nation" selbstverständlichen Anspruch auf ein erfolgreiches Turnier. Entsprechend vernichtend fielen die Kommentare aus, als die französische Auswahl bereits im Achtelfinale scheiterte: "Les Bleus wurden gekreuzigt. Eine unglaubliche Pleite" (L'Équipe), "Ein enormer Misston" (Ouest France), "Les Bleus haben gegen die Schweiz ihren Verstand verloren" (Le Monde), "Es ist wie eine Ohrfeige" (Le Parisien) (alle zit. nach Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 2021).
Die logische Folge: "Frankreich beweint das frühe EM-Aus des Weltmeisters und kündigt die nahe 'Stunde der Abrechnungen' an." (ebenda) Denn diese nationale Schmach muss natürlich so schnell wie möglich getilgt werden. Also gerieten die zwei Wochen zuvor noch in den Himmel gelobten Helden nun ins Kreuzfeuer der Kritik, Trainer inklusive.
Arrogante Millionäre werden zu nationalen Helden: Sie müssen nur gewinnen
Genau umgekehrt verhielt es sich bei der "Nati". Das Kosewort für die Schweizer Fußball-Nationalmannschaft deutet zwar auf ein eher niedliches Verhältnis der Öffentlichkeit zu den Kickern hin. Aber das täuscht: "Luxus, Tattoos, Frisuren - vieles kam nicht gut an. Super kamen an: Gesten bei der Hymne" fasste die Süddeutsche Zeitung einige Vorfälle zusammen. (Isabel Pfaff: Hand aufs Herz, hoch die Faust, in: SZ, 30. Juni 2021)
Sie hatten in der Schweiz die Diskussion angeheizt, inwiefern die Spieler vorbildliche Vertreter des Landes seien. Die Antwort: eher nicht. Was hilft in solchen Fällen? Erfolg, was sonst! Und mit einem Mal war von der "arroganten Abgehobenheit der Jung-Millionarios" (Neue Zürcher Zeitung, NZZ, zit. nach SZ, ebenda) keine Rede mehr: "Der Sieg gegen Frankreich gibt vor allem dem Schweizer Coach recht - für sein Vertrauen in Führungsspieler (...eben jene Millionarios - B.H.) (…), in diese Mentalität, die oft angezweifelt worden ist." (NZZ, ebenda)
Aber sind die Fußballer in der "Nati" überhaupt national genug? Charakter hin oder her, schlägt ihr Herz vielleicht gar nicht für die Schweiz? Diesen furchtbaren Verdacht hatten zwei Spieler mit Wurzeln im Kosovo ausgelöst: Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri bejubelten schließlich bei der Weltmeisterschaft 2018 ihre Tore gegen Serbien mit dem doppelköpfigen Adler, dem albanischen Flaggen-Symbol.
Umso schöner, dass Shaqiri nun beim Singen der Schweizer Hymne demonstrativ die Hand aufs Herz des Nationaltrikots legte. Das kam gut an - so gut, dass ein Radiomoderator darin den wahren Grund für den späteren Sieg gegen die französische Auswahl ausmachte (vgl. Pfaff, ebenda). Mit der richtigen, national-moralisch einwandfreien Einstellung und der "echten Liebe" zur Nation muss man einfach gewinnen!
Wenn die Nation ruft, haben Arbeit und Virus frei
An beidem hat es der deutschen Auswahl sicher nicht gemangelt. Und doch verloren sie gegen England. Wieder so eine Nation, die wie Frankreich (oder zu früheren Zeiten Portugal und Spanien) eine Menge Stolz auf einst erfolgreichen Kolonialismus vor sich herträgt - und aktuell angestrengt versucht, weiter mit den führenden Staaten der Welt mitzuhalten.
Der "Brexit" soll Großbritannien von den Fesseln der Europäischen Union befreien und das Vereinigte Königreich endlich wieder zu seiner als angemessen empfundenen Größe zurückbringen. Einem Premier Boris Johnson ist klar, dass ihn dabei ein Sieg im "Klassiker" gegen die führende EU-Nation keinen Schritt weiterbringt.
Dennoch hat er sich wie Millionen Engländer, vorsichtig formuliert, sehr über den Erfolg gefreut. Denn es war ein nationales Ereignis, das gut endete: Die Regierung hatte die Arbeitgeber gebeten, den Beschäftigten rechtzeitig freizugeben, damit sie ab 17 Uhr Ortszeit das Spiel würden verfolgen können.
Ins Londoner Wembley-Stadion strömten die maximal zugelassenen 42.000 Zuschauer. Ohne Mund-Nasenschutz und Abstand – wer denkt noch an ein Virus, wenn es um etwas wirklich "Großes" geht, also die Deutschen endlich nach so vielen Niederlagen zu schlagen?
Auch bei den zahlreichen Public Viewings und in den Pubs verdrängte die nationale Besoffenheit das lästige Corona - ganz wörtlich: Schätzungen zufolge sollen an diesem Abend 20 Millionen Pints Bier getrunken worden sein, das sind rund 11,4 Millionen Liter. Entsprechend leicht von der Zunge ging vielen das Singen von "Football's coming home" und der Nationalhymne "God Save The Queen".
Und die unterlegenen Deutschen? Waren natürlich maßlos enttäuscht. Bei all den herausragenden Talenten und erfolgreichen Spielern in ihren Vereinsmannschaften - wie konnte man da so schlecht abschneiden? Der Trainer war's, wer sonst. Praktisch, dass der sowieso aufhört. Beruhigend auch seine Beteuerung zum Abschied: "Mein Herz schlägt weiterhin schwarz-rot-gold." (zit. nach Süddeutsche Zeitung, 1. Juli 2021)
"Was denn sonst?", möchte man fragen. Denn ein echter Fan wendet sich nicht vom Objekt seiner bedingungslosen Begeisterung ab. Das zeichnet ihn ja vor all denen aus, die wetterwendisch ihre Sympathien je nach den erreichten Erfolgen ausrichten, also nicht "treu" sind.
Beim höchsten Objekt, der Nation, verbietet sich allerdings jede kleingeistige oder individuelle Kalkulation: "Als Deutscher" (oder eben Engländer, Franzose, Italiener usw.) fiebert man mit "seinen" Sportlern ganz grundsätzlich. Wenn sie gewinnen, haben sie der Nation Ehre gemacht und damit den nationalen Untertanen auch.
Wenn sie verlieren, haben sie der Nation nicht das gegeben, was sie verdient qua ihrer überragenden Eigenschaften. Dann wird "abgerechnet" und alles dafür getan, damit das nächste Mal wieder anders wird.
Keine Parteien mehr, keine Kämpfe um Geld und Macht: Wir sind ein Volk!
Nach den weiteren Siegen des englischen Nationalteams gegen die "Underdogs" Ukraine und Dänemark ("was für ein Erlebnis für dieses kleine Land auf großer Bühne!" Per Mertesacker, gönnerhafter Ex-Deutschland-Verteidiger im ZDF) konstatierten die Medien ein "Volk im Rauschzustand" (u.a. Michael Neudecker: England wie es trinkt und tanzt, SZ, 9. Juli 2021).
Damit endete ein 55 Jahre währender, für eine Nation mit Weltmachtanspruch untragbarer Zustand: Nicht in einem Finale bei einer Welt- oder Europameisterschaft vertreten zu sein. So sehen das jedenfalls einhellig Politik, Medien und Fans. Für die herrschende Elite ist es tatsächlich ein nationaler Glücksfall: Es gibt für einen Moment keine Parteien mehr, keine Kämpfe um Geld und Macht, Not und Elend sind vergessen.
Der Premierminister streift sich ein Nationaltrikot über seinen Bauch, und dem Prinzen wird gehuldigt, als hätte er das entscheidende Tor geschossen ("Harrylujah" titelte die Tageszeitung Daily Mail). So agitiert ein Sportereignis bestens für die Einbildung der Leute, irgendwie gehöre "man" doch zum gleichen "Verein", teile die gleichen Interessen und Vorlieben und leiste deshalb auch, jeder "an seinem Platz", das Seine zum Wohle aller.
Dass dann nach dem Jubel wieder der alltägliche Überlebenskampf aller gegen alle folgt, es da überhaupt keinen positiven Zusammenhang gibt, macht einen ordentlichen Patrioten nicht irre.
Und wie sieht das dann bei den "kleinen" Ländern aus? Leider genauso, nur lecken sie eben ihre nationalen Wunden, statt zu triumphieren: "Aus für eine Mannschaft, die die Herzen ganz Dänemarks und Europas gewonnen hat. Sie fielen mit Ehre. Es war eine heroische Leistung, die die Dänen in einem Spiel ablieferten, das es in sich hatte ..." (die Kopenhagener Tageszeitung B.T., zit. nach SZ, 9. Juli 2021)
Wohlgemerkt, hier wurde keine Schlacht geschlagen - aber wie dort ging es auch hier um die nationale Ehre. Nur dass man Europa nicht mit einem Heer, sondern mit einer Fußballmannschaft "eroberte". Die "Herzen" der anderen Nationalfans flogen ihnen zu nicht wegen ihrer mitreißenden oder irgendwie sympathischen Spielweise. Bei den russischen, walisischen und tschechischen Fans dürften sich nach den jeweiligen Niederlagen ihrer Kicker gegen die Dänen die Sympathien außerdem in Grenzen gehalten haben.
Vielmehr sorgte der Herzstillstand einer der wenigen Stars in der Mannschaft während der ersten Begegnung für eine inter-nationale Welle des Mitgefühls. Die Jungs spielten dennoch - oder gerade deswegen - weiter! Und so wurden sie auf ganz besondere Weise zu "Helden": Gegen alle Widerstände kämpften sie um den Erfolg, auch für ihren verlorenen Kameraden ...
Uefa denkt ans Geschäft – seit wann gilt das im Kapitalismus als Vorwurf?
Spätestens hier muss über die Uefa gesprochen werden: Der Veranstalter der Fußball-EM hatte die Dänen vor die Wahl gestellt, nach dem Zusammenbruch von Christian Eriksen sofort weiterzuspielen oder das Spiel einen Tag später fortzusetzen. Dafür wurde der europäische Fußballverband im Nachhinein kritisiert.
Er hätte dem Team mehr Zeit für die Entscheidung geben sollen. Was wohl die Zuschauer im Stadion und vor allem die übertragenden Fernseh-Anstalten sowie die angeschlossenen Sponsoren davon gehalten hätten, mal ein paar Stunden nichts zu sehen und auf die Entscheidung zu warten, womöglich sogar eine Vertagung oder gar Annullierung zu erleben?
Da kommt das Geschäft ins Spiel - und wie es schon bei Olympia 1972 in München hieß: "The games must go on!" Palästinensische Terroristen hatten israelische Sportler überfallen und als Geisel genommen. Es gab Tote. Dennoch verkündete der Chef des Internationalen Olympischen Komitees, der ebenfalls sehr geschäftstüchtige Avery Brundage, dass die Spiele weitergingen. Und die teilnehmenden Nationen machten auch damals mit.
Die Kritik an der Uefa riss nicht ab. Die Europameisterschaft auf Stadien über den ganzen Kontinent zu verteilen, hätte zwar ideologisch wertvoll werden können: Im Sinne des Märchens von "wir" gehören über alle Ländergrenzen hinweg zusammen, vom Hinterhof im Osten bis zu den Metropolen im Westen. So war das wahrscheinlich auch gedacht. Die nationalen Gegensätze traten jedoch nicht nur in den sportlichen Auseinandersetzungen zutage.
Der Münchner Stadtrat, unterstützt von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, kam im Vorrundenspiel Deutschlands gegen Ungarn auf die Idee, das Stadion in Regenbogenfarben erleuchten zu lassen. Damit wollte man ein Zeichen setzen gegen ein neues Gesetz in Ungarn. "Es untersagt Bildungsprogramme zu dem Thema (Beschränkung der Information über Homo- und Transsexualität - B.H. ) sowie Werbung von Großunternehmen, die sich mit Homo- und Transsexuellen solidarisch erklären.
Auch Aufklärungsbücher dazu soll es nicht mehr geben. Ziel ist nach Angaben der Regierung der Schutz von Minderjährigen." (Deutschlandfunk, 8. Juli 2021)
Nur Staaten, die sich nicht in der Wolle haben, dürfen teilnehmen? Wie soll das gehen?
So geriet der Fußballverband in eine Zwickmühle: Genehmigte er diese politische Aktion gegen ein Mitgliedsland, würde er sich auf eine Seite schlagen und damit die Tür öffnen für weitere Scharmützel. Mit dem Märchen eines zumindest im Sport einigen Europas wäre es dann schnell vorbei. Auch ganz praktisch: Betroffene Staaten könnten drohen, bei künftigen Turnieren nur mitzuspielen, wenn sie garantiert nicht an den Pranger gestellt würden.
Neben Ungarn könnten aktuell Polen oder Serbien Kandidaten sein; Zuwachs bei weiteren europapolitischen Auseinandersetzungen wäre sicher zu erwarten. Eine Europameisterschaft nur mit den Staaten, die im Moment keine ernsthaften Konflikte miteinander austragen? Dürfte schwierig werden schon bei den Qualifikations-Spielen - und bei der Suche nach Sponsoren, der so wichtigen Einnahmequelle der Uefa.
Andererseits hat sich der Verband ja das "Equal Game" auf die Fahne geschrieben. "Rassismus, Homophobie, Sexismus und alle Formen von Diskriminierung sind ein Schandfleck für unsere Gesellschaft - und stellen heutzutage eines der größten Probleme im Fußball dar. Diskriminierendes Verhalten beschädigt nicht nur die Spiele selbst, sondern auch außerhalb der Stadien die Kommunikation im Netz rund um unseren geliebten Sport."
Damit hat die Uefa die Linie der maßgeblichen nationalen Fußballverbände nachvollzogen: Warum sollten Vereins- wie Nationalmannschaften herausragende Spieler auch nicht aufnehmen, nur weil sie sachfremden Kriterien nicht genügen, also die falsche Hautfarbe oder Herkunft haben?
Die Gnabrys, Mbappés und Sterlings dürften nicht spielen, obwohl sie zu den Besten gehören? Eine sehr unprofessionelle Sicht: Das einzig gültige Kriterium heißt Leistung. Und wenn die stimmt, haben gesellschaftliche Ressentiments zurückzustehen. Was nicht unbedingt bei jedem Fan ankommt...
Die Uefa untersagte deshalb auch nicht die Kapitänsbinde von Manuel Neuer in Regenbogenfarben, desgleichen nicht das demonstrative Niederknien vor dem Anpfiff aus Solidarität mit der Kampagne "Black Lives Matter". Bei Regenbogenfarben im ganzen Münchner Stadion sah sie aber eine Grenze überschritten. Schließlich hatte sich Ungarns Präsident Orban angesagt.
Diesen Affront wollte man offenbar vermeiden. Auch den cleveren, geschäftstüchtigen Schachzug einiger Sponsoren wie VW, die Bandenwerbung ebenfalls bunt zu färben und damit noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verbot der Verband.
Allein, es nützte nichts: Orban blieb zuhause. Wenigstens legten seine Kicker die erforderliche nationale Ehre ein und hatten die übermächtigen und aus seiner Sicht übergriffigen Deutschen am Rand einer Niederlage.
Die Nationen setzen ihr Gegeneinander fort und blenden es gleichzeitig aus
Wie ihre Kollegen vom Weltfußballverband Fifa und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) hat es die Uefa mit einem ständigen Widerspruch zu tun: Es messen sich um ökonomischen Erfolg und politische Macht konkurrierende Nationen in einem sportlichen Wettbewerb.
Einerseits also die Fortsetzung des Gegeneinanders mit anderen Mitteln; andererseits aber die Ausblendung der Gegensätze. Denn sonst wäre die Frage, wer an den Turnieren teilnimmt und wer sie ausrichtet, der jeweiligen aktuellen politischen Konjunktur unterworfen.
Entsprechend "neutral" verhalten sich die internationalen Sportverbände. Eine Fußball-WM in Katar ist deshalb genauso möglich wie eine folgende EM in Deutschland. Ausnahmen wie die Absage an Weißrussland, die Eishockey-WM auszurichten, bestätigen die Regel.
In internationalen Sportkämpfen sollen körperlich hochgezüchtete Volksrepräsentanten möglichst viele Siege erringen. Damit gereichen sie ihrer Nation zur Ehre - die ihr gefälligst auch gebührt. Die Ansprüche an die Zahl der zu erringenden Titel und Medaillen sortieren sich entlang der tatsächlichen Hierarchie der Staaten in der Welt.
Weltmächte wie USA, China, Russland sowie EU-Führungsnationen wie Deutschland und Frankreich geben folgerichtig viel ehrgeizigere Ziele aus als Schwellen- oder Entwicklungsländer. Die "Großen" investieren auch eine Menge Geld, um in diversen Leistungszentren und Kaderschmieden Siegertypen und -mannschaften zu züchten - mit erlaubten und nicht erlaubten Mitteln.
Der Irrwitz: Vom Ausgang dieser Veranstaltungen hängt im Verhältnis zwischen den Nationen nichts ab. Dennoch nehmen sie ihr Abschneiden so ernst, als wäre es doch so. "Dabei sein ist alles" stimmt für sie nicht. Angesichts der eigenen Stellung in der Welt - und bei einigen im Hinblick auf einen angestrebten Aufstieg - hat sich im Sport dies in einer entsprechenden Zahl von Erfolgen widerzuspiegeln. Tritt dies nicht ein, ist die nationale Ehre verletzt, und die Schuldigen werden zur Verantwortung gezogen.
Ein Europameister ist nicht auch der Meister Europas
Im Falle der Endspielgegner Italien und England verhält es sich auch so - und ein wenig anders. Denn beiden Mannschaften hatten die sie entsendenden Nationen nicht unbedingt zugetraut, so weit zu kommen.
Vor allem die englischen Fans rasteten in den weiteren Spielen nach dem Sieg gegen die Deutschen vollkommen aus, mit ihnen die Medien und die Politik. Nun hat man den angemessenen Rang als Fußball-Nation endlich wieder eingenommen, seine Bedeutung als wichtige Macht in Europa unterstrichen.
Aber auch die Italiener übertrugen gekonnt die Erfolge ihres Teams auf die Nation: "Unsere Nationalmannschaft ist wie das Land: nicht sehr stark, aber sie glaubt an sich", schrieb die Zeitung La Repubblica (zit. nach SZ, 10. Juli 2021). Die Kollegen vom Corriere della Sera setzten noch eins drauf: Sie nannte den Ministerpräsidenten Mario Draghi in einem Atemzug mit dem Nationaltrainer Roberto Mancini. "Die zwei gemäßigten Leader schenken uns eine andere Vorstellung von Italien. (…) wenn wir alle miteinander daran glauben, dass ein anderes Italien möglich ist, dann könnte sich jetzt eine neue Ära öffnen." (ebenda)
Nun jubelt Italien, und England weint. Gewonnen und verloren haben zwar nur zwei Fußballteams. Und über eine "neue Ära" oder den Erfolg des "Brexits" entscheiden andere Dinge.
Aber einen strahlenden Sieger gibt es unabhängig vom jeweiligen Abschneiden der Mannschaften: Die Einbildung eines jeden, mit den zig Millionen anderen Einwohnern seines Staates irgendwie etwas gemein zu haben und dass irgendwie alle eine gemeinsame Sache verfolgen – und wenn es nur der Gewinn einer internationalen Sportveranstaltung ist. Fortsetzung folgt: Olympia.