Gaddafi weg - und alle Fragen offen ...
Was sich im Osten Libyens als Ordnungsmacht etabliert, ist unklar
Im Osten Libyens hat Muammar al-Gaddafi keine Kontrolle mehr über den Staatsapparat. Doch anders als in Tunesien oder in Ägypten ist weitgehend unklar, wer den Widerstand dort anführte. Sicher scheint, dass ein akademisch gebildetes Bürgertum und eine technisch an die Welt angeschlossene Jugend in Libyen nicht die Bedeutung haben wie in den Nachbarländern Tunesien oder Ägypten. Bisher gibt es keine libyschen Blogger, die zu Berühmtheiten wurden und auf den Bildern, die aus dem Osten des Landes kommen, sieht man keine demonstrierenden Frauen oder modisch gekleideten Studenten, sondern Männer, die mit ihren Tüchern, Kalaschnikows und Staubschutzbrillen eher Assoziationen mit Somalia, Erwin Rommel und den Film Mad Max fördern als mit Facebook- und Twitter-Accountinhabern.
Die Geo-Redakteurin Gabriele Riedle, die sich bis zum Ausbruch des Aufstandes in Libyen aufhielt, meinte nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, dass sie keinen einzigen Libyer getroffen habe, der von Demokratie redete. Ihrer Wahrnehmung nach spielen beim Aufstand regionale Zusammengehörigkeitsgefühle und eine Eigendynamik der Rache die wichtigste Rolle: "Einer schießt, dann gibt es wütende Trauer, dann wird noch mehr geschossen, so eskaliert das." Der westliche Reflex "Protest ist gut und das bringt Demokratie" ist Riedle zufolge lediglich Wunschdenken.
Eine wichtige Rolle in dieser Rachedynamik spielt offenbar die Härte, mit der Gaddafi in den 1990er Jahren gegen Umsturzbestrebungen von Islamisten vorging. Diese gingen vor allem von Personen aus, die sich in den 1980er und frühen 1990er Jahren in Afghanistan mit finanzieller Hilfe der USA zu "Gotteskriegern" ausbilden lassen hatten und anschließend in ihre Heimat zurückkehrten. Mitte der 1990er Jahre gründeten sie die dort die Terrorgruppe al-Jama'a al-Islamiyyah al-Muqatilah bi-Libya (LIFG), deren Existenz dazu führte, dass Gaddafi auch viele Libyer einsperrte, die nichts mit der LIFG zu tun hatten und während eines Gefängnisaufstandes in Busalim 1996 angeblich 1.240 Islamisten erschießen ließ. Die Proteste, die im Februar 2011 begannen, wurden auch von Familien mit initiiert, die bei dieser Revolte Söhne verloren und die Herausgabe ihrer Leichen forderten.
Die Islamisten sind neben Stammesführern und der en gros abtrünnig gewordenen Elite eine der drei Gruppen, die im Osten Libyens die Macht unter sich aufteilen könnten. Wer wie viel davon hat, ist auch deshalb schwer auszumachen, weil die Mitglieder des einunddreißigköpfigen "Nationalen Übergangsrates" in Bengasi, der am letzten Freitag geheim tagte, weitgehend unbekannt sind, was angeblich auch daran liegt, dass der Ausgang des Konflikts noch offen ist und sie sich nicht exponieren wollen. Namentlich bekannt sind bisher zehn Mitglieder.
Unter ihnen befinden sich zwei, die keine unbeschriebenen Blätter sind: Der ehemalige Justizminister Mustafa Abdul Dschalil, der sich fünf Tage nach Beginn des Aufstandes, am 21. Februar, von Gaddafi abwandte, und Abdul Hakim Ghoga, der Vorsitzende der Anwaltskammer von Bengasi, der zumindest gegenüber westlichen Medien betont, dass er für Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und eine Verfassung eintrete.
Wer dem Gremium vorsteht, ist nicht ganz klar, aber in jedem Fall scheinen Dschalil und Ghoga Rivalen: Als der Ex-Justizminister Ende Februar die Bildung einer Übergangsregierung ankündigte, widersprach ihm der Anwalt öffentlich und meinte, erst müsse Tripolis erobert werden. Durch seine voreilige Ankündigung habe sich Dschalil außerdem diskreditiert und könne deshalb nicht mehr solch einer Übergangsregierung vorstehen.
Neben dem "Nationalen Übergangsrat" gibt es auch einen Militärrat, über den lediglich bekannt ist, dass er im Justizpalast von Bengasi tagt. Als Führungsfiguren werden unter anderem der Tobruker Oberst Ahmed Aschur Abisch und der pensionierte General und ehemalige Innenminister Abdul Fatah Junis gehandelt. Fest steht in jedem Fall, dass es neben den uniformierten Truppen auch Stammesmilizen gibt, die sich massenhaft mit Waffen versorgten und zumindest vor den Kameras die Speerspitze der Angriffe auf die von Gaddafi-Truppen gehaltene Sirte bildeten. Strategie und Taktik schienen bei diesen Aktionen - vorsichtig formuliert - eine eher untergeordnete Rolle zu spielen, was aber offenbar militärische Teilerfolge nicht ausschloss.
Befehle entgegennehmen dürften nicht nur die Stammesmilizen, sondern auch Teile der uniformierten Soldaten im Zweifelsfall eher von traditionellen Autoritäten als von Offizieren. So soll etwa die Drohung der Scheichs, dass alle, die sich an der Niederschlagung von Protesten beteiligen, den Schutz des Stammes verlören, dazu geführt haben, dass die Militärs massenhaft die Seite wechselten. Auf der anderen Seite stießen Radioaufrufe der Stammesführer, die von Gastarbeitern geräumten Arbeitsplätze in der Ölindustrie einzunehmen, bislang auf deutlich weniger Gehorsam, als solche, sich an den Kämpfen zu beteiligen.
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