Gehirne für sich rechnen lassen
Schnelle Betrachtungen zum kybernetischen Naturalismus
Eine der bemerkenswertesten Anekdoten in Steven Levys Buch Hackers ist für mich die, in der die ersten MIT-Hacker eine Implementation von John Conways "Life" für eine der ersten interaktiven Maschinen mit Bildschirm schreiben und sich dann wochenlang einfach nur mit den dabei entstehenden, lebendig pulsierenden Mustern befassen. Aus simpelsten Regeln und Algorithmen erwachsen bionische Strukturen mit eigenwilligen Verhaltensweisen, Komplexität entsteht aus einfachsten Interaktionen, die Schönheit liegt in der Formel. Vielleicht sind wir den neurophysiologischen Grundlagen, die uns ästhetisches Empfinden überhaupt erlauben, vorher noch nie in einer Kunstform so nahe gekommen. Nennen wir sie den kybernetischen Naturalismus.
Die Eleganz gekonnter mathematischer Beweise trifft im Netz auf den Spieltrieb von Gestaltern, die zwar mit dem Rechner als zentralem Werkzeug aufgewachsen sind, sich aber mit den oberflächlich gegebenen Strukturen herkömmlicher Designprogramme wie Photoshop und Freehand nicht zufrieden geben wollen und offenbar der Meinung sind, dass sich kreative Prozesse nicht im Warten auf die nächste Version von Kai's Power Tools erschöpfen. John Maeda, Amerikaner japanischer Abstammung und am MIT tätig, greift nicht gleich zu QuarkXPress, sondern codet lieber selbst:
"Auf Basis einer Produktionszeit von etwa einem Jahr nahm ich mir ursprünglich vor, eine Software zu entwickeln, die das ganze Buch automatisch edieren könnte. Ausgegangen war ich von einem Umfang von ca. 500 Seiten. Gemessen an einem Computer-Bildschirm, der 30 Frames pro Sekunde aufbaut, hätte dieser Seitenumfang einer Animation von 17 Sekunden entsprochen. Dazu entwickelte ich innerhalb von sieben Monaten ein System in Java und Python, um das Layout zu erstellen. Kurz vor Abgabe stellte sich diese Methode allerdings als 'mythischer Luxus' heraus, und wir entschieden uns für eine konventionelle Produktionsweise."
Maeda schreibt dies in seinem Buch maeda@media, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Der in der Tat fast 500 Seiten umfassende Klotz steckt voller Ideen - lustiger und banaler. Irgendwo im letzten Drittel des Buchs wird man mit auf festes braunes Papier gedruckten Linienrastern konfrontiert, die von der Mitte des quadratisch angelegten Buchblocks aus nach draußen strahlen. Nett abstrakt, aber belanglos, denkt man, bis man das Buch mal vor sich auf den Tisch legt und bemerkt, dass die Ausläufer der Strahlen sich an der Kante des Buchblocks wieder zu Buchstaben zusammensetzen, die man erst dann lesen kann, wenn das Buch geschlossen ist. Geniestreich oder digitaler Manierismus? Maeda möchte jedenfalls nicht nur das tote Papier erobern, sondern seinem Design auch die Dimension der Zeit erschliessen. Und das wiederum geht nur im Computer, mit interaktiven Java-Applets, die auf Mausbewegungen und ähnliche menschliche Eingaben reagieren. Maeda programmiert schwingende Linien, schwebende Texte, kaskadierende Farbformenspiele, die man sich als eine Kreuzung zwischen den Op-Art-Arbeiten eines Victor Vasarely und japanischem Minimalismus vorstellen kann.
Ist das Java-Applet von heute das Mobile von gestern?
Das computergenerierte Design des John Maeda hat mit der Op-Art leider auch die Langeweile des Präzisen gemeinsam. Man klickt dahin... es fächert sich was. Man bestaunt ein opulentes Liniengebüsch... blättert um. Statt art pour l' art herrscht bei Maeda zuweilen tech pour le tech. Man hackt sich was zusammen, guckt es an, hackt woanders weiter.
"Ich wollte ein Animationswerkzeug entwickeln, um bestimmte Bilder, die mir vorschwebten, auch realisieren zu können. Doch als ich die Arbeit an dem Werkzeug beendet hatte, hatte ich kein Interesse mehr daran, damit einen animierten Film zu machen."
Vor allem in gedrucktem Zustand, wenn die dynamische Spielkomponente fehlt, wirken Maedas Tableaus viel zu schnell viel zu nett. Ungefährliches Design, das gegen den wütenden Surfergrunge-Expressionismus einer Doppelseite von David Carson nicht viel ausrichten kann, auch hinter den mystischen Text- und Bildmontageorgien von Tomato zurückbleibt und vor allem überraschend leer wirkt. Es scheint nicht egal zu sein, ob der gestaltende Mensch sich in den Code zurückzieht und die Dinge im Rechner geschehen lässt, oder ob er aktuell dort eingreift, wo es seinem eigenen Gehirn gerade genehm zu sein scheint.
Wenn Maeda ein Programm schreibt, das er dann gar nicht mehr erst benutzt, dann muss er das nicht tun, weil er sein ästhetisches Erlebnis bereits beim Programmieren hatte - und das spielt sich rein in seinem Hirn ab. Was dann für die Netzhäute anderer Leute übrigbleibt, ist mehr oder weniger ein spaßiges Nebenprodukt. Wenn der Code sauber läuft, wenn der mathematische Beweis erbracht ist, dann geht im Nervensystem die Sonne auf... Es ist die Ekstase des Funktionierens, das Erlebnis einer Logik im eigenen Sein.
Mich würde interessieren, wie das menschliche Gehirn, das seit Erfindung des Computers ja ständig mit einem solchen verglichen wird, eigentlich rechnet. Ich meine, abseits auswendig gelernter Einmaleins-Sequenzen. Was passiert im Gehirn eines Mathematikers, wenn er im Kopf rechnet? Wenn das Belohnungszentrum im Hirn des mathematischen Designers zuschlägt, dann ist das Wohlgefühl erreicht, das Designprogramm muss erst gar nicht mehr ausgeführt zu werden. Marcel Duchamp ist doch nicht so unhintergehbar, wie es immer schien, da sich Ideen auch in digitalem Code darstellen lassen. Maeda ist ultramodern, aus seinen geometrisch-bionischen Possen höhnt die Leere des Dadaismus. Naturalismus kümmert sich um die Umgebung der Menschen und diese Umgebung wird zunehmend von digitalen Technologien durchdrungen. Die Design-Automatik strebt nach adäquater Abbildung dieser Umgebung. Die Frage ist nicht mehr, ob eine Darstellung abstrakt ist oder nicht, sondern ob es sich um einen Algorithmus handelt, die höchste Form der Abstraktion, die wiederum Abstraktionen en Masse ins Kontinuum der restlichen Umgebung pumpt.
Konstruktiver geht es bei einem anderen, reineren Vertreter des kybernetischen Naturalismus zu. Bei Sodaplay.com sollte man eine Tasse Java mitbringen, sonst sieht man die dort lebenden Biester nicht und kann auch selbst keines konstruieren - und das wäre schade, denn mit nur drei Elementen, nämlich Knochen, Sehnen und Muskeln, kann man sich verblüffend organisch anmutende Geräte zusammenstellen, laden, speichern und abspielen. Besucher der Site können mit fertigen Konstrukten spielen und hier stellen sich die von Levy in seinem Hackerbuch beschriebenen Effekte des Entzückens ein. Die Sodaplay-Konstrukte gehorchen einer virtuellen Gravitation (bis man diese abschaltet) und reagieren auf vorsichtiges Zupfen mit der Maus. Ob dabei Kunst oder Digitalkitsch herauskommt, liegt am Konstrukteur. Man hätte das alles gern auch in 3D, aber dann wär das Eigenheim schneller zerstört als der Hausratversicherung lieb ist. Dennoch: Alles bleibt im Gleichgewicht der gesetzten Umgebungsparameter, das Programm regelt sich selbst.
Gerne arbeiten die kybernetischen Naturalisten mit Shockwave. Ähnlich wie die im Telepolis-Netzraum kürzlich präsentierten Arbeiten von lia, allerdings weniger spitz und robotisch-böse, sind die Files auf Once-Upon-A-Forest, deren Macher, Joshua Davis, auch andere Flash/Shockwave-lastige Domains wie Praystation mit wunderschönen Animationen und reaktiven Grafiken beschickt. Hier werden Geheimnisse programmiert. Ruhiger Sound unterlegt rätselhafte Vorgänge, in die man einmal einmausen kann, ein andermal nicht. Wo der Code nicht etwas offensichtlich Geometrisches herstellt, wird er für Menschen erst interessant, weil er sich dem Charakter der restlichen Umgebung nähert, mit seinen einfachen Grundprinzipien in die analog funktionierende Natur einordnet und zuweilen auch in jene Komplexität hineinwächst, die Intransparenz zulässt und damit wiederum dem Betrachter das Vergnügen des Dekodierens und Re-Engineerings nicht vorenthält. Kunst bedeutet auch: Gehirne für sich rechnen lassen.
Literatur: John Maeda: Maeda@Media. Schopfheim: Bangert, 2000