Geist? Welcher Geist?

Seite 3: Das bleibende Problem der mentalen Verursachung

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Wenn wir somit die Phänomenalität als Phänomen anerkennen, das verstanden werden soll, wenn wir mit "mental" also "subjektiv" meinen, bleibt auch das Problem der mentalen Verursachung relevant.

Stephan Schleim behauptet, dass dieses Problem sich in Luft auflöse, sobald man statt linearer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge "probabilistische Verursachung" in Betracht ziehe.

Hier scheint mir, dass ihm selbst die Verwechslung von ontologischen und epistemischen Aussagen unterläuft, die er mir vorwirft. Daraus, dass ein Vorgang, der sich in komplexen, belebten Systemen vollzieht, so komplex ist und so viele Variablen hat, dass wir über das Ergebnis eines Eingriffs nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen können (epistemische Ebene), folgt doch nicht, dass dieser Vorgang nicht im Grunde (ontologisch) Atombewegung für Atombewegung kausal determiniert wäre!

Wenn ich, um Schleims Beispiel aufzugreifen, nur in einer stark vereinfachten Betrachtungsweise die beiden Variablen "Rauchen" und "Lungenkrebs" betrachte, bekomme ich eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Das genügt aber einem Krebsforscher natürlich nicht; er zerlegt den Rauch in seine Bestandteile, prüft womöglich genetische Unterschiede der Raucher, bezieht Ernährungs- und Sportgewohnheiten mit ein, begibt sich auf die molekulare Ebene und untersucht DNA-Schädigungen u.s.w. u.s.f., im festen Vertrauen darauf, dass es Ursachen dafür gibt, dass Krebs entsteht.

Und damit ist m.E. auch Schleims etwas sophistischer Versuch einer Widerlegung hinfällig:

Stellen wir uns eine standrechtliche Verurteilung vor: Fünf Soldaten erschießen einen Deserteur. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, doch aber möglich, dass die fünf Kugeln den Unglücklichen zum selben Zeitpunkt treffen und töten. Lehmann müsste sagen: Wenn eine Kugel den Mann umbringt, können es die anderen vier nicht. Das ist aber doch möglich!

Stephan Schleim

Nein, müsste ich nicht. Diejenigen Philosophen, die von einem "physischen Zustand zum Zeitpunkt tn" sprechen (ich habe das ja nicht erfunden), sind sich durchaus im Klaren darüber, dass dieser Zustand ungeheuer komplex ist. Da können auch fünf oder mehr Kugeln drin sein. Aber im physikalistischen Denken determiniert der physische Zustand als Ganzes den mentalen Zustand, so wie Rauchen + Ernährung + genetische Prädisposition + Sport + X den Lungenkrebs determinieren.

Daran ändern auch die Rückkopplungen nichts, die Schleim ins Spiel bringt, denn diese gibt es ja nur vorwärts in der Zeit. Schleim hat Recht, wenn er hier schreibt: "Es gibt ganz klar einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang […]" Punkt.

Müssen wir das Problem lösen?

Kommentatoren bei Telepolis und auf Stephan Schleims Blog haben bezweifelt, dass das Leib-Seele-Problem überhaupt wichtig sei. So schrieb "demolog": "Leider aber könnte man auf wissenschaftlicher Seite schon weiter sein, als sie hier schildern. Es scheint mir, dass man sich ewig am Leib-Seele-Problem aufhängt. Als ob es etwas sei, was primär gelöst werden müsste, bevor man weiter forscht. Wie absurd."

Und Schleim selbst meint abschließend: "Mein Vorschlag ist, sich vom traditionellen Leib-Seele-Problem zu verabschieden, da es eher ein Problem unseres Denkens als ein Problem der Welt ist."

Wieder stimme ich gerne zu. Im Prinzip. Worum es mir aber geht, ist die klare Trennung der Betrachtungsweisen und Zuständigkeiten. Neurobiologen brauchen sich wahrlich nicht "am Leib-Seele-Problem" aufzuhängen. Sie sind pragmatische Materialisten, sie untersuchen "die Probleme der Welt", wenn man mit "Welt" die messbar gegebenen Dinge (und Prozesse) meint.

Philosophen aber erforschen die "Probleme des Denkens". Und anders, als "demolog" meint, hemmen sie den Erkenntnisgewinn der Neurobiologen mitnichten, wenn sie dabei bleiben. Es macht auch nichts, wenn die Philosophen sich nicht auf eine endgültige Lösung einigen können. Der Sinn von Philosophie (und vielleicht aller Wissenschaft) besteht nicht darin, neue Erkenntnisse zu finden, sondern darin, alte Erkenntnisse immer wieder neu zu entdecken.

Dass Philosophen dies für das Leib-Seele-Problem gerade wieder mit größerem Eifer tun, war das Thema meines Artikels. Ich halte es daher, wie schon gesagt, für völlig legitim, wenn man das subjektive Erleben als, per definitionem, subjektiv und nicht beobachtbar aus der neurobiologischen Forschung eliminiert. Aber wenn der Neurobiologe mit den Ergebnissen einer so betriebenen Gehirnforschung dann in die Philosophie stratzt und verkündet, jetzt "das Bewusstsein" physikalistisch erklären zu können: Dann wird daraus nur schlechte Metaphysik.