Gegen den "Marktfundamentalismus" für einen "inklusiven Kapitalismus"
Der Chef der englischen Zentralbank weist auf die Gefahr hin, dass der Kapitalismus Gefahr laufe, sich selbst zu zerstören
Seit Sommer 2013 ist der Kanadier Mark Carney Governor der Bank of England. Der Banker, der bei Goldman Sachs seine Karriere begann und von 2008 bis 2013 die Bank of Canada leitete. Dass Kanada glimpflich durch die Finanzkrise kam, wird auch ihm zugeschrieben. Jetzt lehnte sich Carney auf einer Konferenz der City of London weit aus dem Fenster und erklärte am vergangenen Dienstag, der Kapitalismus laufe Gefahr, sich selbst zu zerstören, wenn die Banker nicht einsehen, dass sie eine Verpflichtung hätten, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.
Carney geht es natürlich in erster Linie um den Erhalt des Kapitalismus und auch weniger um eine gesellschaftliche Verantwortung, sondern lediglich um die Selbsterhaltung des Systems und damit auch der der Bankerkaste. Aber es ist doch interessant, wie ein Insider sich bemüht, die im Finanzsektor entfesselte Jagd nach Gewinn und den Egoismus zu bändigen. Carney sprach vom "Marktradikalismus" und davon, dass die geringen Regulierungen den "fairen Kapitalismus" untergraben hätten. Er erinnerte die Banker und Broker an "ethische Maßstäbe" und forderte Ostrazismus für diejenigen, die den hohen professionellen Maßstäben nicht genügen. Sie sollten also ihre Jobs verlieren, wenn sie die von den Banken sich selbst auferlegten ethischen Maßstäben nicht einhalten.
Offenbar sieht Carney als Chef der britischen Zentralbank es für nötig an, den in Großbritannien ausgeprägten Finanzsektor, der mit der weitgehend autonomen City of London innerhalb des Landes eine Enklave besitzt, eindringlich zu warnen. Das Problem sei die wachsende Ungleichheit, weswegen nun ein "inklusiver Kapitalismus" gefragt sei. Irgendwie scheint ihm eine Art sozialer Marktwirtschaft vorzuschweben, in der nicht nur in das "ökonomische Kapital", sondern auch in das "soziale Kapital" investiert wird. Im Vordergrund steht die Sorge um die Bewahrung des Kapitalismus, "der so viele Lösungen schafft", aber dessen Existenz man nicht als gegeben betrachten dürfe:
Ebenso wie jede Revolution ihre Kinder frisst, kann der unkontrollierte Marktfundamentalismus das für die langfristige Dynamik des Kapitalismus selbst maßgebliche soziale Kapital aufzehren. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, müssen die Einzelnen und ihre Unternehmen ein Bewusstsein ihrer Verantwortung für das größere System haben.
Eigentlich hieße das, dass der Kapitalismus sich selbst zerstört, wenn man ihn und die ihn tragenden egoistischen Interessen des homo oeconomicus nicht reguliert. Aber Carney ruft wie üblich nicht die Politik dazu auf, da die Vertreter auch seines Modells eines "fairen Kapitalismus" den möglichst kleinen Staat fordern, der nur stark zum Schutz des Eigentums sein soll. Machen sollen es die Finanzakteure selbst, die sich zum langfristigen Erhalt ihrer Macht und ihres Vermögens ein wenig beschränken sollen. Er verweist auf "Werte und Überzeugungen im Wirtschaftsleben", die notwendig seien, damit die Menschen einander vertrauen und kooperieren, was ja auch trotz des freien Verfolgens der eigenen Interessen und der Mehrung des individuellen Wohlstands die Voraussetzung für den Kapitalismus ist. Problematisch ist für ihn nicht der Kapitalismus als Wirtschaftssystem, sondern nur die Ideologie, die zum Extremismus, dem "Marktfundamentalismus", neigt und dann keine Mäßigung mehr kennt.
Ein "inklusiver Kapitalismus" müsse eine relative Gleichheit des Einkommens, eine relative Chancengleichheit und eine relative Generationengerechtigkeit besitzen. Gesellschaften würden dies unterschiedlich gewichten, aber diese Faktoren stellen in welcher Form auch immer den "Gesellschaftsvertrag" dar. Der aber zerbreche gegenwärtig, weltweit wachse in den Gesellschaften die Ungleichheit und gehe die soziale Mobilität zurück. Soziale Sicherungssysteme seien künftig nicht mehr zu finanzieren, die Umweltzerstörung schreite voran. Wie also sieht ein "inklusiver Kapitalismus" aus? Von Umverteilung durch höhere Steuern oder stärkeren Regulierungen mag Carney nicht sprechen, der "inklusive Kapitalismus" wird von weise und gütig gewordenen Oligarchen des Finanzkapitalismus für die Untertanen so gestaltet, dass diese nicht aufbegehren und alles so lassen, wie es ist:
Um in der globalen Ökonomie Erfolg zu haben, ist Dynamik entscheidend. Um Anreize über die Generationen zu koordinieren, ist eine langfristige Perspektive notwendig. Damit Märkte ihre Legitimität bewahren, müssen sie nicht nur leistungsstark, sondern auch fair sein. Diese Notwendigkeit gibt es nirgendwo mehr als in den Finanzmärkten. Finanzen muss vertraut werden. Und um andere Bedürfnisse zu wertschätzen, bedarf es engagierte Bürger, die sich ihrer wechselseitigen Verpflichtungen bewusst sind. Kurz, es muss ein Bewusstsein für die Gesellschaft vorhanden sein.
Schon an den Formulierungen lässt sich erkennen, dass der Chef der Zentralbank von einem grenzenlosen Egoismus seiner Kollegen und einem Desinteresse für den Rest der Gesellschaft ausgeht, denen er ins Gewissen zu reden sucht. Er selbst nimmt aber für sich und die Zentralbank in Anspruch, den "inklusiven Kapitalismus" fördern zu wollen, da die Zentralbank die Aufgabe habe, sich durch Geld- und Finanzstabilität um die Wohlfahrt der Menschen zu kümmern. Carneys Vorschläge für eine Finanzreform: Schluss mit dem Prinzip Too-Big-To-Fail, das die Steuerzahler zur Rettung von Banken zur Kasse bittet, die Herstellung von "wirklichen und fairen Märkten" letztlich durch einen Verhaltenskodex, eine Reform der Kompensationen, um riskante Entscheidungen und die Orientierung auf kurzfristige Gewinne zu begrenzen, und überhaupt eine größere Moral und Verantwortung der Banker und eine Reform der Bankenkultur. Es ist halt doch eine Sonntagspredigt.