Gedanken über die Zigarettenkatastrophe in Zeiten der Coronavirus-Pandemie

Seite 2: Was ist zu tun?

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Während im 20. Jahrhundert insgesamt etwa 100 Millionen Menschen am Tabakrauchen weltweit verstorben sind, müssen wir im 21. Jahrhundert mit etwa 1 Milliarde vorzeitiger Todesfälle rechnen, wenn wir so weiter machen wie bisher, meint Proctor.

Diese weltweite Zigarettenkatastrophe habe schon begonnen. Es wäre als großer Erfolg zu werten, wenn es mit einer Eindämmung des Zigarettenkonsums durch eine effektive Tabakkontrolle gelänge, die Zahl der weltweiten Todesfälle durch Tabakrauchen in laufenden 21. Jahrhundert auf 300 oder 400 Millionen zu begrenzen.

Proctor hat in seinem Buch für die Eindämmung des Zigarettenkonsums und der dadurch bedingten Todesfälle zwanzig Vorschläge mit jeweils ausführlichen Begründungen unterbreitet, von denen die ersten zehn nach seinem Urteil weltweit zwingend umgesetzt werden müssten, wenn das oben genannte Ziel einer Eindämmung der Zigarettenkatastrophe erreicht werden soll. Diese zehn Vorschläge sollen hier kurz vorgestellt werden

Der erste Vorschlag ist, dass Rauchen in allen öffentlichen Einrichtungen mit Publikumsverkehr in Innenräumen und im Freien verboten werden muss. Das müsse beispielsweise auch für öffentliche Parks und Badestrände gelten, aber ebenso für Appartementkomplexe und andere Wohnformen, wo der Tabakrauch von einer Wohneinheit zur nächsten gelangen kann.

Zum Zweiten schlägt Proctor vor, dass die Zigarettensteuer und damit der Preis der Zigaretten deutlich erhöht werden muss. Wissenschaftlich gut untersucht ist, dass bei einer Preiserhöhung um 10 Prozent pro Packung der Zigarettenverbrauch um 4 Prozent absinkt. Einige werden einwenden, dass das unfair gegenüber den Armen sei. Deshalb müsse die Tabaksteuererhöhung kombiniert werden mit einer Finanzierung der Raucherentwöhnung aus der Tabaksteuer, die auch die Kosten der dabei eingesetzten Medikamente einschließt.

Die Erhöhung der Tabaksteuer müsse spürbar sein, damit ein möglichst großer Effekt erzielt wird. In den USA kostet eine Packung Zigaretten etwa 5 Dollar, dagegen in einigen Ländern Europas umgerechnet 10 bis 12 Dollar. Eine Verdopplung des Preises in den USA erscheint Proctor deshalb nicht unmöglich. Weiterhin sind steuerfreie Zonen für Tabakwaren abzuschaffen und der illegale Handel ist zu beenden. Das könne am besten gelingen, wenn die Tabaksteuer vom Staat direkt am Ort ihrer Produktion (bei den Zigarettenmaschinen der Tabakindustrie) erhoben wird.

Drittens müsse jede Form von direkter oder indirekter Zigarettenwerbung unterbunden werden. In vielen Ländern (wie bei uns in Deutschland) ist schon ein Verbot der Tabakwerbung in einigen Medien wie der Printpresse und beim Rundfunk und Fernsehen in Kraft. Dieses Verbot müsse auf alle weiteren Formen der Werbung wie Plakatwerbung, Kinowerbung und kulturelles Sponsoring ausgedehnt werden (siehe auch unten) und auch die sehr wirksame Markenwerbung auf den Zigarettenpackungen einschließen. Die Zigarettenpackung sollte aus einer einfachen weißen Schachtel mit darauf gedruckten großen bildlichen und textlichen Warnhinweisen bestehen.

Der vierte Vorschlag besagt, dass Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen möglichst groß und abschreckend sein und deshalb aus drastischen Bildern bestehen müssen. Psychologen haben die Wirkung von Warnhinweisen untersucht und festgestellt, dass in Kanada Bilder mit Mund- und Zahnkrankheiten und in Brasilien Bilder mit frühgeborenen Babys den größten abschreckenden Effekt hatten.

Fünftens sollte der Verkauf von Zigaretten überall verboten werden, außer in speziell vom Staat lizenzierten Geschäften. In den meisten Staaten der Welt wird der Kauf von Zigaretten viel zu leicht gemacht. In einigen Staaten der USA ist hochprozentiger Alkohol nur in speziellen Geschäften zu erwerben, und das Gleiche müsse auch für Zigaretten gelten. Zigarettenautomaten seien ebenfalls zu verbieten, ebenso die kostenlose Verteilung von Zigaretten zu Werbezwecken.

Proctor's Vorschläge Nummer sechs bis zehn möchte ich der Vollständigkeit halber nur kurz erwähnen. Der Vorschlag sechs bedeutet, dass alle Spielfilme, in denen geraucht wird, für Jugendliche ohne Begleitung Erwachsener verboten werden müssen; der Vorschlag sieben, dass alle Subventionen für den Tabakanbau zu streichen seien; der Vorschlag acht, dass die finanzielle Unterstützung für Maßnahmen zur Tabakprävention und zur Raucherentwöhnung erhöht werden müsse, und der Vorschlag neun bezieht sich auf die Vermittlung von Maßnahmen zur Tabakprävention, die im Kindesalter beginnen, mit Bildern unterstützt und kreativ durchgeführt werden sollte.

Schließlich ist der zehnte Vorschlag von Proctor, dass auf die Stimmen der Raucher mehr gehört werden müsse als bisher. Die Hälfte der Raucher will das Rauchen beenden, und wir müssen wissen, was sie darüber denken und was getan werden könne, um ihnen den Ausstieg zu erleichtern. Das betrifft insbesondere diejenigen, bei denen schon Raucherkrankheiten (siehe z. B. unter 3) zum Ausbruch gekommen sind.

Das Rahmenübereinkommen der WHO

Die meisten Vorschläge von Proctor sind im "Rahmenübereinkommen der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs" (WHO Framework Convention on Tobacco Control- abgekürzt: FCTC) enthalten, das die Weltgesundheitsorganisation 2003 beschlossen hat.11 Dieser völkerrechtliche Vertrag trat 2005 in Kraft. Bis 2011 ist das Rahmenübereinkommen von 169 Staaten in der UNO unterzeichnet worden, darunter von Deutschland, Österreich und vielen Staaten der EU. Inzwischen ist es von einer noch größeren Anzahl von Staaten ratifiziert worden. Die USA sind der einzige große Staat, der das WHO-Rahmenübereinkommen bisher nicht ratifiziert hat.

Ziel des Rahmenübereinkommens ist, die heutigen und zukünftigen Generationen vor den verheerenden gesundheitlichen, sozialen und die Umwelt betreffenden Folgen des Tabakkonsums und des Passivrauchens zu schützen.

Der Vertrag ist kein Wundermittel, aber er ist eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung über die Einführung von zum Beispiel bildlichen Warnhinweisen, eine erhöhte Besteuerung von Tabakwaren, ein Verbot von Tabakwerbung in Print- und anderen Medien einschließlich des Sponsoring von Kultur- und Sportveranstaltungen, ein Verbot von Zigarettenautomaten, ein Verbot der Beteiligung der Zigarettenindustrie an der staatlichen Tabakkontrollpolitik und ein Verbot der Bezeichnung von Zigaretten als "leicht", "mild" oder als sonst wie "gesund" in der Werbung, um nur einige der Inhalte des Abkommens zu nennen.

Europäische Rangliste zur Tabakkontrolle

Im Jahre 2006 wurde erstmals eine Skala beschrieben, mit der die Aktivitäten der einzelnen europäischen Länder auf dem Gebiet der Tabakkontrolle festgestellt, gemessen und verglichen werden können (12 bis 16). Dabei werden die folgenden sechs Parameter berücksichtigt und mit Punkten bewertet, wobei die maximal zu erreichende Punktzahl (maximale PZ) in Klammern bei den einzelnen Parametern angegeben ist und die maximale Gesamt-Punktzahl 100 beträgt.

Der erste Parameter, der bewertet wird, ist der Verkaufspreis für Zigaretten und Tabakwaren (maximale PZ 30), der zweite der Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz und in öffentlichen Einrichtungen (maximale PZ 22), dann kommen die Ausgaben für öffentliche Informationskampagnen gegen das Rauchen (maximale PZ 15), Werbeverbote (maximale PZ 13), Warnhinweise (maximale PZ 10) und Behandlungsangebote zur Entwöhnung für Raucher (maximale PZ 10).

Wenn man diese sechs Parameter der europäischen Untersuchung mit Proctor's oben angeführten Vorschlägen vergleicht, dann stellt man fest, dass die ersten vier Parameter der europäischen Untersuchung seinen ersten vier Vorschlägen (in geänderter Reihenfolge) entsprechen. Sein fünfter Vorschlag (Verkauf von Tabakwaren in besonders lizenzierten Geschäften) taucht in der europäischen Untersuchung nicht auf. Stattdessen werden die Ausgaben für öffentliche Informationskampagnen gegen das Rauchen bewertet und ob von Seiten der Ärzte Behandlungsangebote für Raucher durchgeführt werden.

Die erste Auswertung der europäischen Daten mit diesem Bewertungsmodell erfolgte 2005 und ergab, dass von 30 untersuchten Ländern Deutschland in der europäischen Rangliste auf Platz 22 eingestuft wurde.12 In der 2007 erneut durchgeführten Bewertung war Deutschland auf Patz 27 (von 30 Ländern) zurückgefallen.13 Nur Griechenland, Luxemburg und Österreich wurden noch schlechter eingruppiert. Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass in Deutschland zum Beurteilungszeitpunkt (August 2007) die meisten Nichtraucherschutzgesetze auf Bundes- und Länderebene noch nicht in Kraft gesetzt worden waren. Unter deren Berücksichtigung wurde Deutschland 2010 nur ein wenig günstiger auf Rangplatz 26 eingestuft.14

Die nächste Auswertung der Daten erfolgte im Jahre 2016.15 Diese ergab, dass bei einer Datenerhebung in mittlerweile 35 europäischen Ländern an der Spitze der Rangliste das Vereinigte Königreich (UK) mit einer Gesamtpunktzahl von 81 (von möglichen 100) Punkten stand, gefolgt von Irland mit 70 und Island mit 69 Punkten. Auf den beiden letzten Ranglistenplätzen wurden Deutschland mit 37 Punkten und Österreich mit 36 Punkten eingestuft.

Bei der im Februar 2020 stattgefundenen European Conference on Tobacco or Health (ECToH) wurde die bisher letzte Auswertung der Daten der europäischen Tabakkontrollscala vorgelegt.16 Insgesamt waren jetzt 36 Staaten daran beteiligt. Hinzugekommen ist Israel.

Aus deutscher Sicht ist die Lektüre dieses neuen Berichts deprimierend: Deutschland ist von einem vor drei Jahren schon miserablen 33. Platz jetzt auf den 36. und damit letzten Platz abgerutscht. Kein anderes Land nimmt die Prävention tabakbezogener Erkrankungen so wenig ernst wie Deutschland. Nur die Schweiz und Luxemburg sind ähnlich schlecht. Dass unser Land so schlecht abschneidet, liegt vor allem an drei Gründen.

Zum einen ist der Preis für Zigaretten wesentlich zu niedrig. Der gemittelte Preis pro 20-Zigaretten-Schachtel betrug 2018 in Deutschland 5,64 Euro. In Großbritannien waren es rund 9 Euro, und in Frankreich, das im Ranking mehrere Plätze aufstieg, steigt er zum ersten März auf 10 Euro.

Die zweite große Lücke bei der deutschen Anti-Tabakpolitik ist die Tabakwerbung: "Deutschland ist das einzige Land in Europa, das Plakat- und Kinowerbung zulässt", sagt Luk Joossens, der Wissenschaftler, der mit seinem Team die europäische Tabakkontrollscala begründet hat.

Hier sei angemerkt, dass sich das jetzt endlich ändern wird. Anfang Juli 2020 hat der Bundestag im zweiten Anlauf ein umfassendes Werbeverbot für Tabakwaren beschlossen. Ab 1.1.2021 ist zum Beispiel die Außenplakat- und die Kinowerbung verboten. Ab 1.1.2024 soll das auch für die Werbung für E-Zigaretten gelten.17

Der dritte Bereich, der kräftig auf die Rangliste durchschlägt, ist die Umsetzung öffentlicher Rauchverbote. Hohe Punktzahlen erreichen all jene Länder, die dabei keine Ausnahmen machen, die die Umsetzung kontrollieren und die dies anhand von Stichprobenerhebungen auch verifizieren.

Daraus ist abzuleiten, dass Deutschland auf dem Gebiet der Tabakkontrolle, diesem wichtigen Gebiet der Gesundheitsvorsorge und Prävention, im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern auch 15 Jahre nach Beginn der vergleichenden europäischen Auswertung weiterhin einen ganz erheblichen Nachholbedarf hat.

Das liegt daran, dass Deutschland die meisten in der FCTC benannten Maßnahmen zur Tabakkontrolle nur unvollständig umgesetzt hat, das heißt, zu mehr hat bisher der politische Wille gefehlt.18 Es ist zu hoffen, dass sich das in der nächsten Zukunft ändert. Das beschlossene Werbeverbot für Tabakwaren ab 2021, das aber nur die gesetzgeberische Entwicklung in fast allen europäischen Staaten nachholt, ist Anlass zu einem gewissen vorsichtigen Optimismus.

Deutschland liegt bei der Tabakkontrolle derzeit noch auf dem letzten Platz in Europa. Laut einer 2017 veröffentlichten eindrucksvollen globalen Studie im renommierten Wissenschaftsmagazin Lancet befindet sich Deutschland mit 16, 3 Millionen Rauchern unter den Top Ten der Staaten mit den meisten Rauchern weltweit.19 In Deutschland sind täglich mehr als 300 Todesfälle durch Rauchen zu verzeichnen, und es stirbt jeder Siebte am Rauchen- damit liegt Deutschland über dem weltweiten Durchschnitt.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin-Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de