"G7 legalisiert das Recht auf Steuerhinterziehung"

Seite 2: Die Messlatte - und Thomas Pikettys Kritik

Die über diese Marge hinausgehenden Gewinne sollen auch nur zu 20 Prozent in den jeweiligen Ländern versteuert werden. Das sind bekannte deutliche Einschränkungen. Der Guardian hat berichtet, dass Amazon die geplanten Maßnahmen allein schon deshalb umgehen könnte, da seine Gewinnmargen unter der Schwelle von zehn Prozent liegen sollen.

Julio López Laborda, Professor für angewandte Ökonomie der spanischen Universität Saragossa geht davon aus, dass die "Messlatte so niedrig angesetzt ist, dass jedes Unternehmen in der Lage ist, sie zu überspringen". Es kommt letztlich aber auf das Kleingedruckte an, wie die Maßnahmen weiter ausformuliert werden. Üblicherweise mündet dies in Kompromissen, die das eigentliche Ansinnen weiter verwässern oder sogar ins Gegenteil verdrehen können.

Der Linken-Finanzexperte Fabio de Masi hält gegenüber dem Tagesspiegel die G7-Einigung für einen wichtigen Schritt:

"Entscheidend wird jedoch nicht sein, was der Ankündigungsminister Olaf Scholz verkündet, sondern was er durchsetzt."

Es sei aber noch keinesfalls sicher, dass die Einigung auch bei den G20 Bestand hat, unsicher sei auch, wie die Besteuerungsrechte gegenüber US-Konzernen wie Amazon oder Google aufgeteilt werden. De Masi hält die 15 Prozent ebenfalls für zu niedrig.

"Es wäre gerade nach der Corona-Krise und Jahrzehnten der Steuergeschenke für Konzerne angemessen gewesen, auf einen höheren Mindeststeuersatz zu orientieren."

Nivellierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner?

Aber Löcher, Fallstricke und Hindernisse gibt es noch viele. Diese Hindernisse werden vom "Ankündigungsminister" und seinen Kollegen aber geflissentlich verschwiegen. Denn nicht einmal in Europa ist klar, ob alle dem bisherigen Deal zustimmen. Die Steuerdumper in den Niederlanden, Luxemburg oder Irland melden "erhebliche Bedenken" an. Ob sich die Autokraten in der Türkei oder Brasilien unter den G20-Ländern Bedingungen von den G7-Industrieländern vorschreiben lassen werden, ist zweifelhaft.

Würden die 15 Prozent wie geplant kommen, müssten europäische Steueroasen wie Irland oder Luxemburg ihre Steuersätze allerdings nur wenig erhöhen. Die Differenz zu Körperschaftssteuersätzen in anderen Ländern (Deutschland etwa 30 Prozent) bliebe aber fast unverändert bestehen. Deren Mehreinnahmen erhöhen sich kaum und, anders als behauptet, bleibt der Steuerwettbewerb erhalten und wird nicht bekämpft, obwohl unklar ist, ob Amazon und Co wirklich endlich zur Kasse gebeten werden.

Man darf sogar befürchten, dass sich eine Nivellierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner einstellt, wenn der Mindeststeuersatz zum Standard wird und zum Beispiel auch Deutschland weiter unter Druck gerät, seine Steuern nach unten anzupassen.

Globale Fairness?

Entwicklungshilfeorganisationen wie Oxfam International kritisieren das Vorhaben aus dem Blickwinkel der Länder im globalen Süden. Auch die britische Organisation befürchtet, dass das gesamte Steuerniveau weltweit eher weiter abgesenkt als erhöht werde. Der G7-Deal sei "alles andere als fair". Es sei "absurd", dass man eine weltweite Mindeststeuer aufsetzen wolle, "die den niedrigen Steuersätzen in Steueroasen wie Irland, der Schweiz oder Singapur ähnlich ist", erklärt die Oxfam-Geschäftsführerin Gabriela Bucher.

Einige der mächtigsten Volkswirtschaften der Welt sollten die multinationalen Konzerne, darunter Tech- und Pharmariesen, endlich dazu zwingen, ihren fairen Anteil an Steuern zu zahlen. 15 Prozent würden wenig dazu beitragen, "den schädlichen Wettlauf nach unten bei der Unternehmenssteuer zu beenden und die weitverbreitete Nutzung von Steueroasen einzudämmen."

"Schamlos"

Das "International Tax Justice Network", das sich für Steuergerechtigkeit einsetzt, hält die Pläne sogar für "schamlos". Deren Geschäftsführer Alex Cobham erklärte, dass nun zwar beschlossen worden sei, das internationale Steuersystem endlich ins 21. Jahrhundert zu bringen. Doch nur die G7-Länder würden "schamlos selbst davon profitieren und den Rest der Welt zurücklassen".

Man sorge nicht dafür, angesichts einer globalen Pandemie ein neues Steuersystem zu schaffen, das allen Ländern die Milliarden an Unternehmenssteuern zurückbringen würde, derer sie beraubt wurden. Die würden dringend für die Erholung gebraucht. Doch sichergestellt werde nur, dass die G7-Staaten selbst den Löwenanteil erhalten.

Jeder Steuersatz unter 25 Prozent bedeute, den Wettlauf nach unten am Leben zu erhalten. Die angesetzten Modelle der Organisation zeigten, dass ein effektiver Mindeststeuersatz von 25 Prozent Einnahmen von 780 Milliarden Dollar in die Steuerkassen spülen würden. Drei Viertel der Gewinne der multinationalen Unternehmen blieben damit allerdings weiter unangetastet.

Scharfe Kritik von Thomas Piketty

Einer der schärfsten Kritiker des Vorhabens ist der der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty. Seinen Blogbeitrag in dieser Woche in der großen Tageszeitung Le Monde betitelte er aussagekräftig: "G7 legalisiert das Recht auf Steuerhinterziehung." Der renommierte Ökonom ist bekannt für klare Worte. Belasse man den Steuersatz bei 15 Prozent, "ist das nicht mehr und nicht weniger als die Formalisierung einer echten Lizenz zum Betrug für die mächtigsten Akteure".

Er verweist darauf, dass es für kleine und mittlere Unternehmen sowie für die normalen Beschäftigten unmöglich sei, irgendwo in einer Steueroase eine Tochtergesellschaft zu gründen, um ihre Gewinne oder Einkünfte dort zu versteuern. Für sie bleibe keine andere Wahl: Abhängig Beschäftigte oder kleine und mittlere Unternehmen zahlten Steuersätze in allen G7-Ländern, die weit über 15 % liegen: mindestens 20-30 Prozent und oft 40-50 Prozent oder sogar mehr.

Durch die Legalisierung der Tatsache, dass multinationale Konzerne ihre Gewinne weiterhin nach Belieben in Steuerparadiese verlagern können, mit einem Steuersatz von 15 Prozent als einzige Steuer, formalisiert die G7 den Eintritt in eine Welt, in der Oligarchen strukturell weniger Steuern zahlen als der Rest der Bevölkerung.

Thomas Piketty

Um diese Situation zu durchbrechen, appelliert er an souveräne Entscheidungen der Nationalstaaten, die höheren Steuersätze festlegen könnten. Im Fall Frankreichs würden mit dem Mindestsatz von 25 Prozent 26 Milliarden Euro pro Jahr in die leeren Kassen gespült, bei 15 Prozent wären es dagegen nur vier Milliarden.

Die zusätzlichen Einnahmen sollten zur "besseren Finanzierung der Krankenhäuser, Schulen und der Energiewende" verwendet werden und zur "steuerlichen Entlastung von Selbstständigen und weniger wohlhabenden Beschäftigten". In dieser Frage eine europäische Einstimmigkeit zu erwarten sei illusorisch.

"Nur unilaterale Maßnahmen, idealerweise mit der Unterstützung einiger weniger Länder, können die Situation entschärfen."

Zudem dürfe die Körperschaftssteuer nicht die letzte Steuer für Aktionäre oder Manager von Unternehmen sein. Sie müsse wieder in ein Steuersystem mit progressiver Einkommensteuer auf individueller Ebene eingebettet werden. Er fordert die Veröffentlichung detaillierter Informationen, aus denen hervorgeht, welche Steuern von Personen gezahlt werden, die zu sehr hohen Einkommens- und Vermögensgruppen gehören.

Piketty zitiert eine proPublica-Studie, die zeige, dass die Reichsten angesichts ihrer Möglichkeiten zur Manipulation kaum Steuern zahlen. Er fordert auch eine progressive Vermögenssteuer, die es ermöglichen würde, sie signifikant und im Verhältnis zu ihrem Vermögen zu besteuern.

Notwendig sei es auch, die Diskussion endlich für die Länder des Südens zu öffnen. Der von der G7 vorgeschlagene Mechanismus sei nicht für eine effektive Verteilung von Steuereinnahmen geeignet. Es gehe dabei nur um "winzige Summen".

Die Einnahmeverteilung werde sich im Wesentlichen auf eine Umverteilung zwischen den Ländern des Nordens reduzieren. Wenn die dem Süden aber eine Chance geben wollen, "sich zu entwickeln und lebensfähige Staaten aufzubauen, ist es dringend notwendig, dass die armen Länder einen bedeutenden Anteil an den Einnahmen der multinationalen Konzerne und Milliardäre des Planeten erhalten", schließt Piketty seinen Beitrag.