Gaskrise: Habeck warnt vor sozialer Zerreißprobe
Der Bundeswirtschaftsminister und der Gesamtverband der deutschen Wohnungswirtschaft entwickeln Albtraum-Szenarien, die den sozialen Frieden in Deutschland in Gefahr sehen.
Der Branchenverband GdW (Gesamtverband der deutschen Wohnungswirtschaft) hat Szenarien für Energie-Zusatzkosten berechnet. Die Mehrausgaben für alle Haushalte belaufen sich demnach im Durchschnitt in diesem Jahr auf 702 Euro. Im schlimmsten, dem "oberen" Szenario, könnten es 3.799 Euro werden, im untersten 1.361.
Für einen Vier-Personen-Haushalt errechnet der Verband gegenwärtige Mehrausgaben in Höhe von knapp unter 1.000 Euro (938), im unteren Szenario von 1.818 Euro und im schlimmsten Fall von 5.074 Euro. Das seien extreme Herausforderungen, kommentiert der Focus-Bericht dazu. Dort wird der GDW mit der Einschätzung zitiert: "Die Situation ist mehr als dramatisch, und der soziale Frieden in Deutschland ist massiv in Gefahr."
Dieses Zitat taucht auch in der englisch-sprachigen Financial Times auf, GDF-Chef Axel Gedaschko wird dort damit zitiert. Es geht in den Beitrag darum, dass sich Europas größte Volkswirtschaft in der größten Krise seit dem Ölpreisschock im Jahr 1973 befindet. Ähnliche Berichte über die Krise in Deutschland waren auch in der französischen Le Monde in der vergangenen Woche zu lesen. Im europäischen Ausland macht man sich Sorgen.
"Eine Situation, wie wir sie noch nicht hatten"
Die macht sich auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. "Es ist einfach eine Situation, wie wir sie noch nicht hatten. Alles ist möglich", sagte er dem Deutschlandfunk in einem Interview, bei dem er auf ein "politisches Albtraum-Szenario" zu sprechen kommt.
Noch gebe es kein Heizproblem, da es ein warmer Sommer sei und auch Gas eingespeichert werde. Aber, so Habeck, Deutschland könnte "möglicherweise in drei, vier, fünf Monaten ganz anders" vor dem Gasversorgungsproblem stehen, wenn die Versorgungslage dramatisch werde.
Wenn alles nicht mehr funktioniere – aufgezählt werden Energiesparen seitens der Bürger und der Unternehmen, Kohlekraftwerke, die wieder zurück ans Netz geholt werden, Impulse an Unternehmen über Auktionen ("Wir werden Industrieunternehmen, großen Gasverbrauchern sagen: Wenn ihr das reduziert, kriegt ihr Geld"), gesetzlich geregelte Einschränkungen ("bestimmte Gasverbräuche lassen wir einfach nicht mehr zu") – was dann?
(…) dann wäre tatsächlich die Ultima ratio, dass der Staat, wenn der Markt nicht mehr da ist, entscheiden muss, wo die Versorgungssicherheit gewährleistet werden muss und wo nicht. Aber noch einmal: Das ist ein politisches Albtraum-Szenario.
Da gibt es auch kein Richtig und kein Falsch mehr. Das kann nur falsch sein, allerdings mehr oder weniger falsch, würde ich sagen. Und da mache ich mir auch keine Illusion, was dann an Debatten passieren wird, auch über mein Ministerium, über meine Person.
Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten. Deswegen, dieses Szenario müssen wir mit allem, was wir können, verhindern. Das wird die gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze und wahrscheinlich darüber hinaus strapazieren.
Robert Habeck
Die Frage im kommenden Herbst wird sein, wie weit die Bürger die großen Verteuerungen mittragen können - manche Mietervertreter winken hier schon ab und sagen "unmöglich" - oder wollen. Laut dem ARD-DeutschlandTrend der vergangenen Woche schätzen 70 Prozent der Befragten ihre wirtschaftliche Lage als gegenwärtig sehr gut bzw. gut ein. 48 Prozent sind jedoch der Meinung, "dass es ihnen persönlich in einem Jahr wirtschaftlich schlechter geht als heute".
Der Mehrheit, so die Umfrage, unterstütze trotz dieser Aussichten die Maßnahmen gegen Russland, "wenn sie hierzulande zu spürbaren Nachteilen führen":
61 Prozent unterstützen Maßnahmen gegen Russland auch dann, wenn es dadurch zu Engpässen in der Energieversorgung kommt, 59 Prozent auch dann, wenn dadurch deutsche Firmen und Betriebe Nachteile erleiden, 57 Prozent auch dann, wenn dadurch bei uns die Energiepreise und Lebenshaltungskosten steigen.
ARD-DeutschlandTrend, 07.07.2022
Auf die Frage im Deutschlandfunk-Interview, ob die Ansage des Bundeskanzlers, wonach Sanktionen gegen Russland dürften Deutschland nicht mehr schaden als Russland, noch so stehen kann, antwortet Habeck einerseits bestätigend mit: "Doch, der steht." Und anderseits ausweichend.
Er widerlegt nicht, dass die Sanktionen, wie es derzeit den Anschein hat, wirtschaftlich mehr Deutschland als Russland schaden, sondern er manövriert sich an einer konkreten Antwort vorbei.
Also, natürlich opfert man etwas, gibt man etwas, wenn man eine Sanktion macht, auch selbst an wirtschaftlichem Vorteil, an Absatzmärkten usw. Aber die müssen immer stärker Russland treffen als uns.
Robert Habeck
Ob die Sanktionen Russland stärker als Deutschland stärker treffen, sagt der Wirtschaftsminister nicht. Er macht auch gar nicht den Versuch, eine solche Behauptung - wie sie etwa Kanzler Scholz neulich noch andeutete, als er von "hochwirksamen Sanktionen" gegen Russland sprach -, mit Zahlen zu belegen.
Stattdessen spricht er davon, dass es klug war, nicht den nächsten drastischen Schritt in der Sanktionspolitik, das Gasembargo, zu gehen, und dass Russlands Oligarchen die Sanktionen spüren würden.
Und deswegen gibt es kein Gasembargo. Aber ein Embargo von Hightech-Gütern und eine Geldsperre und Banken sind gelistet usw., usf. Und die Oligarchen können nicht mehr reisen und kaufen, was sie wollen. Also, die Sanktionen sind schon zielgerichtet.
Robert Habeck
Drängt sich die Frage auf, ob es der russische Präsident innenpolitisch nicht leichter haben wird, mit geschwächten Oligarchen umzugehen, als die deutsche Regierung mit einer zunehmend finanziell belasteten Bevölkerung?