Geht es auch anders? In Richtung emanzipatorischer Kritik an Medien und Journalismus

Debatte über "das Elend der Medien" und über "alternative Medienkritik". Können Medienschaffende und -forschende auch anders? (Teil 2 und Schluss)

Der erste Text dieses Zweiteilers nahm Bezug auf einen Essay des prominentesten Journalistik-Wissenschaftlers Siegfried Weischenberg, der sich in einem Fachbeitrag mit der Rolle und Kritik alternativer Medien auseinandergesetzt hat. Der folgende zweite Teil befasst sich mit der Debatte Weischenbergs Thesen und mit der Frage, wie emanzipatorische Kritik an Medien und Journalismus entwickelt werden kann.

In der ersten Ausgabe der Fachzeitschrift Journalistik" in diesem Jahr, die zuvor Weischenbergs Artikel veröffentlicht hatte, erschienen kürzlich drei weitere Reaktionen auf jenen Ausgangsbeitrag.

Michael Meyens Münchener Kollege Alexis von Mirbach schreibt dort, im von ihm und Meyen verfassten Buch Das Elend der Medien habe man sich gerade nicht an Noam Chomsky orientiert, sondern "ganz allein" an Pierre Bourdieu und dessen Klassiker Das Elend der Welt.

In der Arbeit zu dem Buch sei es darum gegangen, woher "Medienkritik" (als Folge offenbar gesunkenen Vertrauens nicht zuletzt in etablierte Medien) komme. Die Botschaft ihres Buches laute: "Die Vertrauenskrise in Journalismus (und Demokratie) ist keine Folge von Desinformation, sondern hat ihren Ursprung in der Organisation des Mediensystems selbst."

Die gleichsam inflationär beklagten Falschnachrichten fielen "auf einen Nährboden", den es zu ergründen gelte. Das Argument von Mirbachs überzeugt: Populisten oder "Impfgegner" (oder eben auch "Putin-Versteher") sind nicht das eigentliche Problem der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung hierzulande: "Sie zeigen nur, das sie (die kapitalistisch-repräsentative Demokratie, der Autor) eines hat."

Mirbach zufolge sammelten die beiden Buchautoren, "wie in der Utopie-Entwicklung üblich", zunächst Kritik an gesellschaftlichen Zuständen. Anschließend soll es im entstehenden Band "Medienträume" in Zusammenarbeit mit 30 Nutzenden von Alternativmedien um ein Bürgerbuch zur Zukunft des Journalismus gehen.

Im Vorübergehen erledigt Mirbach auch den scheinbaren Widerspruch zwischen herrschendem Neoliberalismus und angeblicher "Linkslastigkeit" in vielen (etablierten) Redaktionen (S.75): Die internationale Sozialdemokratie wie auch die deutschen Grünen sind auch ihm zufolge spätestens in den 1990er- und 2000er-Jahren "zum Neoliberalismus hin konvertiert".

Laut Bourdieu hat durch die Homologie sozialer Felder im sozialen Raum das Grüne/SPD-nahe journalistische "Milieu" diese "Umkehrung" mitvollzogen. Aktuelle Entwicklungen mit Blick auf den Ukraine-Krieg mögen dabei zeigen, dass aus dem "Mitvollziehen" längst Führungsrollen geworden sind.

Bemerkenswert, was laut Mirbach Pierre Bourdieu bereits in den 1990er-Jahren als Folgen neoliberaler Restauration mit wissenschaftlicher Sicherheit prognostizierte: "Entmutigte Menschen werfen sich den erstbesten Demagogen hin, Gewaltausbrüche, Ausländerfeindlichkeit und chiliastische Träumereien". Das alles seien Symptome tiefgehender Krisen, "nicht erst seit Corona".

Der "Senior Lecturer in Journalism" an der britischen Newcastle University, Florian Zollmann, gilt als international ausgewiesener Chomsky- und Propaganda-Experte. Er schreibt in der "Journalistik" als Replik auf Weischenbergs Artikel, dessen Behandlung von Chomskys Propaganda-Modell sei fehlerhaft: "Dieses verzerrte Bild dient Weischenberg als Kulisse, vor der er eine kritische Medienforschung" delegitimiere.

Chomskys Arbeiten zum Thema "Propaganda" behandeln laut Zollmann zwar auch den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg und dessen propagandistischen Kontext. Zentraler Ausgangspunkt von Chomkys Propaganda-Ansatz sei allerdings "eine Analyse der institutionellen Strukturen der Gesellschaft und Massenmedien in den USA" (S.80).

In den von Weischenberg zitierten Texten habe Chomsky jedenfalls nicht geschrieben, dass es schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges einen gleichsam verschwörerischen Masterplan der US-Regierung gegeben habe, in den Krieg einzutreten.

Debatte über alternative Medien: Weischenberg verwechsele Grundlagen und Theorien

Zollmann schreibt: "Weischenberg hätte daher gut daran getan, sich Chomkys Originaltext anzuschauen." (S.81). Insgesamt verwechsele Weischenberg Chomskys Ausführungen zu Staatspropaganda mit Edward S. Hermans und Chomskys gemeinsam entwickeltem Propaganda-Modell, das vor allem eine Kritik der institutionellen Strukturen von Massenmedien vornehme (S.84).

Florian Zollmann weist auf einen wichtigen Aspekt hin, der für die Propaganda-Thematik in westlichen Medien und Wissenschaften durchaus bemerkenswert bleibt:

Wie ich schon 2019 feststellte, werden Propagandastudien über westliche Demokratien in den Kommunikationswissenschaften marginalisiert (...). Dabei hatten schon Paul F. Lazarsfeld und Robert K. Merton (zwei Begründer der empirischen Kommunikationsforschung in den USA, S.K.) (...) darauf hingewiesen, dass Propaganda in demokratischen Gesellschaften die "Stelle von direkteren Kontrollmitteln" eingenommen habe und dass »diese Veränderung in der Struktur sozialer Kontrolle eine gründliche Untersuchung verdient«. Lazarsfeld und Merton bezeichneten die Massenmedien als eine wichtige Institution der Propaganda, denn diese seien von mächtigen Wirtschaftsinteressen kooptiert worden (...). Chomsky ist einer der wenigen Forscher:innen, die eine solche Propagandaperspektive seit Jahrzehnten vorantreiben.

Mit Blick auf eine etwaige "Alternative Medienkritik" äußert Zollmann, sicherlich sollten die Veröffentlichungen, die Weischenberg als "AMK" klassifiziere, einer kritischen Beurteilung unterzogen werden.

So gebe es in der Tat eine historische Marginalisierung von Frauen oder Minderheiten in diesem Feld der kritischen Erforschung von Medien. Insgesamt aber stelle sich ihm vor allem die Frage, ob das, was Weischenberg als Chomskys Propaganda-Hauptthese ausgebe, letztlich nur eine "Strohfigur" sei, um den gesamten kritischen Propaganda-Ansatz zielgerichtet "auszumanövrieren". (S.85)

Am ehesten eine Synthese der Thesen und Gegenthesen in dieser Debatte zu alternativen Medien und alternativer Medienkritik könnte sich aus Mandy Trögers Beitrag in "Journalistik" entwickeln lassen. Tröger ist Gründungsmitglied des Netzwerkes Kritische Kommunikationswissenschaft und derzeit Gastprofessorin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover.

Auch Tröger zufolge definiert Weischenberg weder, was "AMK" sein soll, noch begründet er die Textauswahl, aufgrund derer er diese "AMK" umreißt (S.64). Die von ihm angebotene Klassifikation sei "unbefriedigend bis unbrauchbar" (S.66). Verdienstvoll aber finde sie, dass sich Siegfried Weischenberg zumindest vornehme, was in Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie Journalismus-Forschung bisher ignoriert worden sei: eine wachsende (populärwissenschaftliche) Literatur der Medien- und Journalismuskritik, die allein schon deshalb nicht übergangen werden sollte, weil sie im (gegen-)öffentlichen Diskurs stetig an Bedeutung gewinne (S.64).

Mandy Tröger hat recht: Angesichts wachsender sozialer Spannungen und Spaltungen sind Fragen wichtig wie: Wodurch zeichnet sich Kritik an Medien und Journalismus aus, womöglich als Teil tiefgehenderer Gesellschaftskritik? Inwiefern kann ein Kritik-Begriff erreicht werden, der den Herausforderungen der Gegenwart entspräche (sie schreibt von Klimakrise und von Monopolisierung digitaler Kommunikation, ich würde jedenfalls ergänzen: Friedens- und Gesundheitspolitik)?

Ziel solcher Debatten solle sein, differenzierte Kritik-Ansätze zum Funktionieren und zum Versagen von Medien und Journalismus zu erarbeiten, allerdings "in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften" (S.65). Warum sich die Autorin auf die Annahme grundsätzlich kapitalistischer Verhältnisse einlässt, erschließt sich allerdings nicht.

Dieser Aspekt bleibt auch deshalb relevant, weil die Autorin ausdrücklich "konstruktive" Kritik fordert (S.69). Zugespitzt gefragt: Wären dann z.B. etwaige Vergesellschaftungen von Konzernen und mediale Debatten darüber "destruktiv", weil womöglich Kapitalverhältnisse theoretisch und praktisch infrage gestellt würden?

Mediendebatte: Was bedeutet "alternativ" heute noch?

Tröger greift Vorschläge von Herbert Marcuse aus dem Jahr 1964 auf, denen zufolge sich die Begriffe "Kritik" und "alternativ" wechselseitig bedingen (S.66). "Alternativ" meinte zumindest früher laut Tröger vor allem sozialistisch-linke System- und Fundamentalkritik. Ihr Gegenstück bleibe, Marcuse folgend, "affirmative Kritik". Das einst (1968 ff.) Links-Alternative allerdings hat sich auch Tröger zufolge zunehmend entpolitisiert. Alternative Medien wie die 1978 gegründete "tageszeitung" (taz) adaptierten sich in Richtung "Mainstream".

Heute werde der Begriff "alternativ" vor allem mit rechtspopulistischen Parteien wie der AfD assoziiert. Sogenannte "Alternativmedien" würden wissenschaftlich tendenziell "unter dem Aspekt rechter Gegenöffentlichkeiten" diskutiert (S.67).

Allerdings gebe es in der Forschung auch andere Auffassungen, so dass fraglich bleibe, inwiefern "kritisch" im politischen Spektrum zu verorten wäre – "rechts, links, bürgerliche Mitte". Sehe man sich nun die von Weischenberg so genannte "Propaganda-Schlacht um die Corona-Berichterstattung" an, in der ja "AMK" zentraler Bestandteil (gewesen) sein sollte, wird für Tröger klar: Kategorien wie "rechts" oder "links" seien angesichts politisch ziemlich diverser Protest-Bewegungen kaum noch selbstverständlich.

Tröger unterstreicht, es bleibe zu prüfen, inwiefern die von Autoren wie Klöckner, Meyen oder Wernicke betriebene Kritik an etablierten Medien und entsprechendem Journalismus "tatsächlich von tiefen Entfremdungserfahrungen und Misstrauen in demokratische Institutionen" zeuge (S.68).

Den Kritikpunkt von Florian Zollmann (s.o.), demzufolge in alternativer Medienkritik Frauen oder Minderheiten kaum angemessen repräsentiert seien, greift auf ihre Weise auch Mandy Tröger auf. Sie habe den Eindruck, "dass diese Debatte von den Ich-Narrativen alter weißer Männer getrieben" sei (S.69). Sie bezieht sich namentlich auf Weischenberg und Meyen. Es sollten aber für eine emanzipatorische Kritik an Journalismus und Medien vor allem strukturelle Probleme im Zentrum des Interesses stehen, nicht die Summe individueller Probleme. Tröger schreibt:

Jede Kritik schwächelt an den Egos ihrer Autor:innen. Wenn im Mittelpunkt die (Re-)Produktion des Ichs steht und selbstbezogene Narrative die Argumentation zu treiben scheinen, ist das Indiz dafür, dass es sich um die Instrumentalisierung kritischer Perspektiven und die Übertragung privater Kämpfe in öffentliche Arenen handelt. Was zu einem gewissen Grad Grundlage jeder Kritik sein muss, kann durch die Übersteigerung des Ichs also kontraproduktiv werden. Auf der Strecke bleibt die Kritik selbst.

Allerdings erschließt sich nicht, warum Mandy Tröger zu fordern scheint (S.70), "die" (sic!) Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie angrenzende Fächer (wie Journalistik) sollten sowohl die "Definitionsmacht" (sic!) über Lesart und Anwendung bestimmter, auch systemkritischer Theorien ebenso "zurückerobern" (sic!) wie damit zugleich "das Feld der Medienkritik".

Derart militärische bis militaristische Metaphern hätten "alte weiße Männer" kaum schlechter (re-)produzieren können. Immerhin geht es Mandy Tröger und Kolleg:innen (wie mir) darum, "emanzipatorische Medienkritik in das Zentrum legitimer Gesellschaftskritik" zu rücken.

Und damit, wie versprochen, in Richtung möglicher Synthesen in dieser Kritik-Debatte: Folgen wir dafür beispielsweise einem Kritikverständnis aus den Kreisen des Netzwerkes Kritische Kommunikationswissenschaft, dann tritt laut Mandy Tröger eine ideale Kritik an Medien und Journalismus ein "für einen radikalen Pluralismus der Identitäten, Perspektiven und Meinungen zum Ziele kollektiver Emanzipation". Ich würde ergänzen – Pluralismus auch der sozialen (klassen- und schichtenbezogenen) Herkünfte - sowie zugleich zum Ziele individueller Emanzipation. Die Freiheit aller Einzelnen als Bedingung der Freiheit aller, wie es ähnlich schon Marx und Engels in ihrem "Manifest" 1848 formuliert hatten.

Mandy Tröger skizziert eine solche Kritik, die laut Herbert Marcuse eben nicht "affirmativ" wäre, sondern auch Systemkritik sein könne (S.70). Derartige Kritik distanziere sich von Reduktionismen oder Dogmatismen und eröffne damit "Komplexität durch selbstreflexive Forschung, die auch selbstkritisch" sei.

Solches Herangehen analysiere und kritisiere etablierte Medien wie auch andere Medien, frage nach den ideologischen Konstrukten (und damit gleichsam "blinden Flecken") beider. Tröger ist abschließend zuzustimmen: "Letztlich aber sollte jedwede Kritik-Diskussion nicht durch alte Grabenkämpfe bestimmt, sondern durch neue, theoretisch fundierte Perspektiven bereichert werden". Wir, Medienschaffende und Medienforschende, könnten also auch "anders". Die Frage bleibt: Können wir das?