"Gegneranalyse": Zu einer "Fallstudie" über die Nachdenkseiten
Seite 2: Autor Linden übernimmt politische Lobbybegriffe
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Wichtiges über seinen, Lindens, eigenen Horizont verrät der Autor damit, dass er – ohne Anführungsstriche – von Kanzler Gerhard Schröders "wirtschaftlicher Reformagenda" schreibt, was ja eine typische Selbst- und PR-Bezeichnung der Politik jener Jahre war.
Ebenso wenig eine Kennzeichnung als Eigennamen erfahren übrigens im Text auch der "Arbeitgeberverband Gesamtmetall" und dessen "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" als auch wiederum deren Einsatz für "wirtschaftsliberale Reformen" (sic!).
Dass nicht zuletzt NDS-Herausgeber Albrecht Müller seit Langem immer wieder übervereinfachend von mutmaßlicher medialer "Gleichschaltung" hierzulande schreibt, ist ein weiterer Befund des Textes, der sich als Kritik nachvollziehen lässt. Denn solche Modellierung ließe ja vermuten, dass Personen direkt und bewusst gleichschalteten und andere Personen ebenso gleichgeschaltet würden.
Dafür gibt es kommunikationswissenschaftlich kaum Anhaltspunkte – vielmehr wäre und bliebe ebenso journalistisch wie auch wissenschaftlich eher etwaigen strukturellen Kopplungen sowohl innerhalb des Journalismus als auch zwischen sozialen Feldern wie Wirtschaft, Politik und Medien nachzuspüren.
Ähnlich wenig wissenschaftliche Erklärungskraft wie "Gleichschaltung" haben NDS-Konzepte wie "Einflussagenten" (im Sinne von Lobbyisten u.ä.), die mutmaßlich strukturelle Aspekte auf übermäßige Weise zu personalisieren versuchen.
Autor Linden moniert auch eine von den NDS präsentierte Leser:innen-Rückkopplung insofern, als sich das Portal nicht zuletzt damit "von Beginn an (…) als Stimme der angeblich qua Meinungsmache unterdrückten Mehrheit" inszeniere. Oder: Das Portal veröffentliche "eine große Anzahl an LeserInnenbriefen, um eine Debatte zu simulieren."
Eine sachlich-kritische Würdigung solcher Aspekte klänge sicher anders. Denn es könnten/sollten doch möglichst alle Medien im Sinne gelingender gesellschaftlicher Kommunikation Wert legen auf umfassenden Austausch in Augenhöhe mit ihren Nutzerinnen und Nutzern.
Dass identitätspolitische Fragen u.ä. kaum einen Schwerpunkt der NDS-Beiträge darstellen, kann als vergleichsweise valider Kritikpunkt des Textes gelten. Linden schreibt:
Feministische Anliegen oder Homosexuellenrechte finden als Themen quasi nicht statt.
Tragende Akteure im "alternativmedialen Feld" seien fast ausschließlich Männer. Als "linksradikal" im Sinne einer grundlegenden intersektionalen Medien- und Gesellschaftskritik lässt sich das Portal NDS ganz sicher nicht bestimmen. Das dürfte allerdings auch kaum der/ein Anspruch der Plattform sein.
Linden schreibt, seit den Ereignissen in der Ukraine 2013/2014 habe sich zur "Kritik an den USA in Form klassischer Kapitalismuskritik (…) ein anknüpfungsfähiger, vor allem in links- und rechtsradikalen Kreisen verbreiteter grundsätzlicher Antiamerikanismus (gesellt), der mit einem diktaturaffinen Putinismus" einhergehe.
Inwieweit Kritik an oder auch Polemik gegenüber US-amerikanischer Regierungspolitik (oder am Agieren US-basierter Großkonzerne oder am Handeln von US-Geheimdiensten etc.) gleichgesetzt werden sollte mit "Antiamerikanismus", erschließt sich nicht.
Verteidigung des Neoliberalismus
Was sich eher beobachten ließe (und daher auch wissenschaftlich kritisiert werden mag), ist, dass in NDS-Beiträgen das Wirken von (Vertretern der) US-Eliten tendenziell deutlicher moniert zu werden scheint als z.B. das von "deutschen" Unternehmen/Großkonzernen. Eine wie auch immer nähere wissenschaftliche Bestimmung von "Putinismus" wiederum bleibt der Text schuldig.
Bemerkenswert auch der Aspekt "Neoliberalismus" bei Linden: Er schreibt, die NDS unterstellten (sic!) der AfD – neben deren offensichtlicher Fremdenfeindlichkeit – "eine im Kern neoliberale Agenda". Das hält Markus Linden "angesichts der wirtschaftspolitischen Ausrichtung des "Flügels" in Teilen" doch zumindest für "zweifelhaft". Offenbar mag der Autor auf tatsächlich oder auch nur vermeintlich "neoliberales" Herangehen keinen fragwürdigen Schatten geworfen sehen, in diesem Falle durch die AfD.
Da der Autor immer wieder seine Termini "vorgefertigtes Narrativ" oder auch "Gegennarrativ" verwendet, um den NDS vorzuhalten, sie operierten im Rahmen einer solchen gleichsam geschlossenen Rahmen-Erzählung, darf gefragt (und kritisiert) werden, innerhalb welches Narratives sich Linden selbst bewegt. Der Text macht an vielen Stellen deutlich, dass dieses Narrativ in politischer Hinsicht ein etabliert-liberales ist, in wirtschaftlicher Hinsicht offenbar ein wirtschaftsliberales oder auch neoliberales.
Problematisch ist, dass das eigene Narrativ in einem wissenschaftlich sein sollenden Text ("Fallstudie") so absolut gesetzt erscheint, dass praktisch keine Selbstkritik stattfindet und zugleich ein "Gegennarrativ" in oft polemischer Weise schlicht herabgesetzt wird.
Generell ist fragwürdig, inwieweit ein Text mit derart klarer "Gegneranalyse"-Ausrichtung dem Gegenstand auch noch mit bestimmtem Artikel "die fehlende Diskursivität" vorhält. Dass "auf den Nachdenkseiten an keiner Stelle mögliche Gegenargumente vorgebracht werden", erscheint als eine weitere sehr zugespitzte Behauptung, deren Zutreffen die vorherige Überprüfung tatsächlich aller möglichen Inhalte voraussetzte.
Denn schon ein einziges Gegenbeispiel würde diese Aussage ja schlicht widerlegen. Immerhin wird zugestanden, die NDS verbreiteten weder direkte "Fake News" noch "offensichtliche Verschwörungstheorien".
Allerdings darf die Zusammenfassung der Kritik als vernichtend gemeint gelesen werden: Die Nachdenkseiten seien insgesamt ein "professionell gemachtes Desinformationsmedium mit Reichweite und Vernetzung". Was aber sei hier "Desinformation"? Als "Desinformation" ("Fake News") gilt laut herrschendem Diskurs eine Aussage, die 1.) falsch, 2.) bewusst falsch und 3.) mit negativer Absicht bewusst falsch formuliert und vermittelt werde.
Oder wie es in einer entsprechenden (liberalen) Definition seit 2017 heißt: "Fake News" oder "Desinformation" seien (im Unterschied zu versehentlicher "Missinformation") "gezielt verbreitete falsche oder irreführende Informationen, die jemandem (Person, Gruppe oder Organisation) Schaden zufügen sollen."
Zentral sei dabei die "Intension", also die gerichtete Absicht der Verbreitung – unabhängig davon, ob diese eher aus ökonomischen Gründen geschehe oder mehr zu politischen Zwecken erfolge. Ein Dilemma für Kommunikationswissenschaft und Journalistik bleibt dabei, dass diese behauptete Absicht faktisch schwer zu belegen ist (sofern kaum in die Köpfe jener Medienschaffenden geschaut werden kann).
Am Schluss des Textes heißt es, mithin blieben "die Nachdenkseiten ihrer Linie treu." Auch diese Formulierung ist aufschlussreich, denn sie besagt, es gebe eine solche "Linie", und der Autor habe diese gleichsam von Anbeginn erkannt sowie analysiert. Ergebnisoffene Forschung, die auch das eigene "Narrativ" explizit und damit kritisierbar macht, dürfte (deutlich) anders aussehen.
Insgesamt kann der Vorwurf des Autors Linden, die Kritik seitens der NDS sei "offensichtlich instrumentell motiviert", wie hier skizziert, mit guten Gründen nicht zuletzt dem Verfasser jener "Fallstudie" gemacht werden. Oder um es – zugegeben: polemisch – als Forschungsfrage zu formulieren: Hochmut kommt vor der "Fallstudie"?