Genau wann bin ich Antisemit?

Seite 4: 4. Verifikationsprobleme (Die Antisemiten-Liste)

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Wir wissen jetzt (so hoffe ich), was der Fall sein müsste, um jemanden zu Recht auf die Antisemiten-Liste zu setzen. Aber damit wissen wir noch lange nicht, ob das, was, um auf die Liste zu kommen, der Fall sein müsste, bei einer bestimmten Person - etwa bei Xaver oder bei mir - auch tatsächlich der Fall ist. Das ist die Frage nach den Fakten.

Noch einmal: Gehört Xaver wegen seiner Bestrafung von Yvonne wirklich auf die Antisemiten-Liste? War seine Reaktion auf deren Schubs tatsächlich antisemitisch? Wovon das abhängt, wissen wir: Eben davon, ob hinter seiner Reaktion auch wirklich die fragliche antisemitische (= Juden-diskriminierende) Einstellung steckte oder nicht! Die Faktenfrage ist: Hatte er diese Einstellung tatsächlich? Und spielte sie wirklich die für das Vorliegen eines antisemitischen Verhaltens notwendige motivationale Rolle? Und schließlich: Wie kriegen wir das raus? Das ist das Verifikationsproblem.

Bei diesem Problem braucht man ohne Fallunterscheidungen erst gar nicht anzufangen. Also: Jetzt ein paar Fallunterscheidungen.

Ohne jeden Hintergrund

Zurück zu Xaver. Wir kennen sein Verhalten. Wissen aber sonst nichts weiter; haben also insbesondere weder über ihn noch über die fragliche Situation irgendwelche weiteren Hintergrundinformationen. Bleibt es dabei, so gilt: Verifikation - unmöglich. Jeder Versuch dazu wäre schlicht zirkulär. Die Deutung des Verhaltens könnte sich nur auf die Zuschreibung der Einstellung stützen, auf nichts sonst. Diese Zuschreibung aber steht und fällt (in diesem Fall!) mit der Deutung des gezeigten Verhaltens. Zirkulärer geht es nicht.

Die dunkle Kehrseite dieses Resultats: Unmöglich ist nicht nur die Verifikation; unmöglich ist auch jede Falsifikation. Was leider heißt: Wer Xaver in diesem Fall Antisemitismus anhängt, kann prinzipiell nicht widerlegt werden. Wer das schon als Beweis ansieht, hat, was sein Urteil über Xaver angeht, freie Hand. (Kein Wunder, dass sich dieses Faktum im derzeitigen Antisemitismus-Diskurs einige absolut schamlos zu Nutze machen.)

Würde sich an dieser Unbeweisbarkeit bzw. Unwiderlegbarkeit etwas ändern, wenn wir Xaver fragen könnten? Doch nur dann, wenn man ihm Glauben schenken würde. Wenn nicht, so könnte Xaver sagen, was er will; es änderte sich damit kein Deut.

Mit Hintergrund: Wissen über den Täter

Nach Belegen für oder gegen Xavers antisemitische Motivation lässt sich erst dann sinnvoll fragen, wenn wir schon etwas mehr wissen. Zum Beispiel mehr über ihn, den Täter: Wie hat er sich bisher Yvonne und anderen (echten oder vermeintlichen) jüdischen Kindern gegenüber verhalten? Und wie im Vergleich dazu gegenüber den anderen (echt oder vermeintlich) nicht-jüdischen Kindern? Sofort fallen einem hier auch Verfahren für 'Experimente' ein, die man mit Xaver und seiner Kindergartengruppen machen könnte, um auch noch mehr zu wissen. Mag sein, dass auch das so gewonnene weitere Wissen noch nicht logisch zwingend für den Schluss auf Xavers Antisemitismus (oder eben für das Fehlen desselben) wäre; aber das macht nichts. Logisch zwingend sind Indizien-basierte Resultate meist ohnehin nicht. Hinreichend starke Bestätigung reicht.

Mit Hintergrund: Wissen über die Tat

Nächster Fall: Wir wissen zwar nichts Weiteres über den Täter, aber doch etwas Wichtiges über die Tat. Xaver hat Yvonne nicht nur nicht weiter mitspielen lassen; er hat auch noch gesagt: "Du blödes Judengör". Diese Äußerung enthält schon ihrem Typ nach einen Antisemitismus-Indikator. Dabei kommt es jetzt nicht darauf an, wie stark dieser Indikator für sich genommen ist, nur darauf, dass sich allein durch sein Vorhandensein die Ausgangslage - das anfängliche "Wir können gar nichts sagen" - ändert. Der Verdacht auf Xavers Antisemitismus ist jetzt nicht mehr völlig unbegründet. Was aber nicht mit einer hinreichenden (hinreichend starken) Begründung verwechselt werden sollte.

Usw. Schritt für Schritt. Sie wissen jetzt, wie man vorgehen könnte, um sich sogar in dem Labyrinth der Antisemitismus-Verifikationsprobleme etwas besser zurechtzufinden.

Das Problem ist bloß: Wer geht im Antisemitismus-Kontext schon tatsächlich so vor? Schauen Sie sich doch einfach mal um.