Gefährliche Pflege

Seite 2: Unterfinanzierung: Der Notstand als Norm

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Wer sich irgendwann in den letzten zwei Jahrzehnten mit Krankenpflegern und Krankenschwestern unterhalten hat, hat zu ihrer Arbeitssituation immer das Gleiche zu hören bekommen: Eine notorische Unterfinanzierung der Pflege hat den Notstand zur Norm hat werden lassen.

Sparmaßnahmen und Ökonomisierung, Unterbesetzung auf den Stationen, enormer Arbeitsdruck, Überlastung des Personals mit überflüssigen Dokumentationstätigkeiten und Bürokratie, die zunehmende Inanspruchnahme von Ungelernten, "Bufdis" (früher "Zivis"), FSJlern; Unterbezahlung und mangelnde Anerkennung durch die Gesellschaft und Vorgesetzte - all das hat ein Klima von Überforderung, Vernachlässigung, Fahrlässigkeit und Atemlosigkeit geschaffen, in dem Leute wie Niels Högel viel zu lange tun und lassen können, was sie wollen.

In dem Medienbeitrag "Die Todespfleger" (report München) vom September 2014 bestätigt ein anonymer Täter, der zehn Menschen auf dem Gewissen hat und dafür zehn Jahre lang im Gefängnis war, dass es ihm dieses Klima leicht gemacht hat, seine Taten zu begehen. Auf die Frage der Interviewerin, ob man das Krankenhaus als perfekten Tatort sehen könne, antwortet der Täter: "Wenn Sie das so sehen, ja."

Ein Berufsverbot wurde ihm übrigens nicht ausgesprochen, und im Video heißt es, er wolle sich wieder als Krankenpfleger bewerben. In dem gleichen Film dokumentiert ein Prof. Dr. Michael Birkholz vom Institut für Rechtsmedizin Bremen die katastrophale Qualität der Leichenschau in deutschen Krankenhäusern.

Todesfälle durch Ertrinken, schwere Schädel-Hirn-Traumata und anderes würden regelmäßig "als natürlicher Tod eingestuft". Dazu könne man eigentlich gar nichts mehr sagen; die Qualität dieser Dienstleistung sei schlicht und einfach schlecht.

Warnzeichen

Aber das ist natürlich noch nicht alles. Denn wenn man sich den Ort, an dem diese Verbrechen geschehen, als schalltote Kammer vorstellt, dann hat die Kammer doch Zuschauerränge und Gucklöcher. Die Personaldecke ist dünn und zerschlissen, aber die Täter und Täterinnen arbeiten nicht in einem totalen Vakuum. Wie andere Untersuchungen zu Mördern in der Pflege zeigen, gab es bei fast allen Warnzeichen.

So fielen sie nicht nur durch rüde Sprache gegenüber Patienten und Kollegen auf. Viele der Täter und Täterinnen wurden bald nach Beginn ihrer Karriere von ihren Kolleginnen und Kollegen mit Spitznamen wie "Vollstrecker" und "Todesengel" belegt. Bei Högel war das auch der Fall, er wurde "Brutaler Rettungs-Rambo" genannt.

Manche seiner Kolleginnen hatten bald ein "komisches Gefühl", und sie teilten es auch der Stationsleitung mit. Es passierte genau: nichts. In Oldenburg, wo Högel mindestens 35 Menschen ermordet hat, wurde sogar klinikintern eine Statistik über die Auffälligkeiten in Zusammenhang mit der Tätigkeit Högels geführt. Aber statt diese Statistik der Polizei zu übergeben, wurde Högel, als er endgültig untragbar geworden war, mit einem guten Zeugnis weggelobt.

"Systemversagen"

Nur deswegen konnte er nach Delmenhorst wechseln, und seine Mordserie ungehindert fortführen. Selbst nach seiner Verurteilung vom Jahr 2008 arbeitete er noch eine Weile als Altenpfleger im Pauline-Ahlsdorff-Haus in Wilhelmshaven; erst im Mai 2009 musste er seine Haftstrafe antreten, weil das Urteil rechtskräftig geworden war.

Es ist zwar folgerichtig, dass derzeit eine Anklage gegen verschiedene ehemalige Vorgesetzte und Mitarbeiter von Högel im Raum steht, aber erstens kommt das viel zu spät, und zweitens haben ja noch viel mehr Leute in die schalltote Kammer hineingesehen, in der Högel seine Taten beging.

Deshalb ist es richtig, wenn Daniel Müller in seinem Zeit-Dossier von 2015 schreibt:

Der Fall Niels H. ist deshalb nicht nur die Geschichte eines Menschen, der sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwang. Er ist auch die Geschichte eines unfassbaren Skandals: Sie handelt vom Totalversagen zweier Krankenhäuser und von einer unvorstellbaren Trägheit der Strafverfolgungsbehörden

Daniel Müller, Die Zeit

"Systemversagen" ist wohl der korrektere Begriff. Denn die Tatsachen, dass Mordserien wie die von Högel immer wieder vorkommen, dass sich in den Krankenhäusern seit Jahrzehnten nichts ändert, sowie die extreme Nachlässigkeit der Behörden nicht nur in diesem Fall lassen eher darauf schließen, dass gar kein Interesse daran besteht, Kranke und Alte vor Misshandlung und, im Extremfall, Mord zu schützen.

Der wahre Eisberg, dessen Spitze Högels Verhalten ist, ist die ganze deutsche Gesellschaft. Wenn man sich die Fallzahlen anschaut, könnte man sogar von einer Art der informellen Euthanasie durch Unterlassen sprechen. Und das ist dann das Traurigste an dieser Geschichte.