Gaza: Wenn der Krieg in die nächste Eskalation kippt
Mit steigenden Opferzahlen, den Bildern eines Angriffs auf die UN-Schutzunterkunft und den ersten Nachrichten über getötete Palästinenser bei Protesten im Westjordanland wird es für die israelische Regierung immer schwieriger, das Bild von einer kontrollierten Kriegsführung aufrecht zu erhalten
Wann man die wunde Stelle analytisch zu fassen versucht, die die Ursache für die seit Beginn des Gazakriegs erwarteten, niederschmetternden Berichte und Fotos von toten oder verletzten palästinensischen Kindern und Säuglingen ausmachen, so trifft es vielleicht das Bild von der "Kontrollmatrix", deren Nähte reißen, am besten. Die Ausweitung des tödlichen Konflikts auf das Westjordanland auch ist eine Folge davon.
Mit Kontrolle ist überschrieben, was die israelische Sicherheitspolitik gegenüber den Palästinensern auch in Friedenzeiten prägt. Das hat dazu geführt, dass Gaza gefängnisgleich abgesperrt wurde, dass nicht erst die Regierung Netanjahu davon sprach, dass man auf der palästinensischen Seite keinen geeigneten Gesprächspartner habe, weil keiner die radikalen Kräfte kontrollieren könne.
Die vorgegebene Fallhöhe: "Zivilisation gegen Terror"
Ihrer Erzählung vom unbeherrschbaren, bedrohlichen Chaos mit stark terroristischen Elementen auf Seiten der Palästinenser fügten die israelischen Regierungen stets an, dass die Aktionen des israelischen Militärs und der Geheimdienste einer kontrollierte Selbstverteidigung untergeordnet seien, auch die Angriffe, die aus dem militärischen Logos heraus als Verteidigung dargestellt werden .
Von beiden Elementen des Sicherheitsapparates wird erzählt, dass sie zu den avanciertesten der Welt gehören und ihre Aktionen zielgerichtet seien, stecknadelkopfpräzise (auf dem "pinpoint") vorgehen. Dem "rückständigen Terror der Palästinenser" wird in dieser Sicht der zivilisierte Fortschritt auf Seiten der Demokratie im Nahen Osten entgegengehalten - das ist die Fallhöhe, mit der der israelische Militäreinsatz immer wieder zu tun hat.
Der Angriff auf die UN-Schutzunterkunft
Die weltweiten Schock-und Entrüstungswellen, die sich seit gestern Nachmittag durch die Berichte und Bilder vom Angriff auf die UN-Schutzunterkunft in einer Schule in Gaza mit mindestens 15 Toten und 200 Verletzten noch höher aufbauen, sind das Ergebnis einer doppelt angekündigten Katastrophe.
Es war erstens zu erwarten, dass der Militäreinsatz im dichtbesiedelten Gazastreifen, mit Kämpfern, die sich natürlich nicht aufs freie Feld zum Abschuss bereitstellen, zu Todesopfern bei der zivilen Bevölkerung führen würde, das bewusst - und laut IDF mit allen möglichen militärischen Vorsichtsmaßnahmen, Warnungen, pinpoint-Angriffe etc. - eingegangene Risiko vergrößerte sich mit der Bodenoffensive.
Doch dürfte die israelische Führung in ihrer Vorstellung auch mit einem Effekt der zivilen Opfer gerechnet haben: dass Shock and Awe zur Abkehr der Bevölkerung von der Hamas führen. Das ist nicht eingetroffen. Das Niederschmetternde des Angriffs auf die Schule von Beit Hanoun liegt gerade darin, dass damit ein Schutzzufluchtsort angegriffen wurde. Wohin soll die zivile Bevölkerung fliehen?
Die zweite Ankündigung der Katastrophe: Man hat miteinander telefoniert, sagen UN-Mitarbeiter. Man habe die IDF davon in Kenntnis gesetzt, dass in dem Schulgebäude Zivilisten sind. Das war ein deutliches Signal an die Militärs, dass der Angriff zivile Opfer nach sich ziehen würde. Die IDF habe denen, die in die Schulräume, das als Zufluchtszentrum ausgewiesen war, geflüchtet waren, nicht genügend Zeit für die Flucht gelassen, so die Anklage von den UN-Mitarbeitern, die in ihren Reihen ebenfalls Opfer haben.
Die IDF verwies zunächst darauf, dass man Waffenbeschuss aus diesem Gebäude wahrgenommen habe und dann darauf, dass der Angriff und die Schäden möglicherweise von einer Hamasrakete stammen, z.B. von einem Eigenbau, der explodierte. Bislang fehlen aber Beweise für diese Anschuldigung, während die Angriffsabsicht des israelischen Militärs außer Frage steht.
Aufgeklärt ist die Angelegenheit nicht. Die israelische Militärführung verweist darauf, dass in den letzten Tagen Waffen in von der UN-Hilfe verwalteten Schulen gefunden wurden, was die UN auch bestätigt hatte, aber nicht in diesem Fall. In israelischen Zeitungen heißt es, dass die IDF Angelegenheit genau untersuchen würde.
Kontrolle über die Deutungshoheit
Feststeht schon jetzt, dass die politische Führung und die Armeeführung keine überzeugende Figur machen. Umso weniger als solche Details ans Licht kommen, die das Ausmaß der Kontrolle über die Deutungshoheit klarmachen, wie zum Beispiel, dass versucht wird, Berichte, die den Namen der getöteten Kinder veröffentlichen, zu verhindern. Der Versuch, möglichst viel Kontrolle im Informationskrieg auszuüben, findet sein Echo darin, dass sich öffentlich der Verdacht vergrößert, die israelische Militärführung ist vor allem auf verbergen und vertuschen aus. So auch bei der Verantwortlichkeit für den Angriff auf die Schule in Beit Hanoun.
Dazu kommt, dass die Opferzahlen des Militäreinsatzes eine deutliche Sprache sprechen: über 800, die meisten davon Zivilisten, wie in vielen Berichten, die in der Weltöffentlichkeit kursieren, hinzugefügt wird. Die Grenzen eines kontrollierten Militäreinsatzes sind nicht zu übersehen. Der Verweis auf die heimtückischen Taktiken der Hamas kann damit in der öffentlichen Darstellung nicht mehr mithalten. Es sind israelische Flugzeuge, die mit ihren Raketen und Bomben töten. Die Hamas-Raketen werden dagegen außerhalb Israels als immer harmloser wahrgenommen.
Mit der Genfer Konvention ist das nicht mehr gedeckt, der Guardian-Artikel, der dies aufzeigt, ist nur Teil einer Bewegung, die längst auch die UN erfasst hat, die die Verantwortlichen in Israel wegen Kriegsverbrechen anklagen will. Hilfsorganisationen beschuldigen das israelische Militär, dass Sniper auf Helfer schießen.
Ein ganzes Narrativ ist am Kippen
Doch reißt die Kontrollmatrix nicht nur an diesen Nähten. Es kippt ein ganzes Narrativ. Mittlerweile sind in US-Publikationen Artikel zu lesen, die von "amerikanischen Israel-Dschihadisten" sprechen, die für die Sache Israels kämpfen und sich, ohne über die Lage im Nahen Osten Bescheid zu wissen und den Feind zu kennen, sich der israelischen Armee zur Verstärkung anbieten.
Was hier vorgeführt wird, ist in unzähligen Forumsbeiträgen längst Usus, die Übertragung und Umdrehung von Erzählmustern aus dem Krieg gegen islamistische Terroristen auf die Seite, die sich als die gute darstellt. Das führt dann bis zur Sichtweise, wonach die US-Zahlungen an Israel als Finanzierung von Terroristen begriffen werden und mit entsprechenden juristischen Möglichkeiten spekuliert wird.
Das Kippen der Erzählungen, das durch den Gaza-Krieg vehement verstärkt wird, ist eine gefährliche Entwicklung nicht nur für die Glaubwürdigkeit der israelischen Regierung, sondern auch für die Sicherheit der Bevölkerung. Dass Proteste im Westjordanland zu zwei toten Palästinensern und 200 Verletzten geführt haben, ist ein beunruhigendes Anzeichen für eine Eskalation der Gewalt in der allernächsten Umgebung. Das könne zur nächste nächsten angekündigten Katastrophe führen, wenn die Regierung Netanjahu am Primat der militärisch gesuchten Lösung festhält.