"Gebete zur Beseitigung des Pestherdes"

Das Grabkreuz von August Marahrens, dem Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, und seiner Ehefrau auf dem Friedhof des Klosters Loccum. Foto: Bernd Schwabe / CC BY-SA 3.0

Evangelische Kirche und "Russlandfeldzug": Neuedition einer Arbeitshilfe von Dietrich Kuessner - Kirche & Weltkrieg, Teil 6

Zur propagandistischen Begleitung des Völkermords an der slawischen Bevölkerung Osteuropas wurde im nationalsozialistischen Deutschland u.a. die antisowjetische Hetzschrift "Der Untermensch" verbreitet. Mit dem antislawischen Rassismus der deutschen Faschisten ist - sofern ein konzentrierter Handlungskomplex betrachtet werden soll - der bislang größte Genozid der gesamten Geschichte verbunden, die Ermordung von mehr als 20 Millionen unschuldigen Menschen durch Waffen, Flammen, Galgen, Aushungerung, Internierungsregime, Raub von Lebensgrundlagen und Versklavung (System der Zwangsarbeit). Der am 22. Juni 1941 begonnene Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion war zugleich ein Hauptschauplatz der Shoa, der Ermordung von insgesamt sechs Millionen Juden.

Doch zum 80. Jahrestag am 22. Juni 2021 wird es nach gegenwärtigem Stand kein offizielles Gedenken in deutschen Landen geben. Auch im aktuellsten Nutzermailing der Bundeszentrale für politische Bildung findet man noch keinen Hinweis auf einen Beitrag zum öffentlichen Geschichtsgedächtnis des weithin ausgeblendeten Völkermordes an jenen, die der von einer Mehrheit der Deutschen bejubelte Adolf Hitler als "slawische Untermenschen" bezeichnet hat.

Zu den wenigen Lichtblicken der neueren Erinnerungsarbeit gehört das im letzten Jahr erschienene Buch "Vernichtungskrieg im Osten" (VSA: Verlag Hamburg) von Hannes Heer und Christian Streit, gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die so oft gerühmte deutsche Gedenkkultur zur nationalen Massenmordhistorie entspricht ansonsten bei diesem abgründigen Thema nicht einmal ansatzweise dem, was viele Vertreter des schwarz-rot-goldenen Selbstlobkollektivs der Welt vorgaukeln.

Arbeitshilfe zur protestantischen Kriegskollaboration

Im Rahmen des in dieser Telepolis-Reihe vorgestellten Editionsprojekts "Kirche & Weltkrieg" kann zumindest schon eine Neubearbeitung der Arbeitshilfe "Die Deutsche Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug" des kritischen Pfarrers Dietrich Kuessner vermeldet werden. Die in der Erstauflage 1991 enthaltenen Originalquellen in Frakturschrift erschließen wir für eine neue Lesergeneration durchgehend in neuen Texterfassungen. Alle, die zur historischen Aufklärung auf dem Feld der militaristischen deutschen Kirchen- und Religionsgeschichte beitragen wollen, laden wir ein, sich hier bei Bedarf mit der Kopiertaste in der frei abrufbaren Digitalversion zu bedienen.

Schon vor fünf Jahren bewertete der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch, es im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst als enttäuschend, dass anlässlich des 75. Jahrestages des Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 keine "herausgehobene Veranstaltung" stattfinde: Das "historische Ereignis mit Millionen von Toten sei bis heute eine große Leerstelle im öffentlichen Gedenken der Bundesrepublik"; in der deutschen Öffentlichkeit wurde der Angriff lange einfach als "normaler Krieg" betrachtet, doch er war "ein rassistisch und antisemitisch motivierter Vernichtungsfeldzug zur Eroberung neuen Lebensraums, den man sich gar nicht schlimmer vorstellen kann".

Der Rasse- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion wurde von den Christen im nationalsozialistischen Deutschland mitgetragen, auch von zahllosen getauften Regimegegnern, die sich nicht selten vom Dienst in der massenmörderischen Wehrmacht einen Schutz vor Gestapo-Nachstellungen versprachen und die Ausrottung des Bolschewismus als gottwohlgefälliges Werk betrachteten.

Die protestantische Kirchenobrigkeit versicherte dem "christlichen" oder doch christkonformen Staatsmann Adolf Hitler am 30. Juni 1941: "Die Deutsche Evangelische Kirche ist mit allen ihren Gebeten bei Ihnen und bei unseren unvergleichlichen Soldaten, die nun mit so gewaltigen Schlägen daran gehen, den Pestherd zu beseitigen."

Trotzdem gefeiert

Das Dokument zum "Russlandfeldzug" trug unter anderem auch die Unterschrift von August Marahrens, dem Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der lange als entschiedener Parteigänger der nonkonformen "Bekennenden Kirche" gefeiert worden ist - trotz seiner Kriegsvoten und trotz der von ihm verweigerten Solidarisierung mit den verfolgten Juden.

Eine gemeinsame Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland und des ostdeutschen Bundes der Evangelischen Kirchen zum 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die UdSSR enthielt eine Friedensvision unter Einschluss Russlands: "Die Beziehungen zwischen den Völkern der Sowjetunion und dem deutschen Volk sind jetzt und in Zukunft eingebunden in die weitere gesamteuropäische Entwicklung." Den Kirchen steht es selbstredend frei, zum 80. Jahresgedenken auch den neuen Kalten Kriegern der Gegenwart entgegenzutreten.

Wie dieser Quellentext zum 50. Jahrestag ist Kuessners Werk heute unter anderem ein bedeutsames Dokument zur Erinnerungsgeschichte in Deutschland. Eine so breit angelegte Arbeitshilfe zur kirchlichen Unterstützung des Vernichtungsfeldzuges gen Osten mit erschütternden Quellenerschließungen gab es vor drei Jahrzehnten vielleicht nirgendwo anders.

Dietrich Kuessner: Die Deutsche Evangelische Kirche und der Russlandfeldzug. Eine Arbeitshilfe (Neuedition: Kirche & Weltkrieg, Band 7). ISBN: 978-3-7526-7109-4 (Seitenzahl: 252; Paperback: Preis 9,90 Euro) Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis hier auf der Verlagsseite

Internetseite zum Editionsprojekt "Kirche & Weltkrieg" (bisher erschienene Bände): https://kircheundweltkrieg.wordpress.com/buchreihe/